Reinhard Döhl | Noten, O-Ton, Dokumente *)

Im Folgenden soll versucht werden, die aktuelle Hörspielvielfalt an einigen ausgewählten Beispielen zu erörtern. Wobei ich das Genre des Kinderhörspiels, das ich mit Walter Benjamins "Radau um Kasperl" wenigstens mit einem historischen Beispiel besetzt habe, aussparen darf. Außerdem werde ich nur am Rande eingehen auf Hörspielgenres wie das Kriminal- oder das Science-fiction-Hörspiel, soweit sie ausschließlich für die Unterhaltung der Hörer bestimmt sind.

Unter Hörspielvielfalt verstehe ich dabei einmal die vielfältigen Möglichkeiten, die sich das Hörspiel im Laufe seiner inzwischen 70jährigen Geschichte erarbeitet hat, zweitens verstehe ich darunter aber auch die Spielbreite innerhalb bestimmter Hörspieltypen. Drittens habe ich zu berücksichtigen, daß manche theoretische Vorgabe, mancher praktische Ansatz bei der Genese der Gattung zeitweilig vernachlässigt wurde, gar in Vergessenheit geriet.

Es ist auffällig, daß man bei der dritten hörspielgeschichtlichen Zäsur Ende der 60er Jahre nicht nur auf Versuche stößt, oft sogar in Unkenntnis, technisch und formal an eine Hörspielvielfalt und -breite wieder anzuschließen, die Fritz Walther Bischoff, Hans Flesch, Walter Ruttmann und andere um 1930 dem Hörspiel gewonnen hatten, sondern daß jetzt erst Gedanken eines Autors fruchtbar werden, der ebenfalls zum Hörspiel der Weimarer Republik beigetragen hatte mit medienkritischen Kinderhörspielen, Hörmodellen und theoretischen Beiträgen. Ich meine Walter Benjamin, dessen 1936 erstmals im Exil veröffentlichter Essay über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" erst jetzt eigentlich diskutiert wird. Wobei man immer noch übersah, daß Benjamins Aufsatz einen Vorläufer hatte, nämlich Rudolf Leonhards 1924 bereits publizierte Überlegungen "Technik und Kunstform". Ein kurzes Zitat muß ausreichen, den rundfunk- und hörspielgeschichtlichen Stellenwert dieser Überlegungen anzudeuten:

Es versteht sich von selbst, daß in einem Zeitalter, das man ganz eigentlich als das Zeitalter der Technik bezeichnet hat, die Wirkung der Technik auf die Übermittlung des Kunstgehaltes, auf die Kunstform besonders groß sein wird - mag man sie nun als Wirkung oder als Rückwirkung ansprechen, mag man sie bedauern oder begrüßen. Es versteht sich, daß das "Zeitalter der Technik" seine eigene Kunst haben wird -, mag es die Art der Wiedergabe und der Aufnahme sein, die von der Technik entscheidend bestimmt wird, mag sie sogar die Möglichkeiten der künstlerischen Produktion vergrößern oder vermehren.

In diesem Sinne technische Fragen bestimmten unter anderem auch Vorträge und Diskussionen auf der "Internationalen Hörspieltagung" der Deutschen Akademie der darstellenden Künste in Verbindung mit dem Hessischen Rundfunk 1968 in Frankfurt. Eine Tagung, die für die Hörspielgeschichte von ähnlich zentraler Bedeutung ist wie die Kasseler Arbeitstagung der Preußischen Akademie der Künste und der Reichsrundfunkgesellschaft von 1929, "Dichtung und Rundfunk". Auf ihr hatte Döblin seine geschichtlich allerdings zunächst folgenlosen Thesen zur Dichtung im Rundfunk, speziell zum Hörspiel vorgetragen:

Der Rundfunk kann zwar nicht die Epik und Dramatik der Literatur übernehmen; aber er muß sich nur wie Antäus auf seinen eigenen Boden zurückbewegen, dann kann er sich Epik und Dramatik auf eigene Weise assimilieren und kann eine spezifische, volkstümliche Rundfunkkunst, eine besonders große, interessante Kunstgattung entwickeln. Es ist mir sicher, daß nur auf eine ganz freie Weise, unter Benutzung lyrischer und epischer Elemente, ja auch essayistischer in Zukunft wirkliche Hörspiele möglich werden, die sich zugleich die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für ihre Zwecke nutzbar machen.

Richard Kolbs "Horoskop des Hörspiels", das stattdessen hörspielgeschichtlich Schule machte, ging davon aus, daß Rundfunkhören ein für den Hörer je individuelles Erlebnis sei. Daraus leite sich als eine der Hauptaufgaben des Hörspiels ab, uns mehr die Bewegung im Menschen, als die Menschen in Bewegung zu zeigen. Durch die Intensität inneren Erlebens werde die Erlebnisfähigkeit des Hörers so in Gang gesetzt, daß die Stimmen des Hörspiels zu Stimmen seines Herzens oder Gewissens würden.

