Reinhard Döhl | Stücke und Spiele | Teils-Teils
2. Drei Stunden östlich der Oder

1886
(mein Geburtsjahr -
was schrieben damals die Zeitungen,
wie sah es aus?)

Ostern am spätesten Termin,
an der Elbe blühte schon der Flieder,
dafür Anfang Dezember ein so unerhörter Schneefall,
daß der gesamte Bahnverkehr
in Nord- und Mitteldeutschland
für Wochen zum Erliegen kam.

Paul Heyse veröffentlicht eine einaktige Tragödie:
Es ist Hochzeitsabend, die junge Frau entdeckt,
daß ihr Mann einmal ihre Mutter geliebt hat,
alle längst tot, immerhin
von ihrer Tante, die Mutterrolle vertrat,
hat sie ein Morphiumfläschchen:
"Störe das sanfte Mittel nicht",
sie sinkt zurück, hascht nach seiner Hand,
Theodor (düster, aufschreiend):
"Lydia! Mein Weib! Nimm mich mit dir!" -
Titel: "Zwischen Lipp' und Kelchesrand."

England erobert Mandalay,
eröffnet das weite Tal des Irawadi dem Welthandel.
Madagaskar kommt an Frankreich;
Rußland vertreibt den Fürsten Alexander
aus Bulgarien.

Der deutsche Radfahrbund
zählt 15000 Mitglieder.
Güssfeld besteigt zum ersten Mal
den Montblanc
über den Grand Mulet.
Die Barsois aus dem Perchinozwinger
im Gouvernement Tula,
die mit der besonders tiefbefahnten Brust,
die Wolfsjäger,
erscheinen auf der Berliner Hundeausstellung,
Asmodey erhält die Goldene Medaille.

Turgenjew in Baden-Baden
besucht täglich die Schwestern Viardot,
unvergeßliche Abende,
sein Lieblingslied, das selten gehörte:
"Wenn meine Grillen schwirrren"
(Schubert),
oft auch lesen sie Scheffels Ekkehard.

((Schubert: Wenn meine Grillen...))

Es taucht auf:
Pithekanthropos,
Javarudimente,
die Vorstufen.
Es stirbt aus:
der kleine Vogel von Hawai,
genannt der Honigsauger,
für die königlichen Federmäntel
einen gelben Flaumstreif an jedem Flügel.

Kampf gegen Fremdwörter,
Luna, Zephir, Chrysalide,
1088 Wörter aus dem Faust
sollen verdeutscht werden.

Agitation der Handlungsgehilfen
für Schließung der Geschäfte an den Sonntagnachmittagen,
sozialdemokratische Stimmen
bei der Wahl in Berlin: 68535.
Das Tiergartenviertel ist freisinnig.
Singer hält seine erste
Kandidatenrede.
13. Auflage von Brockhaus'
Konversationslexikon.

Die Zeitungen beklagen die Aufführung
von Tolstois "Macht der Finsternis",
dagegen ist Blumenthals "Ein Tropfen Gift"
eines langen Nachklangs von Wohllaut sicher:
"Über dem Haupt des Grafen Albrecht Vahlberg,
der eine geachtete Stellung in der hauptstädtischen
Gesellschaft
einnimmt,
schwebt eine dunkle Wolke" -
Zola, Ibsen, Hauptmann sind unerfreulich,
Salambo verfehlt,
Liszt Kosmopolit,

((Liszt Arpeggien))

und nun kommt die Rubrik
"Der Leser hat das Wort",
er will etwas wissen
über Wadenkrämpfe
und Fremdkörperentfernung.

1886 -
Geburtsjahr gewisser Expressionisten,
ferner von Dirigent Furtwängler,
Bundesbruder Kokoschka,
Generalfeldmarschall von W. (+),

Kapitalverdoppelung
bei Schneider-Creuzot, Krupp-Stahl, Putiloff.

Die Erbmasse
Ich beginne (...) mit der Festellung, daß ich 1886 in dem Dorf Mansfeld (Westprignitz) im Pfarrhaus als Sohn des damaligen Pfarrers geboren bin, in den gleichen Zimmern, in denen 1857 mein Vater (...) ebenfalls als Sohn eines Pfarrers dort geboren war. Hinter diesem, meinem Großvater, kommt eine Reihe von Vorfahren, die Hofbesitzer und Vollbauern waren und deren Stamm sich im Kirchenbuch ihres Heimatdorfes Rambow bei Perleberg bis zum Jahre 1704 zurückverfolgen läßt.

Pastorensohn

Von Senkern aus dem Patronat,
aus Grafenblasen, Diadochen
beschiffte Windeln um die Knochen
beflaggte noch vom Darmsalat.

Der Alte pumpt die Dörfer rum
und klappert die Kollektenmappe,
verehrtes Konsitorium,
Fruchtwasser, neunte Kaulquappe.

Der Alte ist im Winter grün
wie Mistel und im Sommer Hecken,
lobsingt dem Herrn und preiset ihn
und hat schon wieder Frucht am Stecken.

In Gottes Namen denn, mein Sohn,
ein feste Burg und Stipendiate,
Herr Schneider Kunz vom Kirchenrate
gewährt dir eine Freiportion.

In Gottes Namen denn, habt acht,
bei Mutters Krebs die Dunstverbände
woher - ? Befiehl du deine Hände -
zwölf Kinder heulen durch die Nacht.

Der Alte ist im Winter grün
wie Mistel und im Sommer Hecke,
'ne neue Rippe und sie brühn
schon wieder in die Betten Flecke.

