Reinhard Döhl | Eva Anna Sophie oder von der Muse des Experiments (1)

Die Rolle, die Eva Gouel für die Kunst Pablo Picassos gespielt hat, hatte mich spielerisch auf die Frage nach der Muse des Experiments gebracht. Denn das liegt auf der Hand, daß für die ästhetischen Hervorbringungen der radikalen Künste der klassische Musenanruf eines Homer oder Vergil ebenso unangebracht wäre, wie die Musa iocosa der Thümmelschen "Wilhelmine" oder der Raabeschen "Gänse von Bützow". Daß Musen nach der Genieperiode allenfalls noch individuell funktionieren, bedarf keiner Diskussion. Ihnen, den privaten Musen ist meine abschließende Vorlesung gewidmet, wobei ich mich stellvertretend an Sophie Taeuber und Anna Blume halte.

Es war Sophie Taeuber, die mir durch das Beispiel ihrer klaren Arbeiten und ihres klaren Lebens den rechten Weg, den Weg zur Schönheit zeigte. In dieser Welt bestehen Oben und Unten, Helligkeit und Dunkelheit, Ewigkeit und Vergänglichkeit in vollendetem Gleichgewicht. So schloß sich der Kreis (1).

Wer Auskunft erhalten will, in welchem Umfang und in welchen Formen Sophie Taeuber am Werk ihres Mannes teilhatte, sollte sich vorab vergegenwärtigen, daß Arp seine Gefährtin und spätere Frau 1915 in einer weltpolitischen Krisensituation kennen lernte, zu einer Zeit, da er selber auf der Suche nach einer Kunst war, die sich dem Unsagbaren über dem Menschen, dem Ewigen [...] nähern (2) sollte.

Auch wenn bei Arps Rückblicken interpretatorische Vorsicht geboten ist, von seiner Biographie her hat sich die Begegnung mit Sophie Taeuber als absolut notwendig, weil nichts zufällig ist, bestätigt, als die einzige Begegnung meines Lebens mit der Klarheit, Ruhe, Güte, Sanftmut (3).

Gemeinsame Arbeiten lassen erkennen, daß Sophie Taeubers Einfluß auf das Denken und die künstlerische Arbeit Arps entscheidender gewesen ist, als der erste, durch ihre lebenslängliche (auch sprachliche) Zurückhaltung und Bescheidenheit suggerierte Eindruck scheinen läßt. Dabei müssen sich Arps eher weltfremde Neigung zu unsinnigem Spiel und Sophie Taeubers tiefer Ernst und vernünftige Lebensplanung wechselseitig ergänzt haben auf der Basis einer beiden gemeinsamen religiösen Fundierung. Daß ihr durch die Zeitläufe bedingtes, gemeinsames Leben an verschiedensten Orten nicht immer ohne Spannungen blieb, lassen die spärlichen Äußerungen der Freunde mehr vermuten als belegen. Offensichtlich in eine solche Spannungsphase und wiederum in eine weltpolitische Krisensituation fällt der rätselhafte tragische Tod der Gefährtin am 13. Januar 1943. Er trifft Arp zu Tode: Der Verzweifelte kann sich in den Bau seiner Verzweiflung verschanzen, dem zu Tode Getroffenen aber stürzt die Welt ein (4).

Erst jetzt scheint sich Arp der Rolle, die Sophie Taeuber in seinem Leben gespielt, dem Einfluß, den sie auf sein Werk genommen hatte, bewußt geworden zu sein. Hatte er ihrer in seinen bisherigen Essays und Gedichten, die hier nicht getrennt werden dürfen, sowohl explizit (z.B. 1938 in "Tibiis canere") wie implizit kaum gedacht, jetzt tragen zahlreiche Gedichtgruppen und Essays ihren Namen bereits im Titel ("Sophie", 1943/45; "Sophie", 1943/47; "Sophie revait Sophie peigneit Sophie dansait", 1944, "Sophie", 1948/1959) oder sind ausschließlich auf sie bezogen ("Tu etaits claire et calme", 1944; "Der vierblättrige Stern", 1945/50; "Die Engelsschrift", 1948). Aber selbst dort, wo die Texte ihren Namen weder benennen noch anrufen, korrespondieren sie mit biographischen Details. Als Beispiel sei auf das letzte Gedicht der Gruppe "Die ungewisse Welt" (1939/45) mit dem Titel "Die Ebene" (5) verwiesen.

