Leopold Marx an Hermann Hesse

Herbst 1917

Lieber Herr Hesse!
Bitte verübeln Sie nicht diese vertrauliche Anrede eines Ihnen kaum dem Namen nach Bekannten. Es hat keinen Sinn, dem
Dichter, den ich aus seinen Büchern liebgewonnen habe, zu sagen, daß ich ihn 'ehre'.
Kürzlich dankte ich Ihnen in meinem Notizbuch für 'Peter Camenzind', als ich ihn wiederlas. Früher, vor 10 oder mehr Jahren,
hatte ich ihn nicht verstanden, denn ich wusste noch zu wenig von der Natur, nichts von Gott und kaum etwas von der
menschlichen Natur.
Heute las ich die 'Roßhalde' und danke Ihnen nicht dafür; denn das ist ein Buch, für das der Dichter keinen Dank will. Was ich
darüber zu sagen habe, können Worte schwer ausdrücken. Schon eher ein Anschauen, ein Händedruck.
Da Ihnen die Gefangenen, denen Sie durch Ihre Fürsorge für ihr geistiges Wohl unschätzbare Dienste leisten, am Herzen liegen,
so mag es sie freuen zu hören, daß hier jeder, der für schönes Deutsch und ein gutes Buch auch nur das geringste Verständnis
hat, nach Ihren Werken fragt, und daß ein kleiner Freundeskreis, den die Liebe für das Schöne und das gemeinsame Freuen
daran als stärkstes Gegengewicht gegen die Bitternis des Heimwehs und des Gefangenseins zusammengeführt hat, ganz und gar auf H. H. eingeschworen ist. Wenn Ihnen einer aus diesem Kreis ein paar Verse zusendet, so geschieht es nicht, um Ihr Urteil als
Sprungbrett zu benutzen. Er glaubt vielmehr, daß Sie nicht ungern erfahren, was für Kraut in den P. G.-Lagern wächst. Ist's
Unkraut oder Gemüse, was ich Ihnen schicke, so legen Sie es bitte beiseite! Ich bilde mir nicht ein, ein Dichter zu sein, noch
habe ich den Ehrgeiz es werden zu wollen. Dazu bin ich zu alt. Ich habe meinen bürgerlichen Beruf ich bin Kaufmann. Was ich
ihm an Zeit und Gedanken abgewinnen kann, gehört dem Lebensberuf - ein Mensch zu werden.
Finden Sie aber die Verse brauchbar und deren Veröffentlichung angebracht, so darf ich Sie herzlichst bitten, diese zu
vermitteln. Wo und wie, sei dann ganz Ihnen überlassen. Mein Name soll nicht genannt werden, dagegen vielleicht meine
Gefangenennummer: K.G. 3515. Die Freude, die meine Frau und die anderen Lieben in der Heimat empfänden, wenn sie durch
einen Gruß ihres Gefangenen in einer Zeitschrift überrascht würden, wäre eine kleine Abzahlung an der großen Dankesschuld,
die ihre liebende Fürsorge in uns aufhäuft. Ich würde Sie zu diesem Behuf bitten, einige Exemplare an meinen Onkel, R.A.
Martin Rothschild in Cannstatt, senden lassen zu wollen. Ich grüße Sie, den Dichter, den Landsmann und den Freund der
Gefangenen."

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8.Juli 1937,

Obwohl ich wenig in der Welt lebe, wußte ich von Ihrem 60. Geburtstag noch rechtzeitig genug, um Ihnen einen Gruß zu senden. Aber die Stunde war nicht da, es zu tun, und einfach so schreiben wollte ich nicht. Am letzten Sonntag sind mir ein paar Verse zu Ende geraten, die schon lange für Sie gedacht waren. Ich schicke sie Ihnen in kurzem mit einigen Abschriften älterer Sachen als Dank für die schönen Gedichte, die Sie mir seither zweimal haben zukommen lassen. Mit dem letzteren, dem "Orgelspiel", haben Sie mich fast beschämt, weil ich Ihnen für die ersten noch nicht gedankt und zum 2. Juli noch nicht geschrieben hatte. Aber in Gedanken tat ich es mehr als einmal, und das wissen Sie vielleicht. Ein Leben, wie das meine, ist nicht immer mitteilbar. Und was daran mitteilbar ist, das wird mit den wachsenden Jahren mehr und mehr das Schicksalhafte daran, das an die Geschlechterkette Gebundene, das Jüdische. Ich schrieb Ihnen so etwas wohl schon früher.
Aber je eingesponnener man ist, desto nötiger ist es zu wissen, daß das wortlose Verstehen, die Gemeinschaft des Angesprochenseins an keinen Mauern halt macht, auch an den Mauern eines neuen Ghettos nicht. Und umso tiefer rührt ein Gruß und Zeichen von draußen an. Sehr von fern klingt das meisterliche "Orgelspiel" aus dem hohen Dom zu uns herein. Fern, nicht weil wir kein Ohr mehr dafür hätten, sondern weil es von soviel dumpferen Schicksalslauten übertönt wird, aber darum nicht weniger schön und unentbehrlich. Sie werden, wenn Sie demnächst meinen Gruß erhalten, - als ich ihn niederschrieb, wußte ich noch nichts von Ihrem "Orgelspiel" - einen seltsamen, oder vielleicht gar nicht so seltsamen Gleichklang erkennen! einen Klang, von dem auch der uralte Künder Jischajahu [= Jesaja, die Hrsg.r] gewußt hat, ein vergessener, aus der Mode gekommener Organist auch er, zu seiner Zeit.
Ich wünsche Ihnen noch viele Ernten guter und segensreicher Jahre, oder besser, ich wünsche sie Ihren Freunden, und so, wenn ich mich zu denen zählen darf, auch
mir.

Hermann Hesse an Leopold Marx
25.Juli 1937

Es reicht nicht zu Briefen, aber der Ihre samt Gedichten hat mich erreicht, auch im Herzen erreicht, und ich möchte Ihnen danken und Ihnen sagen, wie Ihr Mitschwingen mit dem "Orgelspiel" mich freut, Es gibt Zeiten, wo ich die im Ghetto Lebenden beneide, sie haben Gemeinschaft, mir fehlt sie. Aber in den Tagen um meinen 60. Geburtstag war immerhin viel Echo da, und viel Versöhnendes. Vom Herzen dankt Ihnen (vor allem für das mir gewidmete "Drunten" und für "Moscheh")
Ihr H. Hesse
 
 

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