Die entkörperte Stimme des Hörspielers wird zur Stimme des eigenen Ich. Daß bedeute für den Sprecher, den Hörspieler äußerste Zurückhaltung seiner Stilmittel. Für den Hörspielautor, daß vor allem das Immaterielle, das Überpersönliche, das Seelische im Menschen zur Darstellung im Hörspiel besonders geeignet, grob Realistisches dagegen völlig ungeeignet und dem Wesen des Funks widersprechend sei.

Damit erfuhr die von Döblin implizit, von Hermann Pongs sogar ausdrücklich geforderte "Aktualität" des Hörspiels eine für lange Zeit folgenreiche deutliche Abfuhr zugunsten seiner Verinnerlichung, zugunsten eines illusionären Spiels der Innerlichkeit, wie es dann in den 50er Jahre von vorrangiger Bedeutung wurde und noch die 60er Jahre wesentlich mitbestimmt. Erst auf der Frankfurter "Internationalen Hörspieltagung" befreite Heißenbüttel das Hörspiel von diesen Fesseln, indem er in seinem "Horoskop" Hörspiel als eine offene Form definierte.

Zentrales Stichwort wird für Heißenbüttel in diesem Zusammenhang die Hörsensation, die vom Handwerklich-Technischen der Produktion her zwar schon immer beachtet worden sei, nun aber aus ihrer Rolle als Akzidenz det poetischen Illusion befreit werden müsse. Dabei könne aus der Produktion musikalisch konzipierter oder artikulatorischer Spiele neue Hörerfahrung gewonnen werden, doch müsse der Begriff nicht auf das Artikulatorische beschränkt bleiben. Wenn in einer weltpolitischen Krise eine bestimmte Entscheidung erwartet wird, wenn Ergebnisse von Fußballspielen ausstehen, Nachrichten über ein Unglück erwartet werden usw., liegt die Sensation in der entscheidenden Information. Gefälle und Befriedigung sind dabei offenbar größer, wenn man sie akustisch aufnimmt. Man könnte sagen Hörsensation hat zwei Grenzpole: die pure Nachricht auf der einen und die musikalische Sublimation des Sprachlichen auf der anderen Seite. Zwischen diesen Polen entfaltet sich im kontinuierlichen Umgang das Feld der variablen und freikombinatorischen Möglichkeiten. Literarisch gesprochen: Auseinandersetzung, Kritik, Tabuverletzung, Schock usw. als purer Inhalt auf der einen, Laut- und Geräuschpoesie auf der anderen Seite wären die Grenzen, innerhalb derer sich ein umfassenderes und völlig frei disponierbares Hörspiel denken läßt.

Ich hatte bereits versucht, historisch herzuleiten, daß das Hörspiel als funkeigene Form durch die drei Bestandteile des Programms - Nachricht, Unterhaltung, Kultur - in seiner Entwicklung mitbedingt ist, angesiedelt ist in einem durch diese drei Programmbestandteile formal und inhaltlich determinierten Spannungsfeld. Von einer solchen Einschätzung waren 1968 viele Teilnehmer der "Internationalen Hörspieltagung" noch weit entfernt. Auf sie mußte also Heißenbüttels Einordnung des Hörspiels als Hörsensation zwischen Musik und Nachricht, und damit zwischen den beiden Programmbestandteilen des Rundfunks wie eine Provokation wirken. Und sie tat es denn auch, vor allem durch einen letzten Schritt, den Heißenbüttel in seinem "Horoskop" ging, indem er auch das Hörspiel dem Anspruch des Rundfunks, aktuell zu sein, unterordnete und daraus formale Konsequenzen zog.

Literatur ist nur da aktuell, wo sie sich in Kontakt weiß mit dem zeitgenössischen historischen Anspruch, Dieser ist seinem Wesen nach unformuliert, und die Literatur hat ihre Aufgabe darin, ihn zu formulieren. Das aber geschieht in der Auseinandersetzung mit dem bisher noch Unbenennbaren und Unsagbaren. Erst was von der Literatur sagbar gemacht wird, bestimmt das Sagbare; ja, bestimmt das, was es überhaupt gibt, denn es gibt nur das, was ausgesprochen werden kann. Alles ist möglich. Alles ist erlaubt.

Heißenbüttels "Horoskop" gewinnt noch an Brisanz, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es seine Thesen nicht von außen an das Programm herantrug, sondern gleichsam aus dem Programm entwickelte, aus Erfahrungen herschrieb, die der Redakteur des Radio-Essays praktisch täglich machen konnte. So als wolle er diesen Praxisbezug besonders betonen, überschrieb Heißenbüttel 1969 einen zweiten Essay mit "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese", und ergänzte die Überlegungen des "Horoskops" in drei wesentlichen Punkten. Erstens wies er dem Feature, daß seit Anfang der 50er Jahre aus den Hörspieldramaturgien der Innerlichkeit verdrängt und verbannt war, wieder seinen ihm gemäßen Platz zu.

Wenn der Hörspielentwicklung etwas abzulesen ist, das mediumeigene Gesetzlichkeiten reflektiert, so ist es zunächst nur die Verbindung, die sich von der grundsätzlichen Aufgabe der Information zum illusionären Spiel ziehen läßt. Im Gebrauchscharakter einer populären Hörspielform, die unmittelbar ins Feature übergeht und literarisch ästhetische Kriterien nur als grob handwerkliche Regeln anerkennen kann, zeigt sich die erste legitime Form, die sich aus dem Medium entwickelt.

