Reinhard Döhl | Prosa

Herrn Georg Rodolf Weckherlin, London

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Lieber Weckherlin,
zwar ists schon eine Weile her, daß wir von Ihnen lasen, aber die Feste sind auch nicht mehr, was sie Ihrer Zeit mal waren. In letzter Zeit gestalten sie sich eher unbeschreiblich, dafür häufiger. Auch brachten die Orts- und Sachverwalter, seit hier fast alles absolut professionell gemanagt wird, wobei sich Kultus und Sport aufs Trefflichste ergänzen, das Image endlich unter Dach und Fach. Ich schicke Ihnen, wegen des Portos mit getrennter Post als Drucksache, den letzten Stuttgart-Almanach aus dem Consens-Verlag. Dissenz-Verlage haben wir augenblicklich keine. Und namhaften Künstler glänzen in der Regel durch Abwesenheit. Gerne erinnern wir uns der Jahre, in denen sich in Niedlichs Bücherdienst Eggert oder der Edition und Galerie Hansjörg Mayer und anderen Orts weniger die Einheimischen als Durchreisende und Reingeschmeckte trafen. Manches ist damals ja hängen geblieben, und die Sammlung Sohm als fröhliche Wissenschaft inzwischen in der Staatsgalerie aufgebahrt.
Hat Herr Mayer unsere Grüße übrigens ausgerichtet? Er lebt jetzt auch schon seit längerer Zeit in London, wenn er nicht auf Reisen ist. Und die meisten der damaligen Freunde kennen von Stuttgart nurmehr die Autobahn, die dran vorbeiführt. Obwohl es dort häufiger Staus gibt, was man von der Kultur nicht behaupten kann. Dabei werden für sie nicht mehr nur achtundsechzig Mark vierunddreißig sondern, wie unser heimlicher Kulturkämmerer aufzählte, sogar schon zweihundertachtundzwanzig Mark sechsundvierzig pro Kopf aufgewendet. Natürlich wissen wir trotz angestellter Volkszählung nicht, über wieviele Köpfe Stuttgart momentan verfügt und woran sie zu erkennen sind. Aber wir bekommen in letzter Zeit selten Besuch. Daß der nach Borsfleth ausgewanderte Helmut Heißenbüttel wortbrüchig wurde, wie eine Tageszeitung schrieb, während die andere großräumig darüber hinwegsah, daß Heissenbüttel also wortbrüchig wurde und die letzte Ausstellung von K.R.H. Sonderborg eröffnet hat, können wir uns nur als einen Kurzschluß zwischen äußerer und innerer Emigration erklären. Unser Hegelintimus sieht es wohl auch so, nachdem er bekannte, daß mit der Kultur seit 79 nemme viel los sei. Leider ließ er offen, an welches Jahrhundert er dabei dachte. Schließlich sind Sie schon eine Weile fort, floh Friedrich Schiller 1782 und ging Wilhelm Raabe 1870, wie wir annehmen des Klimas wegen. Jedenfalls läßt sich Kultur weder durch Aufwendungen pro Kopf kaufen noch machen. Manchmal wächst sie und entfaltet sich, wozu aber das hiesige Kesselklima wenig günstig scheint. Eher zum Kesseltreiben, was jedoch nach der allgemeinen architektonischen Flurbereinigung allenfalls auf dem Wasen noch möglich ist. Die Ausverkäufe finden wie eh und je in den dazu vorgesehenen Jahreszeiten statt. Als nächstes muß das Künstlerhaus in der Gutenbergstraße daran glauben. Unsere Kulturamtsleiterin wird es schon richten. Ungern möchten wir Sie übrigens eines Tages als Erinnerungsplakette an einem unserer Häuser wiederentdecken. Mit solchen versucht man neuerdings vorzuweisen, was man nicht mehr hat. Ein landesüblicher Etikettenschwindel wie unsere Kulturgeschichte. Geschichte kann nur werden, was kulturell Gegenwart war. Hier ist sie allenfalls geschönte Vergangenheit.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß ich etwas von mir habe hören lassen. Aber vom Südfunk gabs was auf die Ohren - für Fünfmarkfünf im Monat. Und das konnte ich mir doch nicht entgehen lassen, vor allem das Dritte, das sich hier Programm nennt. Keinesfalls dürfen Sie dies mit dem Dritten aus Köln verwechseln, in dem gelegentlich San Francisco, John Cage, Barry Bermange und andere zu Gast sind. Kölns Drittes ist sozusagen Acustica International, auch Wörterfunk, während es uns hier immer mehr die Sprache verschlägt und Klassisches allenfalls aus Schwetzingen, wo der Spargel wächst, oder Ludwigsburg kommt, wo sie unlängst eine Art musikalischer Mehrzweckhalle hingestellt haben für die, die immer noch nicht auf das Dritte hören wollen. Natürlich ist das eine Geschmacksfrage, über die man nicht streiten sollte, zumal es im Dritten, Zweiten, Ersten erstens nicht nur was auf die Ohren, sondern zweitens auch für jeden Geschmack gibt, wofür sich drittens night and day neben Freund und Feind noch Hobbyköche und Jockeis in den Studios zur Verfügung halten. Was so auf den Plattentellern angerichtet wird, hält echt keinen Vergleich mehr aus und ist so scharf, daß die täglichen Band- und Scheibenab- und -vorfälle bereits ein Millionenloch in den Etat gerissen haben. Weshalb es jetzt gilt, die Minderheiten ins Visier zu nehmen, obwohl denen längst Hören und Sehen vergangen ist, seit der Frauenarzt von Bischofsbrück zusätzlich eine Abteilung der Schwarzwaldklinik übernommen hat. Aber was klage ich. Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, hört man. Und hatten wir nicht einige Sternstunden, als diese noch nicht mit Starstunden verwechselt wurden? Gab es nicht um 1950 die sogenannte Genietruppe um Martin Walser, wenn diese ihre hörspielgeschichtlich gewichtigen Auftritte auch nicht an dem dafür vorgesehenen Platz hatte? Gab es nicht neben dem Radio-Essay (unter Leitung von Alfred Andersch und Helmut Heißenbüttel) ein Studio für Neue Literatur, aus dem wiederholt Hörspiele gesendet wurden, die den eigentlich dafür Verantwortlichen nicht ins Kramlädchen paßten? Und konnte man nicht unlängst John Cages Irischen Circus über Finnegans Wake, leicht verschnitten, im Musikprogramm empfangen? Allgemeiner gefragt: Muß ein Südfunkhörer nicht suchen, was er im ausgedruckten Programm nicht findet, um vielleicht zu finden, was er nicht gesucht hat? Den Frauenarzt von Bischofsbrück zum Beispiel als Taschenbuchfolge oder das wirklich Neueste aus Literatur und Kunst in den überregionalen (mehr als in den hiesigen, die sich dafür halten) Tageszeitungen und Zeitschriften. Man sollte sich wirklich nicht beklagen, wenn man am falschen Knopf gedreht hat. Und von einer Acustica International sind wir hier weit entfernt. Der Tag geht, Johnny Walkman kommt. Es ist Zeit, sich den Schlafrock anzuziehen und die Kopfhörer über die Ohren zu stülpen. Snip snap. Vom Südfunk gibt's - na, was wohl?
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß Sie Ihre Metrik korrigierten. Aber die kam inzwischen ebenso aus der Mode wie der Reim flöten ging. Statt an vers libre (Frankreich) und parole in liberta (Italien) hielten wir uns an Parolen. Schon für Wilhelm Raabe war ein Stuttgarter Dichter nurmehr eine Fiktion und an Christoph Pechlin erinnert sich hier niemand mehr. Fragen Sie spaßeshalber einmal den Computer der Landesbibliothek. Da werden sie Ihr blaues Wunder erleben, auch wenn es, nach Ernst Bloch, nur rote Geheimnisse in der Welt gibt. Friedrich Hegel jedenfalls schrieb seine Aesthetik in Preußen oder so und hat, wenn auch rechtsöffentlich zitiert, lediglich unter Linksreingeschmeckten noch ernsthafte Anhänger. Max Benses Augenblick war zum Beispiel kein Papiertiger, sein aesthetisches Kolloquium nicht von Pappe und die Stuttgarter Schule keinesfalls zu verachten, wie ich einem Lexikon entnehme, obwohl ungesichert bleibt, ob letztere überhaupt existiert hat und in welcher Form. Sicher ist lediglich, daß ihre Schüler, von denen einige nicht einmal in Stuttgart ansässig waren, weder Romane schrieben noch Versfüße zählten, statt von Gedichten lieber von Texten sprachen, statt einer deutschen Poeterei lieber einer Texttheorie oblagen und das Schöne programmierten. Das machte einiges Geräusch auf (mehr als in) der Straße, war aber auch weltläufig. So finden sich beispielsweise in der Bibliothek der Musashino Bijutsu in Tokyo, neben Arbeiten aus dem Umfeld der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm um Ulm und um Ulm herum, als Kulturelles aus Stadt und Region ausschließlich Werke der Stuttgarter Schule. Was leicht nachzuprüfen ist, aber auch Zufall sein kann, wie er nun einmal, der Gräfin Orsina zum Possen, bei stochastischen Texten eine Rolle spielt. Waren doch mit Rechenmaschinen hergestellte Texte, Partituren und Grafiken ein nicht zu übersehendes Unterrichtsfach dieser Schule ebenso wie eine zwischen Typografie und Bild angesiedelte Poesie. Between Poetry and Painting, falls Sie sich freundlicherweise der hier einschlägigen Ausstellung im Londoner Institute of Contemporary Arts erinnern wollen, auf der wir uns seinerzeit um eine Verslänge verfehlten. In der Tat, dort und im Bereich einer exakten Aesthetik war Stuttgart wirklich einmal ganz nahe dran, ein ernstgenommener Partner der Welt zu werden. Vom Ballett spreche ich nicht. Das brächte mich nur wieder auf die Versfüße, von denen selbst in der Verbundstufe Kultus und Sport auf den Stuttgarter und Landesschulen kaum mehr die Rede ist. Das ist Landespolitik, vor der Sie zurecht nach London flüchteten. Nein: nicht Abseitsfalle und Schulgebet, stattdessen Typografik und grafische Partitur, Bild und Text verbanden sich experimentell und tendenziell im Lehrangebot der Stuttgarter Schule, deren Existenz allerdings, Ableger hin, Lexikon her, nach wie vor ungesichert ist. Halten wir uns also lieber an das Hausgemachte, dem Dannecker seinen Schiller, obwohl Dannecker so schlecht auch nicht war, wie erst kürzlich seine umfassende Ausstellung in der Staatsgalerie zeigte. Doch hat sich dies in Deutschlands größtem Weindorf bisher genauso wenig herumgesprochen wie die kulturgeschichtliche Tatsache einer Stuttgarter Schule und ihrer internationalen Erfolge.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß Sie danach fragten - nein, die Ulmer Hochschule für Gestaltung ist nicht mit der Donauschule zu verwechseln, obwohl auch Ulm an der Donau liegt. Am besten merkt man sich den Unterschied mit Hilfe des Alphabets, in dem Bill auf Altdorfer folgt. Auch die Staatsgalerie und die Galerie der Stadt Stuttgart unterscheiden sich lediglich durch einen Buchstaben wie Staat und Stadt. Doch sollte man a/d keinesfalls mit Albrecht Dürer übersetzen, von dem es ausschließlich in der Grafischen Sammlung einige vorzügliche Arbeiten gibt. Auch ist, obwohl er gleichfalls in Sohms fröhlicher Wissenschaft vorkommt, keinesfalls Albrecht/d gemeint. Den hätten Sie übrigens 1967 getrost zum Destruction in Art-Symposion nach London einladen dürfen, wohin er besser als nach Stuttgart gepaßt hätte.
