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Entwürfe | Der beschädigte Laokoon | Hommage à Caspar David Friedrich? | Ein Ort nirgendwo

Entwürfe

Nach einem verbreiteten Deutschen Wörterbuch (MEL) ist ein Entwurf

1. eine Zeichnung, nach der man etwas ausführt, anfertigt,
2. die schriftliche Festlegung einer Sache in ihren wesentlichen Punkten,
3. (bereits veraltet) soviel wie Plan, Vorhaben.
Die Zeichnungen Ulrich Zehs aus den Jahren 1968/1969 sind Entwürfe in allen drei Bedeutungen. Sie lassen rudimentär erkennen, was der Zeichner vorhat. Sie fixieren die Sache, die Inhalte der folgenden Zeichnungen: das Gefängnis, den isolierten Menschen, seine Verstümmelungen und Beschädigungen. Und sie halten in der Skizze fest, wie der Zeichner dies ausführen wird. Deutlich sind auf ihnen bereits die künftige Handschrift des Zeichners, seine Syntax zu erkennen.

Und auch schon, daß Ulrich Zeh bei der zeichnerischen Umsetzung seiner Gedanken(welt) den immer neuen Ansatz, die Serie bevorzugen wird.

Leichter als bei den späteren Arbeiten läßt sich aus den Entwürfen eine für Ulrich Zehs zeichnerische Entwicklung zunächst charakteristische, oft überstarke gedankliche Befrachtung herauslesen. Francis Bacon wirft seinen Schatten. Und von ferne grüßt Edvard Munch. Kompositorisch treten schon die Gitter, Schranken, Wände ins Bild, in die Ulrich Zeh seine künftigen Sportler und Mauermenschen verweisen wird, signalisiert der ausgesparte Mund ihre künftige Sprachlosigkeit. Doch bleiben diese frühen Entwürfe noch weitgehend Illustration.

Es gibt dafür eine Erklärung, die auch manches der weiteren Entwicklung Ulrich Zehs verständlicher macht. Ulrich Zeh ist Zeichner und Maler, aber er ist auch Leser. Seine Bibliothek ist erstaunlich umfangreich und umfaßt die "Unfrisierten Gedanken" Stanislaw Jerzy Lecs ebenso wie Howard Phillips Lovecrafts "The Dunwich Horror", eine Kurzgeschichte, die Zeh 1973 illustrierte, wie John Ronald Reuel Tolkiens "The Lord of the Rings", zu dem 25 Zeichnungen entstanden, die allerdings kaum mehr als Illustrationen angesprochen werden dürfen. Als "frei nach..." weist sie 1977 ein Katalog zu Recht aus. Aus den Illustrationen waren Zeichnungen, aus dem Entwurf der Wurf geworden.

Der beschädigte Laokoon. Eine Notiz

Es gibt ein Bild Giovanni Paolo Paninis (1691? - 1765) mit dem Titel "Roma Antica", das den Innenraum einer Kunstsammlung zeigt, deren Architekturbilder und Plastiken wie zufällig zusammengestellt erscheinen. In dieser Kunstsammlung befindet sich - auf dem Bild rechts unten, angeschnitten und zugleich durch eine fallende rote Stoffbahn hervorgehoben - auch eine Laokoon-Gruppe. Plazierung und Bedeutung dieses Bildelements waren den Zeitgenossen Paninis verständlich, nachdem bereits 1488 eine ausgegrabene kleine Nachbildung der Laokoon-Gruppe dem Interesse der Renaissance an der Antike ästhetischen Zündstoff geliefert hatte.

Erst wesentlich später rückt auch in Deutschland durch Johann Joachim Winckelmann und vor allem Gotthold Ephraim Lessing die 1506 in Rom wiederaufgefundene kunstgeschichtlich bedeutende Laokoon-Gruppe in den Mittelpunkt kunsttheoretischen Interesses. Sie ist bis heute durch Lessings "Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie" (1766) bedeutend geblieben, obwohl Karl Philipp Moritz an der Wende zum 19. Jahrhundert bei seiner Musterung der römischen Altertümer die Laokoon-Gruppe als Ausdruck der "ganzen leidenden Menschheit", des "höchsten körperlichen Leidens, vereinbart mit dem höchsten Leiden der Seele" verstand. Das "Edle, Gebildete", schrieb Moritz damals, unterliege "der Macht des Ungeheuern, der Mensch dem Wurme", überzeugt, daß es "aus diesem Labyrinthe [...] nun weiter keinen Ausweg" gebe. "Die widerstrebende Natur erliegt."