Vor allem aber verweist Heißenbüttel in diesem Essay auf Auftragssituation und Programmplazierung als zentrale Bedingungen der Hörpielpraxis, von denen vor allem die letztere interessiert, weil aus ihr folgt, daß auch das Hörspiel, als Teil eines Programms, den Schematisierungsregeln dieses Programms mit unterworfen ist.

Kein Hörspielleiter oder Dramaturg kann sich darüber hinwegsetzen, daß er das Hörspiel placieren muß. Alle ästhetischen und werkimmanenten Kriterien müssen auf diesen Placierungszwang bezogen werden. Denn ungesendet ist das Hörspiel nichts als ein Manuskript unter anderen. Hier sind zunächst die Differenzen zu sehen, die das Hörspiel als Literatur von der übrigen literarischen Szene scheidet.

Heißenbüttel hat seine Vorstellungen zum Hörspiel als einem rundfunkeigenen Spiel zu den Bedingungen des Mediums aber nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch formuliert in den zwei Hörspielen "Was sollen wir überhaupt senden?" und "Nachrichtensperre". Auf sie sei der Interessierte, da ich sie hier nicht weiter behandeln werde, nachdrücklich hingewiesen. Mich interessiert stattdessen die Spannung, die sich ergibt aus Heißenbüttels Feststellung, Literatur sei nur da aktuell, wo sie sich in Kontakt wisse mit dem zeitgenössischen historischen Anspruch, und der Einsicht, daß Hörspiel als Literatur placiert werden muß. Und ich folge bei dieser Frage der von mir vorgeschlagenen Typologie, gebe zunächst zwei Beispiele für Literatur als Hörspiel, danach zwei Beispiele für Hörspiel als Literatur.

Die Breite, in der im Hörspielprogramm seit 1968 Literatur als Hörspiel begegnet, ist verblüffend. Auf der einen Seite findet sich ein fast traditioneller Adaptionstyp, den ich exemplarisch mit den zahlreichen Adaptionen Heinz von Cramers besetzen möchte. Dabei meine ich traditionell keinesfalls wertend, vielmehr in dem Sinne, daß die Hörspiele Heinz von Cramers das Hörspielprogramm und den Hörer mit Weltliteratur versorgen in einer Aufbereitung, die der Vorlage noch gerecht wird und sie zugleich in eine Fassung transformiert, die den Bedingungen einer rundfunkeigenen Gattung genügt. So zum Beispiel im Falle von Kafkas "Josefine die Sängerin", die als Hörspiel die Rolle der Musik besonders betonen kann und so zu einer ohrenfälligen akustischen Parabel von Kunst und Künstler in einer Massengesellschaft wird.

0-Ton: Kafka/Cramer: Josefine die Sängerin (6'30)

Gesangsszene. Josefine: Ich liebe die Musik [...]
[...] Interview. Josefine: Auch das noch, Migräne! Hinaus!
Das Spektrum der Cramerschen Adaptionen reicht von Troubadour-Lyrik bis zu Lautreamonts "Les Chants du Maldoror", vom Schöpfungsmythos der Mayas bis zu aktuellen südamerikanischen Romanen, von Schriften des Zivilisationskritikers Henry David Thoreau bis zu Adaptionen in der Art der "Josefine", wobei die Grenzen zur Text- und Musik-Collage fließend sein können. Natürlich ließe sich diskutieren, ob es legitim ist, Weltliteratur in einem solchen Ausmaße Laut werden zu lassen. Doch ist zugleich zu bedenken, und Döblin hat auf der Kasseler Arbeitstagung bereits darauf hingewiesen, daß Literatur nlcht immer Buchliteratur war, daß Werke, die wir heute lesen. darunter die großen Epen, ursprünglich einer oral culture zugehörten, auf die einige der Cramerschen Bearbeitungen ja auch verweisen. Ferner wäre zu bedenken, daß so, wie der Buchdruck der Literatur die Schriftlichkeit, jetzt der Rundfunk der Literatur wieder eine neue Art der Mündlichkeit ermöglicht hat. Und dies bei einer abnehmenden Lesebereitsschaft, bei Konsumenten, die zunehmend die mediale Umschrift von Literatur zu Film oder Hörspiel der eigentlich geforderten Buchlektüre vorziehen.

Zum besseren Verständnis meines zweiten Beispiels für Literatur als Hörspiel möchte ich an meine Ausführungen zur akustischen Kunst im Kapitel "Musik - Radiokunst - Höspiel" erinnern, innerhalb derer ich auch Kurt Weills Prospekt einer absoluten Radiokunst zitierte:

Nun können wir uns sehr gut vorstellen, daß zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten [...]: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Wasser, Bäumen und dann ein Heer neuer unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen übereinander geschichtet oder ineinander verwoben. verweht und neugeboren werden würden.

Drei Jahre später, 1928, macht sich Hans Flesch auf einer Programmratstagung der deutschen Rundfunkgesellschaften Gedanken über ein künftiges musikalisches Eigenkunstwerk des Rundfunks, eine noch ungeborene Schöpfung, von der man sich noch keinen Begriff machen könne:

Vielleicht ist der Ausdruck "Musik" dafür gar nicht richtig. Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem UmwandlungsprozeB in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat.