Von Aufbau und Zerstörung haben wir nämlich mehr als genug, nachdem unsere Architekten die Stadt nach dem Kriege irreparabler schädigten als die schlimmsten Bombenangriffe. Aber hatte das nicht unlängst auch Prinz Charles über London sagen müssen? Leider hat man diese Nachkriegstrümmer nicht zu einem zweiten Mahnmal ohne nachhaltigen Wert aufgehäuft und den ganzen Asemwald zum Beispiel damit zugeschüttet, womit ich über Asemwald und Birkenkopf wieder zu Altdorfer und Bill bzw. zu dem kleinen Unterschied von a und b zurückkehre, der sich auch nicht mit Albrecht Döhl erklärt, obwohl Pfahlers Karl mich seinerzeit so zu nennen pflegte und ich unter diesem Vornamen im Heidelberger Forum Academicum sogar eine Privatgalerie betrieben habe mit Arbeiten von Klaus Burkhardt, Günther C. Kirchberger, Thomas Lenk und Friedrich Sieber. Die waren natürlich nicht so berühmt wie Stuttgarts Jubelgreise Otto Dix und Oskar Schlemmer, was denen zu Lebzeiten jedoch auch nichts einbrachte.
Immerhin: heute haben wir neben dem Weindorf, dem Volksfest, einem "Teil der Kulturoffensive" übrigens, wie unlängst unser Amtsblatt schrieb, heute haben wir neben dem Opernball, dem Galeriefest, den Heimspielen des VfB und der Kickers, der Schleyerhalle, dem Weißenhofturnier und "hallo stuttgart" unseren Dix in der Galerie der Stadt und unsern Schlemmer in der Staatsgalerie zur öffentlichen Begaffung aufgehängt. Damit hätten wir nicht nur das Rößle unters Dächle gebracht, wir stellen sogar Ansprüche, die zur Zeit etwa bei Apollo und Dionysos liegen. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um griechische Gastarbeiter, die sich neben den Italienern seit einiger Zeit in Stuttgart recht breit machen und ihre Lokale zum Beispiel Poseidon oder Delphi nennen statt Ochsen, Rößle, Schwanen usw. Überhaupt wird hier alles langsam aber sicher unterwandert und überfremdet. Auf dem Weindorf solls sogar Austern gegeben haben und, statt Schupfnudeln, Spätzle und Kraut Tagliatella alle bolognese und Spagetti alle napoletana. Und wenn Sie erst das Deutsch dieser Pizzabäcker hören würden! Da war das Latein unseres alten Eberle doch eine andere Sache, wenn auch seine Hauspostille dem Brecht seiner das Wasser nicht reichen konnte. Aber Rottenburg liegt halt am Neckar und Augsburg am Lech.
Um aber endlich auf den Apollo und Dionysos zurückzukommen:
Stellen Sie sich Schlemmer einmal mit einer Kithara und Dix mit einer Syrinx oder Aulos vor. Bald blas ich am Neckar, bald zupf ich am Nesenbach. Zwar kann man diese Gewässer keineswegs mehr trüben, aber sie fangen beide mit N an, was wir im Sinne Sebastian Blaus mit nemo nostrum oder nomen nescio übersetzen. Dagegen kennt den Dix und den Schlemmer hier jedes Kind. Weshalb wir uns, um im Bilde zu bleiben, den Schlemmer statt am Nesenbach mit seiner Kithara jetzt als Säulenheiligen vorstellen müssen auf einem jener Postamente, die Beuys dem Triadischen Ballett verschrieben hat. Und zu seinen Füßen bläst der Dix auf einer mißtönenden Aulos, bis die Schwarte kracht. Wir wissen beide, wies ausging. Es ist wirklich zum AusderHautfahren und AufderSauausreiten, obwohl ich wegen der Betablocker, den Hormoncoctails und Östrogenkoteletts vom Schlachten nur mehr wenig und von Frischeinudeln nicht mehr viel halte.