1973 gewinnt Ulrich Zeh in der Reihe seiner "Denkmäler" mit "Laokoon 1 oder das Ende der Demokratie in Griechenland" und "Laokoon 2" der Laokoon-Gruppe nach ihrer Ästhetisierung und kunsttheoretischen Entschärfung noch einmal etwas von der konkreten Brisanz der ursprünglichen Bedeutung zurück, wenn er den beschädigten Laokoon, ein weiteres Mal beschädigt und in Ketten, als Denkmal (denk mal!) auf eine zubetonierte Agora des damals faschistoiden Griechenlands zurückkehren läßt.

Hommage à Caspar David Friedrich?

Mitte/Ende der 70er Jahre entstehen eine Reihe von Zeichnungen und Bildern, die sich werkgeschichtlich als "Hommage à Caspar David Friedrich" zusammenfassen lassen, wobei die Überschrift zugleich mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Dieser Zyklus setzt ein im 200. Geburtsjahr des romantischen Malers mit der Farbstiftzeichnung "Der ehemals einsame Baum". Und er schließt 1981 mit dem Ölbild "Der Wanderer Über dem Nebelmeer".

Beide Arbeiten lassen bereits auf den ersten Blick etwas von dem erkennen, um was es im ganzen Zyklus geht, wenn Ulrich Zeh an die Stelle des "einsamen Baumes" von Caspar David Friedrich jetzt den "ehemals einsamen Baum" setzt, wenn der über dem Schwaden- und Dunstmeer der Großstadt dem Betrachter zugewandte Maler in den Händen die Kopie der Vorlage hält, auf der der "einsame Wanderer", dem Betrachter den Rücken zuwendend, über das Nebelmeer in eine romantische Ferne schaut.

Zehs Anliegen wird noch deutlicher, wenn man den ganzen Zyklus vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Kunstszene betrachtet, die sich nach der eher oberflächlichen Pop-Art entweder dem Fotorealismus zuwandte oder nach anderen neuen Möglichkeiten realistischen Malens suchte. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die Arbeiten Zehs, vereinfacht gesagt, aus durch ihre Dialektik von ästhetischem Zitat (Caspar David Friedrich) und zitierter Realität (Hochhausarchitektur, Industrie- und Trabantenstädte, Schnellstraßen etc.), zwischen zitierter Naturmalerei und dem Zitat (architektonisch) zerstörter Natur.

Als Ulrich Zeh 1975 auf einer Rückfahrt von Recklinghausen, wo er Caspar David Friedrichs "Frau vor der untergehenden Sonne" gesehen hatte, die industrielle Stadtlandschaft des Ruhrgebiets verlor sich bereits am Horizont, einen Sonnenuntergang in Friedrichscher Manier erlebte, hielt er dies als Skizze fest, entstanden kurze Zeit später im Atelier die Farbstiftzeichnungen "Landschaft mit Sabine und Isabel", "Landschaft mit Halbakt" und "Morgen- oder Abendrot", ein Titel, der sich ganz erst erschließt, wenn man weiß, daß bei dem Bild Caspar David Friedrichs in der Forschung gestritten wird, ob es sich wirklich um einen Sonnenuntergang (=Vergänglichkeit) oder nicht vielmehr um einen Sonnenaufgang (=Hoffnung) handelt.

Bei der Friedrichschen Manier, Menschen vor einer Landschaft, vor einem Naturereignis schauend zu plazieren und sie derart dem Ganzen zu integrieren, könnte man neben dem Recklinghausener Bild durchaus auch andere Arbeiten Caspar David Friedrichs heranziehen, zum Beispiel den "Mönch am Meer" (1809/1810). "Herrlich" sei es, faßte 1810 Clemens Brentano für die "Berliner Abendblätter" seine "Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich" zusammen, "in unendlicher Einsamkeit am Meeresufer unter trübem Himmel auf eine unbegrenzte Wasserwüste hinzuschauen, und dazu gehört, daß man dahin gegangen, daß man zurück muß, daß man hinüber möchte, daß man es nicht kann, daß man alles zum Leben vermißt, und seine Stimme doch im Rauschen der Flut, im Wehen der Luft, im Ziehen der Wolken, in dem einsamen Geschrei der Vögel vernimmt: dazu gehören ein Anspruch, den das Herz macht, und ein Abbruch, dem einen die Natur tut. Dieses aber ist vor dem Bild unmöglich, und das, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nämlich einen Anspruch, den mir das Bild tat, indem es denselben nicht erfüllte; und so wurde ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blickte, die See, fehlte ganz."

Von solchen "Empfindungen", einem derartigen Wechsel von "Anspruch" und "Abbruch" zwischen Natur und Bild kann bei Ulrich Zehs "Hommage à Caspar David Friedrich" nicht mehr die Rede sein. Anspruch und Abbruch würden in ihr das Wechselspiel benennen, daß zwischen ästhetischem Zitat und zitierter Realität stattfindet, ein Wechselspiel, in das der Maler und Betrachter eingeschlossen sind, während an die Stelle der einsamen, schauend in die Landschaft integrierten Menschen Caspar David Friedrichs vor Zehs Stadtlandschaften isolierte Gestalten treten (isoliert noch dort, wo ihnen ein Kind beigegeben ist).