Ich hatte diese Gedanken Fleschs ebenso auf Weills Vorstellung von Geräuschen, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, zurückbezogen wie auf eine spätere musique concrète und elektronische Musik vorausgedeutet. Und ich hatte anhand eines historischen Exkurses festgeschrieben, daß die elektronischen Musik-Experimente des Westdeutschen Rundfunks in Zusammenarbeit mit dem Bonner Universitätsinstitut für Phonetik und Kommunikationsforschung, daß die musique concrète Pierre Schaeffers praktisch einholten, was in den Jahren bis dahin theoretisch vorgedacht oder auch experimentell schon vorgeprobt wurde.

In Paris und kurze Zeit später in Köln nahmen sich die Rundfunkanstalten endlich auch der Sendung solcher Experimente an, wurde zum Beispiel aus dem 1942 von Pierre Schaeffer gegründeten Studio d'Essai der Club d'Essai der Radiodiffusion Francaise.

1965 gab der langjährige Chef des Club d'Essai, Jean Tardieu, in einem Interview folgende Skizze:

Der Club d'Essai wurde nach dem Kriege gegründet und setzte die Arbeiten Schaeffers fort. Ich glaube, man muß Schaeffer dafür danken, daß er als erster in Frankreich neue radiophonische Formen zu erarbeiten suchte. [...] Der erste Club d'Essai (= Studio d'Essai, R.D.) war nur experimentell, während der zweite ein richtiges Radioprogramm wurde. Ich glaube, das Wichtigste war, in allen möglichen Richtungen zu suchen und sich vor allem an junge Leute zu wenden und ihnen dabei alle möglichen Freiheiten zu lassen.

Mit der ersten Aufführung eines "Concert de bruits" am 5. Oktober 1948 innerhalb des Programms des Club d'Essai erreichte die konkrete Musik eine größere Öffentlichkeit, hatte in Frankreich auch hörspielgeschichtliche Folgen. Nicht so in Deutschland, wo der Hörer erst mit beachtlicher Verspätung ein Hörspiel aus dem Umkreis des Club d'Essai zur Kenntnis nehmen durfte: Andre Almuros "Nadja Etoilée" nach André Breton aus dem Jahre 1949.

Für seine Adaption hatte Almuro zusammen mit dem Regisseur Jean-Jacques Vierne ein auf Schock und klangliche Bezauberung angelegtes akustisches Ballett (Friedhelm Kemp), ein Klanggebilde erarbeitet, das die 'konvulsivische Schönheit', auf die Breton zielte, in der schizoiden Welt Nadjas nicht einfach illustrierte. sondern. in die Geräusch-Montage übersetzt, klanglich überhaupt erst schuf. 1959 wurde unter Verwendung der originalen Musik- und Geräuschbänder, auch eine deutsche Version erstellt, deren Anfang ich jetzt zitieren möchte.

O-Ton: André Almuro; Nadja Etoilée.

Dieser Exkurs, der uns aus einer noch hörspiellosen Zeit in den Club d'Essai geführt hat, ist notwendig, um ein zweites Beispiel für Literatur als Hörspiel richtig einzuordnen: Paul Pörtners "Alea", das ja schon Gegenstand der Vorlesung war. Was nachzutragen ist, ist die Rolle des Club d'Essai bei der Genese dieses langjährigen Experiments.

Wie manch anderer hatte Pörtner in den 60er Jahren, provoziert von der Bedeutung, die dieser Text für die aktuelle literarische Diskussion plötzlich gewonnen hatte, versucht, Stephané Mallarmés "Un coup de des" zu übersetzen. Und wie viele andere war er an diesem Schlüsseltext moderner Literatur sympathisch gescheitert. Da lernte Pörtner in Paris die Poesie der Lettristen und die Experimente des Club d'Essai kennen, erlebte im Studio, wie die Hervorbringung der menschlichen Stimmen [...] als akustische Phänomene verfügbar gemacht werden können für eine weitere Bearbeitung, die unter dem Aspekt der musique concrète zu einem konkreten Hörspiel oder einer akustischen Poesie führt.

Die Konsequenz, die Pörtner aus dieser Begegnung zog, waren Hörspielexperimente, die er "Schallspielstudien" oder "Schallspiele" nannte. Über die zweite dieser "Schallspielstudien", in der er zum erstenmal versuchte, sich dem Mallarméschen "Würfelwurf" zu nähern, berichtete Pörtner dann 1968 auf der "Internationalen Hörspieltagung" in Frankfurt in einem heftige Diskussion auslösenden Referat "Schallspiele und elektronische Verfahren im Hörspiel". Er berief sich dabei für sein Experiment erstens darauf, daß Mallarme in einem Vorwort seinen "Coup de des" ausdrücklich als Partitur ausgewiesen habe und sich zweitens den Leser als Operateur denke, der die vorliegende Partitur aktiv mitspiele und mitdichte.