Aber vielleicht verhält sich dies alles ja auch ganz anders und Apollo und Marsyas, pardon: Apollo und Dionysos - notabene: war Dix eigentlich Wein- oder Biertrinker? - also Apollo und Dionysos unterscheiden sich lediglich in ihrem Anfangsbuchstaben wie Staatsgalerie und Galerie der Stadt in ihrem vierten Buchstaben, weshalb dann Apollo in der Galerie des Staates und Dionysos in der Stadtgalerie zum Begaffen freigegeben sind. Dann wäre alles viel weniger anspruchsvoll als angenommen und vielleicht lediglich eine Sache des Alphabets. Immerhin war Stuttgart seinerzeit eine Hochburg der Sprachköche und -alchemisten. Aber das ist auch schon eine Weile her. In diesem Sinne
adele
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß wir uns zufällig in jenem alten Londoner Bureau trafen, in dem schon Lemuel Gulliver und Robinson Crusoe ihre Reisen buchten. Aber das Reisen ist länst nicht mehr, was es früher mal war, als Heinrich Heine auf dem Wege nach Paris sein Wintermärchen schrieb, Ludwig Börne auf dem Wege von Frankfurt nach Stuttgart die Postschnecke ritt, Erasmus von Rotterdam auf dem Rücken eines Esels die Torheit pries und Justinus Kerner sich mit seinen Reiseschatten auf den Weg nach Hamburg machte. Letztere haben wir heute allenfalls noch unter den Augen oder werfen sie während einer Kur. Statt die Postschnecke zu reiten, verspäten wir uns lieber mit dem ICE oder drehen über dem Filderkraut Warteschleifen. Dem Erasmus seinen Esel haben wir längst zu Salami, seine Torheit zu Taktik verarbeitet. Und die Wintermärchen lassen auf sich warten, seit die Ferienindustrie im Happy Stubai den Sommerschilauf erfunden hat. Zwischen den langen Samstägen im Dezember und dem Winterschlußverkauf reichts gerade noch für zwei Wochen Lanzarote, wo die Häberles sogar ein Ferienhäusle haben sollen, oder ein paar Takte Südsee, wo schon der Gauguin - was bereits etwas für Feinschmecker ist, wie die Kässpatzen von den Dächern pfeifen. Ob Siebeck anschlägt und Reisen bildet, bliebe bei der jährlichen Sintflut an Ferienfotos wirklich zu fragen. Immerhin können wir uns anhand dieser wenigstens ein Bild davon machen, was wir gesehen haben und brauchen vor Ort nicht mehr so genau hinzuschauen. Was zugleich hilft, unser Gedächtnis zu entlasten, nachdem es uns in diversen Untersuchungsausschüssen der letzten Zeit und in unserer nur mühsam gestauten Mobilität ziemlich abhanden gekommen zu sein scheint. Verdanken wir doch unseren Kreuzzügen gerade noch die nach ihnen so genannte Dichtung und Uhlands Schwäbische Kunde, Columbus die Entdeckung Amerikas und der Völkerwanderung, Sie wissen schon, von welcher die Rede ist, daß wir eines Tages hier fußkrank und halbverhungert zurückgelassen und vergessen wurden. Heute hält uns natürlich nichts mehr dank unseres ferienfreundlichen Kalenders mit seinen kirchlicher- und staatlicherseits verordneten Brückentagen. Da ist allenfalls nur noch ein Kurzurlaub drin, wenn die großen Ferien mit ihrer Kreuzfahrt längst abgehakt sind und der Zweiturlaub mit seinen Staus bereits hinter uns liegt, während sich der Asylantenstrom ungehemmt - aber davon wissen Sie in England ja auch ein Lied zu singen. Das ist fast eine neue Völkerwanderung. Lassen diese Wirtschaftsflüchtlinge doch, während wir aus ihren Ländern einführen, was der Markt hergibt, und in unseren Ferien auch noch unser sauer verdientes Geld dort lassen, lassen diese Asylanten doch einfach ihre Wirtschaft mitten in der Saison im Stich und besetzen unsere Kirchen, wenn wir sie höflich auffordern, sich dorthin zurückzuverflüchtigen, wo der Pfeffer oder sonstwas wächst. Ölberg ja, aber Kreuzberg, nein, das darf man wirklich nicht verwechseln. Da kann doch nicht einfach jeder Hergelaufene kommen. Natürlich freuen wir uns über zahlende Gäste und bieten für jeden Geldbeutel die passende Gastronomie und Hotelerie. Und sollte es mit den Sternen hapern, unser guter Stern dreht sich nächtens nicht nur überm Hauptbahnhof und nicht nur zur Weihnachtszeit. Heute können wir, nachdem der Beelzebub, der jetzt in Jena Brillengläser putzt, mit dem Teufel ausgetrieben wurde, heute können wir wieder auf unsere Hauptstadt stolz sein, ohne befürchten zu müssen, daß irgendeine Firma den Trip bezahlt hat von dem Geld, das wir im Weihnachtsgeschäft als Weihnachtsgeld in die klingenden Firmenkassen getragen haben. Heute wissen wir wieder, daß es unsere ehrlichen Steuergroschen sind, mit denen unsere Stadtväter in der Weltgeschichte herumreisen, in Japan zum Beispiel, obwohl wir dort nicht einmal eine Partnerstadt haben, oder jetzt in jenem Nordamerika, welches Columbus seinerzeit um Seemeilen verfehlte, weshalb wir uns dort noch etwas zu holen hoffen. Stuttgart wirbt in Nordamerika, machten die Nachrichten es publik. Nun fragte ich mich natürlich sofort, was wir einem Nordamerikaner, der ja bekanntlich ungern auf sein Weltbild und seinen Geschmack verzichtet, an Entsprechendem bieten können. Aber da las ich in derselben Tageszeitung beruhigenden Nachrichten: Erneut Randale in der City / Handgranaten vom Flohmarkt / In der S-Bahn gewütet. Täterduo festgenommen / Gangstertrio bedroht Kellner mit Pistole / Drei Taschen voller Diebesgut / Einbruchserie am Wochenende / Achtzigjähriger Handtasche entrissen / Fußgängerin wehrt Entführer ab / Fausthiebe gegen einen blinden Fußgänger / Schmuck für 200 000 