Friedrich Theodor Vischer | Zum Jubiläum von Gottlieb Biedermaier *)
[1877]

Zwar sein Name träget Scharten,
Aber seine Seele nicht:
Schartenmayer wollte warten,
Dieses schien ihm gleichsam Pflicht.

Er kann keinen Trubel leiden
Säß' im stillen Eckelein
Gern, den Lebtag zu vermeiden,
Mit dem Jubilar allein.

Hinterm Tischlein, das bequemlich
Steht an warmer Ofenwand.
Zwischen uns besteht ja nämlich
Ein ganz spezielles Band.

Allda setzen wir uns nieder,
fern vom Lärmen, fern vom Wind,
singen dann zu zwei die Lieder,
welche von uns selber sind.

Ich, der mehr als 69,
leere mit Bedacht mein Glas,
denn an diesem Alter rächt sich
schnelle jedes Übermaß.

Edler, du kannst kecker trinken!
50 - ei, das ist noch jung!
Laß den Wein im Glase blinken!
Vivat hoch, die Vorsehung!

Dürftest du nicht lang noch leben,
Wahrlich, ungewöhnlich wär's -
Möge sie die Zeit die Geben
Noch zu manchem schönen Vers!

Äußerst gerne möcht' ich sehen,
daß du so gesund verbleibst,
daß du, wenn's um mich geschehen,
mir dann meine Grabschrift schreibst.

Niemals kommt von dir Zuwidres,
was wie hohle Gasluft kracht,
du schreibst vielmehr stets nur Biedres,
daß die Menschen besser macht.

Was kann ich den Bessres wünschen,
als ein solches Monument,
wo von solchem biedern Menschen
Verse drauf gemeißelt sind.

Undzwar in Fraktur-Buchstaben,
die so selten leider jetzt,
Sei die Grabschrift eingegraben
Und mit einem Zug zuletzt.



*) Nicht zu verwechseln mit Herrn Biedermeier, dem Mitglied der "besitzenden und gebildeten Klasse". Vgl. statt seiner die "Auserlesene[n] Gedichte von Weiland Gottlieb Biedermaier, Schulmeister in Schwaben, und Erzählungen des alten Schartenmeier. Mit einem Anhange von Buchbinder Treuherz", zuerst in den "Fliegenden Blättern" 1855-57. Die Herausgeber.


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