Dieses Mitdichten und Mitspielen des Lesers versuchte ich in einer Improvisation zu vollziehen: ich ging den Echo- und Spiegelwirkungen der Worte nach, ließ dieses "Spielwerk des Geistes" - wie Mallarmé es selbst einmal nannte - sich bewegen. Es oszilliert in einem flirrenden Wechsel von Reflexen: Erscheinen und Verschwinden, Setzen und Entsetzen, Klärung und Verwischen geschehen gleichzeitig; der Vorgang der Inspiration, der Assoziation selbst wird thematisiert.

Pörtner war allerdings mit seinem ersten Ergebnis noch nicht zufrieden. Er nahm seine erste Produktion als Material für eine elektronische Bearbeitung, die einmal die Sprechpartien depersonalisierte, die zum anderen das Hörspiel musikalisch auflud. Was dieses Schallspiel durch die Elektronik gewann, summierte Paul Pörtner in einem bereits genannten Gespräch, das wir kurz vor seinem Tode im Westdeutschen Rundfunk führten:

Was dieses Schallspiel durch die Elektronik gewann, war eine Umsetzung von Sprache und Geräusch zu einer akustischen Einheit, die Rhythmisierung und klangliche Entfaltung von Lautwerten, die aus dem Sprechen gewonnen wurden, die Erweiterung des Ausdrucksbereichs vom vorsprachlich Unartikulierten bis zu abstrakt-lettristischen Zeichen. Vom Rationalen zum Emotionalen, von der Wortspielerei bis zur Wortleidenschaft und zum Wahnsinn reicht die Spannweite des Entwurfes, der dieses Schallspiel "Alea" bestimmte.

[[O-Ton: Pörtner: Alea]]

Deuten die Spiele Heinz von Cramers, André Almuros und Paul Pörtners die Breite an. in der Literatur als Hörspiel erscheinen kann, möchte ich mit den folgenden Beispielen zeigen, in welchem Spannungsfeld Hörspiel als Literatur möglich ist. Es liegt auf der Hand, daß eine an Kolbs "Horoskop des Hörspiels" orientierte Dramaturgie nicht jeden literarischen Hörspielansatz zuließ. Nicht zufällig finden sich immer wieder Äußerungen vor allem experimenteller Autoren, die von gescheiterten Versuchen berichten, mit Hörspieldramaturgien ins Gespräch zu kommen. So wurde Heißenbüttels erster Hörspielversuch z.B. in Hamburg abschlägig beschieden. Ähnlich ging es Franz Mon, ähnlich Jürgen Becker, der nach vergeblichen Anläufen erst Ende der 60er Jahre auf ein Interesse stieß, das sich nicht mehr einseitig an

einer traditionellen Hörspielpraxis orientierte.

Der Saarländische, der Westdeutsche und der Süddeutsche Rundfunk, letzterer allerdings nicht im Hörspielprogramm sondern im "Studio für Neue Literatur", und das leitete Heißenbüttel! -

Der Saarländische, der Westdeutsche und der Süddeutsche Rundfunk nahmen sich ab 1969 der Texte Jürgen Beckers an, die er in Buchform auch unter den Titeln "Bilder", "Häuser" und "Hausfreunde" veröffentlichte. Was Beckers Texte für den Hörfunk, das Hörspiel geeignet machte, war ihre offene Schreibweise (Hinck), die Lokalisierung eines sprechenden, reflektierenden Ichs in Umgebungen, die Becker in einem wörtlichen Sinne als Sprichwörterzeit versteht.

So haben wir nun in der Sprichwörterzeit gelebt und es wird noch einige Fortsetzungen geben; wieder ist die Umgebung fremder geworden, es kommt bald nicht mehr auf die Umgebung an, das ist schon wieder so eine Weisheit; wenn nicht die Abnutzungen spürbar wären, dann hätten wir glattweg sogar gelogen, das wäre das einfachste auch gewesen, man müßte gar nicht mal erfinden, das Spruchzeug liegt ja nur so herum, und wenn mans mit der eigenen Stimme mal versucht, dann müssen wir gleich unterbrechen: das haben wir doch alles schon einmal irgendwo gehört; nun rede dann mal weiter, das passiert ja ständig auch, aber hinhören dann, da reden nämlich immer ein paar Stimmen mehr mit, und komische Geräusche sind dazwischen, Flötentöne, Gebrüll, Geheul, es wird gelacht, es heißt, man sagt das muß man wissen und was meinen wir dazu und wer sind wir eigentlich denn.

Man könnte diese Sequenz von 1969 tendenziell ohne weiteres auch noch für Beckers Hörspiele aus den 80er Jahren, auf das schon zitierte "Eigentlich bin ich stumm" geltend machen, wenn sich auch Beckers Verfahren inzwischen, wie bereits dargestellt, geändert hat.

O-Ton: Becker: Eigentlich bin ich stumm (9'20)

Eichelhäher. Agnes: Der Morgen hat angefangen [...]
[...] Agnes: Bloß hat er Lesen nie gelernt. Mofageräusche.
Auch das zweite Beispiel für Hörspiel als Literatur wurde - wie Beckers "Bilder" im Süddeutschen Rundfunk - zunächst nicht im Hörspiel- sondern im Literaturprogramm, diesmal des Westdeutschen Rundfunks gesendet. Es heißt "man" und hat den Referenten zum Verfasser.