Mark gestohlen -Das kann sich, durch die Zahl der Drogentoten und die neuesten Nachrichten aus der Szene ergänzt, man kann ja schießlich nicht alles auf einmal haben, das kann sich, denke ich, selbst in Nordamerika sehen lassen. Außerdem: nach Italien reisen wir schon längst nicht mehr, seit unsere Spagettischlawiner und Pizzabäcker den Paten ihre Schutzgebühren bereits hierzulande abführen. Und das ist nicht etwa alles, was wir zu bieten haben. Zwar geht es mit unserem Verein für Bewegungsspiele in letzter Zeit eher neckarabwärts, aber es gibt ja noch die Leichtathletik- und Radweltmeisterschaft, wenns auch mit der richtigen Vermarktung noch hapert, weil Späth- und Zeitgeist immer noch verwechselt werden. Hatten wir für die Tour de France seinerzeit nur Straßen, für die Radweltmeisterschaft bereits Straßen und die Schleyerhalle anzubieten, können wir den Leichtathleten sogar das Neckarstadion offerieren, in dem schon Kirchentage abgewickelt wurden. Seitdem wir nämlich endlich von unserem hohen Rößle herabgestiegen sind und unser Image unters Dächle gebracht haben, müssen wir unseren größten Kinderspielplatz lediglich noch überdachen. Und für eine sachgemäße Vermarktung stünden der naheliegende Wangener Großmarkt, ferner die zentral gelegene, unlängst restaurierte Markthalle mit Blick auf Schloß und Schillerdenkmal zu Verfügung. Auf den Schlachthof wäre allerdings weniger zu zählen. Leider steht, wie immer in Fragen der Weltläufigkeit, auch hier nur unser Stadtober dem endgültigen Fortschritt zur (un)heimlichen Sporthauptstadt noch im Wege, nachdem er erst unlängst bekannte: I han koi Geld. Was doppelt unanständig ist. Weil erstens, wenn man es hat, das Geld nämlich, es Gottes Segen ist und denen gegenüber, die keines haben, unchristlich, sich damit zu brüsten. Zweitens, weil, wenn man es aber nicht hat, es unklug ist, dies zuzugeben. Denn dann stünde, wie unsere Kultur auch unser Image im Regen, was bedeuten würde, daß das Dächle, unter das wir unser Image gerade erst mit Hilfe einer Werbefirma gebracht haben - demnächst schreibe ich Ihnen einmal, für welche Produkte diese Firma so alles wirbt - also: dann stände, wie unsere Kultur auch unser Image im Regen, was ja bedeuten würde, daß das Dächle, unter das wir unser Image gerade mit Mühe gebracht haben, daß dieses Dächle undicht ist. Und das dürften wir doch als Allerletztes zugeben, nachdem wir dieses Image mit unseren Steuergeldern teuer genug bezahlt haben. Image heißt, wie Sie besser wissen als ich, auch Schein. Haben und Schein also, Scheine haben, das zählt hier, weiß
mit freundlichen Grüßen
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
sehr gefreut haben wir uns, nach so langer Zeit wieder einmal von Ihnen zu hören. Ob Sie allerdings gut daran tun, in naher Zukunft Stuttgart zu besuchen, wissen wir nicht. Zwar haben wir inzwischen hier alles, was nicht niet- und nagelfest war - d.h. die Nieten haben wir noch, nur der Nagel ist gegangen - jedenfalls haben wir alles ins Fächle geräumt und unters Dächle gebracht, oder doch fast alles, denn dem Gottfried sein Stadion solls Dächle erst noch kriegen. Dann stehen wir auch dort nicht mehr im Regen, in dem wir lieber die Kultur stehen lassen, neuerdings in der Staatsgalerie. Nicht im Neubau, durch den wir, wie die Times schrieb, sogar mit der Tate gleichgezogen haben. Aber im Altbau, wo die Bilder schon viel zu lange das Sonnenlicht ausbaden müssen, von Kesselklima und Schwitzwasser ganz zu schweigen. Da müßte, haben wir uns gesagt, dringend was geschehen. Und so haben wirs auch angepackt, damit sich die Italiener und französischen Impressionisten bei uns so richtig wohl fühlen, weil, Fremdenhaß und sowas kennen wir als Expartner der Welt natürlich nicht. Da machen wir doch glatt jede Menge Defizit für eine LeichtathletikWeEm und sperren, in Erwartung der IGA, die Rentnerinnen, schon der Handtaschen wegen, und die Kinderwägen aus dem Killesberggelände aus. Da sind wir wirklich Weltmeister, im Sparen an der falschen Stelle. Deshalb lassen wir die Staatsgalerie und ihre längst überfällige Renovierung jetzt doch lieber rechts liegen oder links, was allenfalls eine Frage der politischen Topographie und in letzter Zeit sowieso Glücksache ist. Denn wozu brauchen wir in der Staatsgalerie angemessene Lichtverhältnisse, notwendige Sicherheitsvorkehrungen, eine funktionierende Klimaanlage und ein intaktes Dach, wenn wir unser Dächle haben und internationale Garten- und Sportstadt Nummer eins sind? Da schließen wir lieber den Impressionisten und Italienern die Räume. Wer so was sehen will, soll doch gleich nach Paris in den umgebauten Bahnhof fahren oder nach Italien oder wenigstens bis München, wohin wir ihrerzeit bereits die Boisserees geschickt haben. Dann müssen wir auch nicht mehr mit anderen großen Museen konkurrieren und vermeiden vor allem aufwendige Ausstellungen, die uns bloß unnötig in die Presse brächten. Somit hätten wir bei den täglichen Staus auf allen Straßen wenigstens einen Kulturstau vermieden und könnten weiterhin auf unserer bewährten Orthographie beharren, Sport groß und kultur klein zu schreiben. Vielleicht besuche ich Sie nächsten Sommer in London, und wir werfen gemeinsam einen Blick auf die National, die Tate, auf Albert & Victoria oder machen einen kleinen Abstecher nach Sistinghurst oder Tintinhull. Was meinen Sie?