Verfluchter alter Abraham,
zwölf schwere Plagen Isaake
haun dir mit einer Nudelhacke
den alten Zeugeschwengel lahm.

Von wegen Land und Lilientum
Brecheisen durch die Gottesflabbe -
verehrtes Konsistorium,
Gut Beil, die neunte Kaulquappe!

Die Erbmasse
Meine Mutter (...) stammte aus einem kleinen Ort der französischen Schweiz, dicht an Frankreichs Grenze, mit Namen Fleurier, in den Bergen des Jura. Dort war sie geboren und aufgewachsen aus einer alten welschen einheimischen Familie, sie kam erst mit zwanzig Jahren nach Deutschland. Sie sprach infolgedessen die deutsche Sprache immer mit Akzent, gewisse deutsche Worte wollten ihr ihr Leben lang nicht gelingen und sie sang ihre vielen Kinder mit französischen Liedern ein.

Mutter

Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer, Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.

Die Erbmasse
(...) Als ich ein halbes Jahr alt war, zogen meine Eltern nach Sellin in der Neumark; dort wuchs ich auf. Ein Dorf mit 700 Einwohnern in der norddeutschen Ebene, großes Pfarrhaus, großer Garten, drei Stunden östlich der Oder. Das ist auch heute noch meine Heimat, obgleich ich niemanden mehr dort kenne, Kindheitserde, unendlich geliebtes Land. Dort wuchs ich mit den Dorfjungen auf, sprach platt, lief bis zum November barfuß, lernte in der Dorfschule, wurde mit den Arbeiterjungen zusammen eingesegnet, fuhr auf den Erntewagen in die Felder, auf die Wiesen zum Heuen, hütete die Kühe, pflückte auf den Bäumen die Kirschen und Nüsse, klopfte Flöten aus Weidenruten im Frühjahr, nahm Nester aus.

((Sing man tau))

Ein Pfarrer bekam damals von seinem Gehalt noch einen Teil in Naturalien, zu Ostern mußte ihm jede Familie aus der Gemeinde zwei bis drei frische Eier abliefern, ganze Waschkörbe voll standen in unseren Stuben, im Herbst jeder Konfirmierte eine fette Gans.

((Vor meinem Vaterhaus))

Eine riesige Linde stand vorm Haus, steht noch heute da, eine kleine Birke wuchs auf dem Haustor, wächst noch heute dort, ein uralter gemauerter Backofen lag abseits im Garten. Unendlich blühte der Flieder, die Akazien, der Faulbaum. Am zweiten Ostermorgen schlugen wir uns mit frischen Reisern wach. Ostaras Weken, alter heidnischer Brauch; Pfingsten stellten wir Maien vor die Haustür und Kalmus in die Stuben. Dort wuchs ich auf, und wenn es nicht die Arbeiterjungen waren, waren es die Söhne des ostelbischen Adels, mit denen ich umging.

Durchs Erlenholz kam sie entlanggestrichen - - - -

Die Schnepfe nämlich - erzählte der Pfarrer - :
Da traten kahle Äste gegen die Luft: ehern.
Ein Himmel blaute: unbedenkbar. Die Schulter mit der Büchse,
des Pfarrers Spannung, der kleine Hund,
selbst Treiber, die dem Herrn die Freude gönnten:
Unerschütterlich.
Dann weltumgoldet: der Schuß:
Einbeziehung vieler Vorgänge,
Erwägen von Möglichkeiten,
Bedenken physikalischer Verhältnisse,
einschließlich Parabel und Geschoßgarbe,
Luftdichte, Barometerstand, Isobaren - -
aber durch alles hindurch: die Sicherstellung,
die Ausschaltung des Fraglichen,
die Zusammenraffung,
eine Pranke in den Nacken der Erkenntnis,
blutüberströmt zuckt ihr Plunder
unter dem Begriff: Schnepfenjagd.
Da verschied Kopernikus. Kein Newton mehr. Kein drittes Wärmegesetz -
eine kleine Stadt dämmert auf: Kellergeruch, Konditorjungen,
Bedürfnisanstalt mit Wartefrau,
das Handtuch über den Sitz wischend
zum Zweck der öffentlichen Gesundheitspflege;
ein Büro, ein junger Registrator
mit Ärmelschutz, mit Frühstücksbrötchen
den Brief der Patentante lesend.

Jena

"Jena vor uns im lieblichen Tale"
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale,
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie.
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie.

Es war kein berühmtes Bild, keine Klasse,
für lieblich sah man wenig blühn,
schlechtes Papier, keine holzfreie Masse,
auch waren die Berge nicht rebengrün,
doch kam man vom Lande, von kleinen Hütten,
so waren die Täler wohl lieblich und schön,
man brauchte nicht Farbdruck, man brauchte nicht Bütten,
man glaubte, auch andere würden es sehn.

Es war wohl ein Wort von hoher Warte,
ein Ausruf hatte die Hand geführt,
sie bat den Kellner um eine Karte,
so hatte die Landschaft sie berührt,
und doch - wie oben - erlosch die Ahne
und das gilt allen und auch für den,
die - Jahre des Werdens, Jahre der Wahne -
heute die Stadt im Thale sehn.

Epilog IV

Es ist ein Garten, den ich manchmal sehe
östlich der Oder, wo die Ebenen weit,
ein Graben, eine Brücke, und ich stehe
an Fliederbüschen, blau und rauschbereit.

Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann Vergessen hieß.

Es ist ein Spruch, den oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt -
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: "Tu sais" - du weißt.

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