Auslöser für "man" waren Zeitungsberichte über den Auschwitz-Prozeß in Frankfurt 1963 bis 1965, undzwar ganz zuerst die Entschuldigungsformeln, die mir wie eine Litanei der Verdrängung erschienen. Das führte zunächst zu einem dreiteiligen Gedicht "bewältigte Vergangenheit", das auch separat erschien, mich aber noch nicht zufrieden stellte. Im Laufe der Zeit entstanden dann weitere man-Texte, die ich um diesen Kern gruppierte und schließlich in eine "Partitur für fünf Stimmen" ausschrieb.

O-Ton: Döhl: man

Wenn ein Hörspiel als Partitur ausgewiesen wird, wenn Pörtner in der elektronischen Bearbeitung seiner zweiten "Schallspielstudie" sein Hörspiel musikalisch 'aufläd', rückt dies das Hörspiel in die Nähe der Musik. Einer solchen Annäherung an die Musik entspricht ein Verfahren in umgekehrter Richtung dort, wo sich etwa gleichzeitig Komponisten dem Hörspiel nähern.

So stellen die 7. Kölner Kurse für Musik, die 1970 zusammen mit der Hörspielredaktion des Westdeutschen Rundfunks veranstaltet werden, einem Hörspiel als Musik jetzt eine Musik als Hörspiel an die Seite, finden sich immer mehr Komponisten auch als Hörspielmacher in den Programmen.

Zwei dieser Komponisten sind John Cage und Mauricio Kagel. Und wie schon in den Fällen Literatur als Hörspiel bzw. Hörspiel als Literatur ist es auch im Falle von Hörspiel als Musik / Musik als Hörspiel sinnvoll, zwei extremere Beispiele einander gegenüberzustellen. Mein erstes Beispiel ist noch einmal "Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnigans Wake" von John Cage.

O-Ton: Cage: Roaratorio

John Cage liest Mesosticha aus "Roaratorio"
Roaratorio (Anfang).
Das zweite Beispiel, das ich in diesem Kontext zitieren möchte, stammt von Mauricio Kagel. Der hatte 1969 unter dem Vorwand, eine Hörspielmusik produzieren zu wollen, Musiker und Sprecher ins Studio eingeladen und dabei, von den Beteiligten unbemerkt, eine Aufnahme von der Aufnahme gemacht, den Aufnahmezustand kompositorisch genutzt. In dieser Aufnahmesituation sah Kagel eine konsequente Erweiterung der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten um alles im akustischen Bereich Vorfindbare und Erzeugbare. Eine Erweiterung, die Sprachliches ebenso einbezieht wie alles das, was in einer akustischen Aufnahmesituation anfällt. Wobei die letzte Konsequenz darin besteht, nicht das fertige Produkt, für das geprobt wird, sondern den Probenabfall zum Wesentlichen, zum eigentlich Bedeutsamen zu erklären.

O-Ton: Kagel: (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand.

Ich muß hier noch einmal zum Hörspiel "man" zurückkehren. Es wird gelegentlich der konkreten Poesie zugerechnet und befände sich damit in Nachbarschaft zu Hörspielen von Max Bense, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel, Oskar Pastior und der beiden Österreicher Ernst Jandl und Gerhard Rühm. Ich darf mich hier auf Rühm konzentrieren, undzwar auf ein Hörspiel, das einerseits noch den Bereich des musikalischen Hörspiels tangiert, andererseits auf dem Pressebericht eines Kriminalfalls basiert, diesen auch wörtlich zitiert, wodurch das Hörspiel in die Nähe des Dokumentarspiels rückt. Die Nachbarschaft von konkreter und dokumentarischer Literatur ist so überraschend nicht, wenn man die Literatur der 20er und 60er Jahre ansieht: der 20er Jahre, in denen die Anfänge einer konkreten Literatur (bei Kandinsky, Arp, Schwitters u.a.) auf der einen und auf der anderen Seite Piscators Experimente mit dokumentarischem Theater nebeneinander stehen; der 60er Jahre mit ihrer Nachbarschaft von Dokumentartheater und konkreter Literatur.

Mein Hörspiel "man" und "Die Ermittlung" von Peter Weiß zum Beispiel ließen sich als die zwei Seiten einundderselben Münze ansprechen, weil beide auf das Authentische des Materials vertrauen, der eine auf die Authentizität des Dokuments, der andere auf die Authentizität der Sprache.

Bei Rühm scheint es nun so zu sein, daß er sich in seinen Hörspielen von einem ursprünglich konkreten Ansatz immer weiter in Richtung des Dokumentarischen bewegt, wofür ich als Beispiel sein "Wintermärchen" aus dem Jahre 1978 nennen möchte. In ihm geht es, wie gesagt, um einen Kriminalfall, dessen Fabel ich in den Worten Rühms wiedergebe:

Nach Neujahr wurde ein junger Mann vor seinem Auto von mehreren Männern, die den Wagen für eine Spritztour benutzen wollten, überfallen, in einen Wald gebracht, dort bis auf die Unterhose seiner Kleidung beraubt und an einen Baum gebunden. Was mich an dem Fall beschäftigte, fährt Rühm in seiner Inhaltsangabe fort, war aber eigentlich das, was dann passierte. Das Opfer konnte sich bis auf die Fußfessel frei machen und an den Rand der nahegelegenen Autobahn hüpfen - wo er schließlich im Schnee erfrieren mußte, weil auf sein verzweifeltes Winken kein Autofahrer angehalten hatte.