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
Zwar ists schon eine Weile her, daß wir von Ihnen lasen. Seit auch Sie im Amsterdamer Exilverlag publizieren, kommen die Nachrichten spärlicher. Und unsere Vergeßlichkeit in Sachen Kultur ist inzwischen sprichwörtlich. Zwar schlägt eine unserer Stadtgazetten einmal wöchentlich die Brücke zur Welt, aber das darf man so wörtlich auch wieder nicht nehmen oder eher im Sinne von die Brücke rückwärts. Immerhin haben wir uns wenigstens in Amsterdam treffen können und ein paar schöne Stunden im Stedelijk Museum verbracht. Daß Bob Cobbing ihre Saufode nicht kannte, hat mich ehrlich verwundert; aber Toman, Lamy, Sering und Rumler waren ja auch da, und so hats doch noch geklappt mit dem Hem hoscha hu und dem Bumb bidi bump. Und daß wir vor Vergnügen und voll von altem Genever beinahe von der Brücke gesprungen wären, hätte uns hier nicht passieren können. Dazu ist der Nekar zu dreckig. Hölderlin, der sich neuerdings Scardanelli nennt, hält seine Turmfenster schon seit längerem geschlossen oder flüchtet sich mit Mörike und Waiblinger ins Presselsche Gartenhaus. Und Frischlin behauptet schon seit jeher steif und fest, der Setzer habe ihm einen Streich gespielt. Er habe nie gedichtet: urbs iacet ad Nigri colles; er habe eindeutig urbs iacet ad colles nigros geschrieben, wie er überhaupt ziemlich schwarz sähe. Augenblicklich sitzt er auf Hohenurach nur deshalb noch, weil man sich nicht entscheiden kann, ob er auf den Hohenasperg oder gleich nach Stammheim verlegt werden soll. Auf jeden Fall will man vermeiden, daß er mit Schubart auf Conspiratives sinnt. Er ist fest entschlossen, so bald er fliehen kann, daß Land zu verlassen. Und das ist vieleicht wirklich seine einzige Chance, weil, wer hier das Land verläßt, schnell in Vergessenheit gerät, wovon ja auch Sie ein Lied singen können. Jedenfalls hat man in der Brücke zur Welt ihren Geburtstag glatt vergessen, der heuer mit vierhundert ein schöner runder gewesen wäre. Vergeßlichkeit hat hier Methode. Da wird im nächsten Jahr zum Beispiel die Gruppe 11, Sie erinnern sich, das waren die Herren, die Sie in der Drian Galery trafen, 30 Jahre alt und ich habe mir die Absätze schief gelaufen, der Gruppe nach 30 Jahren endlich auch in Stuttgart eine gemeinsame Ausstellung zu verschaffen. Dabei kam nur mein Schuster auf seine Kosten, wegen der Absätze. Aber was entfällt einem hier nicht alles. Jetzt habe ich den konkreten Anlaß meines Briefes glatt vergessen. So gehts, wenn man ins Nachdenken kommt, immer kommt was dazwischen und man aus dem Ärger nicht mehr heraus. Wobei mir einfällt, daß ich Ihnen eigentlich nur schreiben wollte, daß wir Ihrer gestern gedacht haben, mit Bumb bidi bump und Hem hoscha hu, bis ich 50 war, nach dem wir uns ausgerechnet hatten, daß Sie nur einmal und heute acht mal älter und auch gescheuter sind als ich, was schon daraus erhellt, daß sie bereits in den 20er Jahren nach London gingen und ich in den 80ern immer noch hier hocke, obwohl Sie mir in Amsterdam geraten hatten, zu gehen. Damals wäre ich genau so alt gewesen, wie sie waren, als sie gingen. Nur, wohin hätte ich gehen sollen? Und hatten wir damals nicht vielleicht auch einigen Grund zu hoffen, nachdem Sohms happening-Ausstellung sogar in Stuttgart Station machte, die Amsterdamer Ausstellung visueller und akustischer Poesie hier durchreiste wie in den Jahren zuvor die Happening-Künstler, Diter Rot in der Alexanderstraße sogar seine Zelte aufschlug und der Kunstverein mit der Ausstellung Form durch Farbe nur unwesentlich hinter Denis Renes Hard egde hinterherhinkte. Hier gab es wirklich für ein paar Augenblicke eine Brücke zur Welt. Aber ich hätte auf Sie hören sollen: Denis Rene war zuerst, Sohms Archiv kam aus Köln und unsere Ausstellung hatten wir in Amsterdam konzipiert und aufgebaut. Auch ist es mit Brücken eine eigene Sache. Vergleichen sie mal die vom Rosensteinpark über den Neckar mit der in Säckingen über den Rhein oder der in Fulpmes über den Ruetzbach.