Nicht unendliche Einsamkeit oder Ferne ziehen den Bildbetrachter in ihren Sog, sondern er erschrickt angesichts der endlichen Isolation (auch des Wanderers über dem Dunst- und Schwadenmeer, des ehemals einsamen Baums). Vertieft Ulrich Zeh damit einerseits sein älteres Thema der "Isolationen", säkularisiert er auf der anderen Seite die religiös überhöhte romantische Landschaft Caspar David Friedrichs in die profane Stadt- und Industrielandschaft der Gegenwart. Und die ersetzt den Nebel durch Smog, weist der zitierten Natur nurmehr einen eng umgrenzten Raum an einer Schnellstraße zu. Anstelle der entgrenzten Natur, der unbegrenzten Wasserwüste, verstellt die Architektur der Industrie- und modernen Stadtlandschaften den Horizont.

Zugleich aber braucht Ulrich Zeh die romantische Landschaft Caspar David Friedrichs, um das Defizit der realen Industrie- und Stadtlandschaft sehbar zu machen, bildet er Realität ab, um sie ästhetisch in Frage zu stellen, fragt er letztlich auch nach dem Verhältnis von Realität und Kunst - im Gespräch mit Caspar David Friedrich (wie man diese Zeichnungen und Bilder vielleicht sinnvoller überschreiben könnte).

Das aber ist etwas, das weder der Fotorealismus (mit seiner Ästhetisierung der Banalität) noch ein neuer Realismus (in seiner kruden Abbildungsmasche) zu leisten vermochten.

Ein Ort nirgendwo

"Irgendwo liegt Kythera" hat Ulrich Zeh 1981 einen Zyklus von Zeichnungen und Radierungen überschrieben, der in mehrfacher Hinsicht geeignet ist, in das Umfeld der "Gestörten Idyllen" einzuführen.

In den Arbeiten dieses Zyklus erzählt der Zeichner/Radierer fast eine Geschichte: von einer Insel, die real in einem der vielen finnischen Seen liegen könnte, unberührt, und die zugleich die Insel des Mythos sein könnte, auf der Aphrodite verehrt wurde. Aber der Mythos ist uneinholbar und "Aphrodite versteinert" (gleich zwei der Blätter sind so getitelt).

Diese Insel, die in einem der finnischen Seen liegt, die die Insel des Mythos sein könnte, ist zum Touristenziel verkommen, architektonisch vermarktet, um schließlich als Insel im Swimmingpool, als Penthouse über der Unwirtlichkeit der Städte aufzutauchen. Erst wenn, wie in der letzten Zeichnung des Zyklus, die Fensterscheiben des Ateliers, durch die man auf die Hochhausarchitektur der Großstadt sah, zerschlagen werden, erscheint die Insel wieder am Horizont: als das hinter der unwirtlichen Realität Verborgene, als "Sehnsucht nach der Sehnsucht", wie Ulrich Zeh es formuliert hat.

Wie schon in der "Hommage à Caspar David Friedrich" nimmt sich der Künstler auch in diesen Zyklus hinein: zunächst dem Betrachter zugewandt, neben den Atelier- oder Zimmerfenstern (mit ihrer Aussicht auf die Hochhausarchitektur) und vor einer Zeichnung Kytheras an der hinteren Wand ("Ich denke oft an meine Insel"), schließlich vom Betrachter abgewendet, mit Blick auf die jetzt leere hintere Zimmerwand, neben den zerschlagenen Fenstern, deren Scheibenreste noch die Hochhausarchitektur festhalten, zwischen denen aber die Insel sichtbar wird ("Atelier - oder: Sehnsucht nach der Sehnsucht").

Vergleichbar den anderen "Gestörten Idyllen" geht es auch in diesem Zyklus weder um einen Fluchtpunkt falscher ldyllik noch um die Zerstörung fragwürdiger Scheinwelt. Eine Insel Kythera - real oder mythisch - ist, von der Realität unbeschädigt, nicht vorstellbar, allenfalls als ästhetischer Entwurf gegen eine alles zerstörende Wirklichkeit: kein Ort und nirgends. Das aber heißt, wörtlich übersetzt, Utopie, ist die paradoxe Hoffnung, daß Kythera (n)irgendwo liege.

[1984/85 für: Ulrich Zeh. Stadt&Landschaft weiß. Hrsg. von R.D.  Leutenbach: HSW Verlag 1985]