Aus einem solchen Stoff ließe sich natürlich leicht ein Kriminalhörspiel machen, das überdies noch den Vorzug des Authentischen hätte. Aber das war Rühms Absicht nicht; er wollte diesem persönlichen Schicksal einen Modellcharakter geben. Und dazu setzte er zunächst zwei Grundgeräusche ein: das Geräusch eines Scheibenwischers und das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos allerdings nicht realistisch, sondern musikalisch:

Bildet der Scheibenwischer ein durchgängig pulsierendes Metrum, so beschleunigt sich das Geräusch der vorbeisausenden Autos [...] in stufenweisem accellerando: die Zeitabstände werden kontinuierlich um die Hälfte verkürzt bis zu einem furioso pausenlosen An- und Abschwellens, das abrupt - wie der Scheibenwischertakt - mit dem letzten Wort des Berichtes abbricht.

Rühm hat sein Hörspiel als "Radiomelodram" bezeichnet und damit einer musikalischen Gattung zugeordnet, die sich durch die Verbindung von Rezitation und Musik definiert, wobei der gesprochene Text vom Orchester untermalt wird. Bereits das weist den eingesetzten Geräuschen eine dramaturgisch-musikalische Funktion zu. [Vergleichbar dem Hackenschlag in "Der Narr mit der Hacke"].

Zusätzlich stellt Rühm aber seinem Hörspiel auch noch eine Montage aus einschlägigen Melodramen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart voran und entnimmt ihnen - wie er es nennt - Reizwörter, undzwar: vergebens / kalt / Nacht / Wind / müde / Schnee / allein / verlassen / verloren. Diese Reizwörter läßt er von einem Chor sprechen und - in Parallelführung zum Pressebericht - stufenweise elektronisch denaturieren. Damit ist das Hörspiel auf drei akustischen Ebenen finalgerichtet: auf der Ebene des dokumentarischen Berichts, auf der Ebene der musikalisch eingesetzten Geräusche und auf der Ebene der chorischen Rezitation. Ich zitiere den Schluß des Hörspiels.

O-Ton: Rühm: Wintermärchen (Schluß des Hörspiels).

Die letzten beiden Hörspiele, die ich vorstellen möchte, gehören zum Typus der Originalton-Hörspiele bzw. O-Ton-Hörspiele, wie sie meist - etwas fahrlässig verkürzt - genannt werden. Sie tauchten in größerer Anzahl etwa zu der Zeit in den Rundfunkprogrammen auf, als die soziolinguistischen Thesen Bernsteins, seine Unterscheidung zwischen elaboriertem und restringiertem Code nicht nur auf den Universitäten heftig diskutiert wurden. [Nebenbei gesagt: auch dies ein Beleg für 'Aktualität' des Hörspiels].

Das erste der beiden folgenden Beispiele wäre, so gehört, dem restringierten Code, oder, wie ich lieber sagen würde, der nichtöffentliche Rede zuzurechnen. Aber das Beispiel interessiert mich hörspielgeschichtlich noch aus einem zweiten Grunde. Nämlich als Beleg dafür, wie sich Forderungen Walter Benjamins oder Bertolt Brechts erfüllen lassen. Ich meine Benjamins Forderung, der Rundfunk müsse dem Hörer die Gewißheit geben, daß sein eigenes Interesse einen sachlichen Wert für den Stoff selbst besitze. Und ich meine zugleich Brechts Auffassung, der Rundfunk habe die Interessen der Hörer interessant zu machen, er habe den Hörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.

Mein Hörbeispiel aus dem Jahre 1978 stammt von Wolfgang Schiffer und Charles Dürr. Es hat den Titel: "Der andere geigt, der nächste frißt Gras - Gertrud". Und es demonstriert durchaus im Sinne Brechts und Benjamins, daß das Hörspiel den Hörer auch sprechen machen kann, daß sein Fragen, auch wenn es vor dem Mikrophon nicht laut werde, neue [...] Befunde erfrage. Denn das Hörspiel ist die Reaktion zweier Autoren auf eine größere Menge von Briefen, die eine junge Frau über einen längeren Zeitraum an den Westdeutschen Rundfunk richtete. Diese Briefe machten neugierig und stellten schließlich den Kontakt her zu der an Schizophrenie erkrankten Gertrud S. Als sich der Kontakt herstellte, hatte sie sich eine Wohnung genommen, eine Arbeitsstelle in einem Altersheim gefunden und begonnen, ihr Leben wieder selbst zu organisieren. Hier setzt das Hörspiel ein. Ich zitiere zunächst die Autoren.