Herzlich
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß mir Lichtenberg Ihre Grüße ausrichtete und von London erzählte. Er sprach allerdings auch von Geschichtchen, die er deswegen für sich behalte, weil einige Worte nicht ausgeschrieben werden könnten. Auch habe er es bald im Hals, bald in den Augen, bald in den Zähnen gehabt. Seit gestern glaube ich zu wissen, was er meinte. Jedenfalls weiß ich jetzt, daß Stuttgart kurz davor ist, eine wirkliche Weltstadt sein werden, bedeutender noch als London und mindestens so aufregend wie New York. Ich mußte nämlich gestern in die Staatsgalerie, wo sie den Stella ausstellen. In der Zeitung stand sogar zu lesen, daß der erste Deutsche, der einen Stella gekauft habe, jener Stuttgarter Galerist sei, der sich auf Kunst spezialisiert habe, die nicht von Können komme, was er groß schrieb, während der Duden nur Kleinschreibung vorsieht. Jetzt hat er für alle, die ihm geglaubt haben, die Strafinsel Atlantis geplant mit einer Architektur, an der gemessen unser Stirling silbernes Zeitalter und griechische Klassik scheint, obwohl auch er nur postmodern bauen soll, wie diejenigen behaupten, die der Moderne immer schon hinterherhinkten. Also, wie ich zur Straßenbahn gehe, die neuerdings die Pferdebahn ersetzt, seit die ihre sprichwörtliche Stärke an die Karosserieschneider abtreten mußte, die ihren Verschnitt wiederum Halbstarken verleasen - also, wie ich über den Zebrastreifen zur Haltestelle gehe, hätte mich so ein potenzierter PSler fast geschafft. Kaum hatte ich mich in der Straßenbahn in Sicherheit gebracht, stiegen zwei Anhänger der vielbeschworenen Streitkultur zu, deren einer überdies Künstler gewesen sein muß, weil er plötzlich auf Spraykunst machte und seinen Gegner und uns mit Tränengas fixierte. Soweit ich überhaupt noch sehen und vermuten konnte, wollte er wohl eine art invisible mit Langzeitwirkung auf den Betrachter kreieren, was ihm auch ganz gut gelungen ist, denn vom sogenannten Kulturamt ließ sich niemand sehen und ich habe es heute noch bald im Hals, bald in den Augen, bald in den Zähnen, obwohl ich mit allen anderen in den vorderen Wagen umgestiegen war, damit der geschlossene Anhänger als Kunstwerk durch die Stadt gefahren werden konnte. Was die Stuttgarter ebenso wenig wahrgenommen haben wie seinerzeit des Kaisers neue Kleider oder bis heute ihre einheimischen Künstler. Dabei tut die Stuttgarter Straßenbahn viel für die Kunst, nach der These Beuys', daß in jedem von uns ein Künstler steke. Vor jeder Haltestelle sendet sie zum Beispiel verstümmelte Botschaften über die Lautsprecher. Über den Plätzen für die Behinderten publiziert sie goldene Worte. Und während ihr Wagenpark äußerlich nur von den besten Schildermalern gestaltet wird, bleibt innen noch genügend Platz für Selbstverwirklichung und freie Entfaltung der Fontana- und Graffitojünger und -schulen. Als mir die Augen nicht mehr so übergingen, kam ich in einem derart gesponserten Gesamtkunstwerk gerade im Hauptbahnhof, unserer zweitwichtigsten Wendeplatte an. Dort lag, mitten in der Klettpassage - also, über die Passagen Stuttgarts müßte ich Ihnen vielleicht einmal schreiben, was Benjamins Passagenwerk sicherlich das Wasser reichen könnte - kurz: da lag - mitten in der Klettpassage - ein Nichtseßhafter, die Jacke über den Kopf gezogen, bewacht von zwei Polizisten, die damit so beschäftigt waren, daß sie sich um den Tränengaskünstler wirklich nicht kümmern konnten. Die Umstehenden waren geteilter Meinung, ob dieser Nichtseßhafte, den feinere Geister Berber nennen, weil wir am liebsten alles unter den Teppich kehren, ob dieser Nichtseßhafte nun dort liege, weil er nur tot sei oder weil er einen jesesmäßigen Rausch habe. Ich konnte mich an der Diskussion leider nicht beteiligen, weil ich im Weitergehen über der Staatsoper - denn bis hierher hatte ich nur städtisches Theater erlebt - eine Karotte schweben sah. Zuerst wollte ich ja fragen: Hattu Möhrchen? Aber rechtzeitig erinnerte ich mich, daß Christo auf der Documenta schon einmal etwas eher Unaussprechliches schweben ließ, und ich überlegte, ob sich dies inzwischen bis in unsere kunstläufige Residenz herumgesprochen haben könnte, so daß wir das geflügelte Wort ändern und sagen müßten: Ab nach Stuttgart! Der künstlerische Wert dieser Karotte wurde mir jedenfalls schnell ersichtlich, als ich sie mit jenem Zeppelin verglich, der bisher ausschließlich die Stuttgarter Brau- und Luftkunst repräsentierte, von dem einen Tag abgesehen, an dem ein gewisser Herr Wörner die gute alte Tante Ju über Stuttgart kutschierte. Ich begriff also: Da wir nun einmal keinen Garrick haben, regiert jetzt wenigstens ein Karottenkönig. So können wir weiter die Hände zusammenlegen, ohne die Augen aufzutun, und hoffen, daß uns der Karottenkönig einen neuen Theatergeist schenkt, nachdem die Bretter, die auch in Stuttgart Welt bedeuten, zuletzt von allen guten Geistern verlassen waren. Morgen werde ich im Theaterfeuilleton, das sich Stuttgarter Zeitung nennt, nachlesen, daß uns der neue Geist noch nicht geschenkt ist. Immer noch steigt der Rauch schwarz aus dem Kessel und die Kulturkatalysatoren lassen auf sich warten. Nur in Richtung Weltstadt haben wir einen beachtlichen Schritt getan, wie mir die Reise von Botnang durch den sterbenden Kräherwald nach Stuttgart bewies. Und sicherlich werden wir bald auch direkten Anschluß an New York haben, obwohl man dort in der U-Bahn anstelle von Tränengas Pistolen bevorzugt. Lichtenberg hat London ührigens sehr genossen und ist nur ungern zurückgekehrt. Aber das werden Sie selbst gespürt haben.
Mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

Lieber Weckherlin,
zwar ist es schon eine Weile her, daß ich bei Lichtenberg in Göttingen war. Aber heute muß ich doch noch einmal auf ihn zu sprechen kommen, d.h. eigentlich muß ich nur vom Blitzableiter sprechen, den Lichtenberg 1780 in Göttingen, wo ich ja, wie Sie wissen, zur Schule ging, installierte. Natürlich hat Lichtenberg weder den Blitzableiter noch das Schießpulver erfunden. Dazu müßte man schon weiter ausholen, bis China zum Beispiel oder bis in die Vereinigten Staaten, wo ein gewisser Franklin wohnen soll. Aber immerhin haben wir Europäer dies nach Coca Cola und MacDonald schließlich auch begriffen und zunächst auf dem Eddystone-Leuchtturm, dann auf der Hamburger Jakobikirche solche Dinger installiert, wie ich selbst gesehen habe, als ich dort einmal Bibliothekar werden wollte. Kennen Sie übrigens die Bibliotheksträume von Washington Irving und Heinrich Heine. Sowas würde uns heute allenfalls noch in der Landesbibliothek oder in Marbach passieren, wenn sich albtraumartig der Gedanke einstellt, wie dort in den Magazinen Prioritäten gesetzt werden. Ich meine, was das Vernachlässigen von Nachlässen betrifft. Da habe ich erst kürzlich mit Hermann Finsterlin einschlägige Erfahrungen sammeln dürfen. Dabei ernten die Bibliotheken doch meist nur, was sie nicht gesät haben. Und was sie säen, bringt selten Ernte. So leben auch sie, wie unsere Wirtschaft bis ins 20. Jahrhundert, mehr vom geistigen Import, d.h. die Wirtschaft natürlich vom Technologieimport, weshalb man heute noch den Technologietransfer so gerne im Munde führt. Wahrscheinlich deshalb haben wir erst unlängst auch das Landesgewerbemuseum wieder restauriert. Den Willikens in der König-Karl-Halle sollten Sie sich wirklich einmal ansehen, weil er ansonsten wenig bemerkenswert ist. Ich weiß nicht, was das alles gekostet hat. Seinerzeit kostete der Bau sage und schreibe drei und eine halbe Million und war dennoch, wie Lichtwark mir unter der Hand zu verstehen gab, das unbrauchbarste Museum, was je gebaut wurde, um, wenn immer in der Welt eine marktgängige Ware erzeugt werde, diese aufzukaufen, um Vorbilder für die hiesige Industrie zu haben. Von den Hinterhofwerkstätten Benz und Bosch rede ich dabei nicht. Jedenfalls, die Kenntnis des Blitzableiters verdanke ich Lichtenberg, weshalb ich mich bisher auch um die Blitzableiter auf den hiesigen Leucht- und Kirchtürmen nicht weiter gekümmert habe. Aber das hat sich geändert, seit die hiesige Industrie das marktgängige Vorbild transzendiert hat, dank des Engagements unseres Kulturobsitzenden und seines Zuliefereramtes, dem wir dank eines offenen Briefes an den grünen Abgeordneten Kienzle die Bestätigung verdanken, daß unser Kulturoberst ein wahrer Kulturableiter ist, weil, wenn Stuttgarter Firmen die Kultur sponsern, dies ausschließlich dem Engagement des Oberbürgermeisters zu verdanken ist. Sponsern muß ich Ihnen sicherlich nicht übersetzen, und das mit dem Transzendieren meine ich so: wenn man einen Blitzableiter bauen will, muß man ja vorher ein Dach haben, von dem man die Blitze ableiten will. Und da haben wir doch seit kurzem unser Dächle und auch die Kultur unter Dach und Fach gebracht, wobei unser Oberbürgermeister ganz selbstlos den Bltzableiter verinnerlicht und die Funktion des Kulturableiters übernommen hat. Denn, lese ich in dem besagten offenen Brief, wie er motiviere und Aufgeschlossenheit gegenüber der ganzen Breite der Kultur ermögliche, sei vorbildlich. In welcher Hinsicht, stand leider nicht dort. Deshalb habe ich in dem Brief unserer Kulturverweserin und des für die Wirtschaften zuständigen Bürgermeisters noch ein wenig weiter gelesen und erfahren, daß, was sich in der Kulturszene in Stuttgart unter dem Kulturbürgermeister getan habe, unter deutschen Großstädten ohne Beispiel sei. Nun weiß ich natürlich wiederum nicht, an welche Großstädte die Verfasser dabei gedacht haben. Aber das rheinländische Köln, das hessische Frankfurt oder das fränkische Nürnberg können sie eigentlich nicht gemeint haben. Obwohl vielleicht doch. Denn gemessen an denen hält unsere Kulturszenenarbeit dem Vergleich wirklich nicht stand. Gemessen daran wäre sie wirklich beispiellos, befürchtet
mit freundlichem Gruß
Ihr Reinhard Döhl, Botnang

[1984-1989. Der erste der Weckherlinbrief wurde am 16.9.1984 geschrieben, einen Tag nachdem Weckherlin seinen 400. Geburtstag gefeiert hatte, der dem kulturellen Stuttgarter Kurzzeitgedächtnis jedoch völlig entgangen war.  Die Weckherlinbriefe sind Teil des Stuttgartprospekts, der 1992 abgeschlossen bzw. abgebrochen wurde, und innerhalb dieses Prospekts zugleich der 5. und letzte Band der Stuttgarter Trilogie]

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