Seit dem 1.9.1977, einem entscheidenden Datum in Gertruds Geschichte, da hier wieder der Übergang in eine eigenständige Lebensorganisation gewagt wird, haben wir über einen längeren Zeitraum hinweg Gespräche mit Gertrud aufgezeichnet und sie mit einem Aufnahmegerät in ihrem Alltag, in ihren Begegnungen mit Bezugspersonen begleitet. Absicht der Arbeit war, Stationen von Gertruds Eingliederungsversuch festzuhalten, um über ihren speziellen und zugleich exemplarischen Fall hinaus Ableitungen für die Situation psychisch Behinderter ziehen zu können. Ergebnis ist das Porträt einer überaus sensiblen Frau, die mit einer Umwelt konfrontiert wird, in der das Wort "Rücksicht" nur selten vorkommt.

Und an anderer Stelle: Nach etwa 9 Monaten, einem Zeitpunkt, an dem eine deutliche Tendenz in Gertruds Entwicklung sich abzeichnete, lagen etwa 20 Stunden Bandmaterial vor. Bei völligem Verzicht auf Autorentexte und künstliche Musikelemente (das in der Dokumentation verwendete Flötenspiel ist Originalmusik von Gertrud) haben wir versucht, aus dem Material mit verschiedenen Techniken Gertruds erneuten Eingliederungsversuch in die Gesellschaft darzustellen [...]. Die primär angewandten Techniken sind: Mischung verschiedener Originaltöne, Rekonstruktion durch Montage, Statement der Betroffenen, Durchbrechung von Originalton-Dialogen durch zitierende Nachstellung des Gesprächspartners. Vor allem haben wir versucht, durch die Technik des "szenischen Originaltons" Aktionen und Reaktionen der Beteiligten direkt zur Darstellung kommen zu lassen und Gertrud zum mitwirkenden Partner zu machen.

Ich zitiere jetzt etwa aus der Hörspielmitte einen mit ihrer Flötenmusik versetzten Quasi-Monolog Gertruds und ein Gespräch mit ihrer Mutter:

O-Ton: Schiffer/Dürr: Der andere geigt, der nächste frißt Gras - Gertrud.

Gertrud: Leiden! Das kann man verschieden [...]
[...] Mutter: Is' ja auch zum Lachen, so 'ne Mutter.
[Vgl. Gertrud v Nadja]. Mein letztes Beispiel zeigt nun eine ganz andere Verwendung des "Verfahrens O-Ton". Wurde im Falle Gertruds nichtöffentliche Rede öffentlich, handelt es sich bei Ludwig Harigs "Staatsbegräbnis", aus dem ich bereits zitierte, um öffentlich-öffentliche Rede (im Sinne von Bernsteins elaboriertem Code).

Ausgangsmaterial Harigs waren die Reportagen anläßlich des Staatsbegräbnisses von Konrad Adenauer. Der Hörer hört - wie bei jeder Reportage - die Stimmen der Reporter und das Geschehen selbst. die Stimmen der Redner während des Trauergottesdienstes im Kölner Dom, die ihnen auf dem Wege der Reportage übermittelt werden. Harig hat das Bandmaterial nun bearbeitet oder, wie man wohl besser sagt: analysiert. Er läßt die Sprecher nie ausreden, unterbricht die Syntax der öffentlichen Rede und ordnet die Satzteile und Redestücke neu. So tritt des Material vor dem Hintergrund seines ursprünglichen Zusammenhangs, der dem Hörer durchaus bewußt ist, immer wieder neu und überraschend zusammen. Die Reden und Vorgänge sind durch die Collage um das gebracht, was sie ursprünglich besagen sollten. Und sie lassen zugleich abhören, daß sie im Grunde genommen nur rituelle Leerformeln sind, Sprachhülsen, wie sie für einen solchen Anlaß zu Verfügung stehen.

O-Ton: Harig: Staatsbegräbnis [Take 2]

Aber auch die öffentliche Rede der Reportage, die Harigs Collage wie ein roter Faden durchzieht und gliedert, erweist sich durch das Reportierte als eine Folge von Stereotypen und Leerformeln, die zwar etwas zu übermitteln versuchen, aber nicht notwendiger Weise meinen, was sie übermitteln. Das hat Harig am Schluß seines Hörspiels deutlich gemacht, wenn er die Rückfragen der Reporter an die Funkhäuser in seine Collage mit einbezieht und derart seiner Collage einen doppelten Schluß gibt, den Schluß des reportierten Staatsakts und den Schluß des Übertragungsvorgangs: das Aus-der-Rolle-Fallen der Reporter.

Mit diesem Zitat eines Wechsels von öffentlicher in nicht-öffentlicher Rede möchte auch ich dieses Kapitel schließen:

O-Ton: Harig: Staatsbegräbnis (Schluß)

*) Notý, O-tón, dokumenty / Noten - O-Ton - Tokumente. Vortrag auf dem Symposium Hra se slystelným. Aspekty nemecké rozlasové hry / Spiel mit Hörbarem. Aspekte des deutschsprachigen Hörspiels. Goethe-Institut Prag in Zusammenarbeit mit dem Tschechischen und den Westdeutschen Rundfunk, 22.2 - 24.2.1994. Ebd. ferner: Dejiny a typologie nemecké rozhlasové hry / Geschichte und Typologie des deutschsprachigen Hörspiels und Teorie a praxe rozhasový her / Hörspieltheorie und -praxis.