Ich befand mich allein mit einem Stuhl auf einer Ebene,
die sich in einen leeren Horizont verlor.
Die Ebene war fehlerlos asphaltiert.
Nichts, aber auch gar nichts ausser mir und
dem Stuhl befand sich auf ihr.
Der Himmel war immerwährend blau.
Keine Sonne belebte ihn.
Ein unerklärliches, vernünftiges Licht erhellte
die endlose Ebene.
Wie künstlich aus einer anderen Sphäre
projeziert,
erschien mir diese ewige Tag.
Ich hatte nie Schlaf, nie Hunger, nie Durst,
nie heiss, nie kalt.
Da sich nichts auf dieser Ebene ereignete
und veränderte,
war die Zeit nur ein anwegiges Gespenst.
Die Zeit lebte noch ein wenig in mir,
und dies hauptsächlich wegen des Stuhles.
Durch meine Beschäftigung mit ihm verlor
ich den Sinn für Vergangenes nicht ganz.
Ab und zu spannte ich mich, als sei ich ein
Pferd, vor den Stuhl
und trabte mit ihm bald im Kreis, bald
gerade aus.
Dass es gelang, nehme ich an,
ob es gelang, weiss ich nicht,
da sich ja im Raume nichts befand,
an dem ich meine Bewegung hätte nach-
prüfen können.
Sass ich auf dem Stuhl, so grübelte ich
traurig, aber nicht verzweifelt,
warum das Innere der Welt ein solches schwarzes
Licht ausstrahlte.
Die (surrealistische) Traumsituation ist klar: das Ich des Gedichtes befindet sich auf einer fehlerlos asphaltierten Ebene mit leerem Horizont, also in einem Raum ohne Orientierungsmöglichkeit. Ob die von ihm bald im Kreis, bald gerade aus ausgeführten Bewegungen gelingen, ist dementsprechend nicht zu erkennen. Allerdings ist eine Orientierung in der Zeit noch bedingt möglich, verliert das Ich durch seine Beschäftigung mit dem Stuhl den Sinn für Vergangenes nicht ganz. An die irdische Zeit rückgebunden, grübelt es darüber nach, warum das Innere der Welt ein solch schwarzes Licht austrahlt Diesem schwarzen Licht kontrastiert das immerwährende Blau des Himmels, das unerklärliche, vernünftige Licht [...] aus einer anderen Sphäre, das dem Ich wie der ewige Tag erscheint. Noch der irdischen Zeit verhaftet, aber dem ewigen Leben schon nahe, so etwa ließe sich der Zustand, in dem sich das Ich ohne menschliche Bedüfnisse und Empfindungen befindet (Ich hatte nie Schlaf, nie Hunger, nie Durst, nie heiß, nie kalt), skizzieren.

Damit stieße die interpretatorische Bestandaufnahme zugleich an ihre Grenze, enthielte das Gedicht nicht einige weiterführende Hinweise. So entspricht das traurig, aber nicht verzweifelt der letzten Zeile der schon zitierten Unterscheidung zwischen zu Tode verzweifelt und zu Tode getroffen. In dieser Unterscheidung markiert das zu Tode getroffen nicht einen Endpunkt, sondern die Annäherung an das unkörperliche Reich (6), wie Arp in anderem Zusammenhang auch von Vergehen und Werden (7) in eben dieser Reihenfolge spricht oder, direkt an Sophie Taeuber gerichtet:

Seitdem du gestorben bist
danke ich jedem vergehenden Tag.
Jeder vergangene Tag
bringt mich dir näher (8).
Aber Arps Erinnerung ist in dem Gedicht "Die Ebene" noch konkreter zu nehmen. Da läßt sich einmal das im Kreis-Traben über die umgangssprachliche Bedeutung des sich im Kreise Bewegens hinaus auf die unzähligen Kreismärchen beziehen, die Sophie Taeuber nach einem weiteren Gedicht Arps, "Kreismärchen" (9), träumte, aber auch auf den von ihr gemalten Weg [...] in den sonnengoldenen Kreis, in den himmelblauen Kreis (10), was die Tristesse der Spiele des Ichs auf der Ebene umso mehr betont. Zum anderen verweist der Stuhl, vor den sich das Ich des Gedichts gespannt hat, fraglos auf das alte spaßige Stühlchen, für das Sophie Taeuber zu Lebzeiten eine besondere Verehrung hatte, dem sie lange Märchen erzählte, in denen die Rede war vom Versprühen zierlicher Welten, von wellengleichem Klingen, von körperloser Helligkeit, und all dies bezog sich auf die frühere Besitzerin des Stühlchens, welche sich schon lange nicht mehr um Blühen und Verblühen kümmerte. [...]. Überlegte Sophie, das heißt, träumte sie, so nahm sie meistens auf ihrem knarrenden Stühlchen [...] Platz (11). Sophie Taeubers ererbtes Stühlchen ist im Gedicht zu einem Stuhl auf einer leeren Ebene geworden, einem irdischen Requisit, mit dessen Hilfe das Ich den Sinn für Vergangenes nicht ganz verliert, während sich die Erinnerung an Sophie Taeuber zugleich zunehmend verklärt.

Zu den wenigen Texten, die sich von Sophie Taeuber erhalten haben, gehören auch zwei Träume, "Et le voyage continua" / "Nur das Wort 'heureuse'" (12), die sich leicht als Vorahnungen deuten lassen. Aber auch sonst müssen ihre Träume in den letzten Lebensjahren von einer Dunkelheit gewesen sein, die Arp nur zu Teilen bekannt war:

Sie hatte Träume, von denen sie mir nie sprechen wollte. Sie verbarg sie hinter übertriebenen, poltrigen Späßen. Sie ging dann im Kreise umher und ahmte einen stummen, jedoch eifrig blasenden Trompeter nach und ließ sich um keinen Preis bestimmen, mir ihren Traum zu erzählen (13).
In Arps literarischer Trauerarbeit hat sich die Dunkelheit dieser Träume zusehends aufgehellt:
Gegen Ende ihres Lebens war Sophie Taeuber von einem wundersamen Licht verklärt, als wisse sie von ihrem nahen Ziel (14).
Oder:
Als ich dich zum letzten Male sah,
warst du eine weiße Wolke,
entschlossen für immer in das Weiße zurückzukehren (15).
Aber Arps Gedichte und Essays erhöhen Sophie Taeuber noch weiter:
Dein Gesicht
war ein weißer Stern (16).
Erinnerung und Traum sind kaum mehr unterscheidbar:
Träume ich, wenn ich Sophie hell und still im Grunde der weißen Blütenblätter eines weißen lauteren Sternes erblicke? (17).
In der Erinnerung träumt Sophie malt Sophie tanzt Sophie: "Sophie revait Sophie peignait Sophie dansait". Arp schreibt diesen Gedichttitel ohne Satzzeichen, die eine Tätigkeit folgt aus der anderen, eins ist genauso wichtig wie das andere, und die einschlägigen Belegstellen sind zahlreich (18).

Im Traum begegnet Arp

Sophie unter den Olivenbäumen des Mittelmeeres. Da spaßt sie, wendet sich um, hüpft davon, schlägt mit den Armen wie ein Vogel mit den Flügeln, wendet sich wieder um und kommt auf mich zu (19),
in einer Traumsequenz, die auffällig mit einer Erinnerung korrespondiert:
Parfois tu battais des ailes et tu riais,
tout en continuant a travailler.
Tu voulais me faire peur.
Tu faisais semblant de t'envoler.
Mais ta toile avançait
et c'etait toujours un bouquet de clarté (20).
Und noch ein weiteres Mal begegnet Sophie Taeuber dem träumenden Arp, antwortet sie ihm auf seine Feststellung,
daß sie eine schöne, kluge Freundin gewesen sei und daß wir einander sicher wieder begegnen würden, [...] freundlich [...]: 'Ja, in Kairo.'[...] Ich fühlte, und konnte mich dieses Gefühls in der Nacht, von der ich hier schreibe, wieder gut erinnern, daß dieses Kairo weder in Ägypten, noch ein Neu-Kairo in Amerika war, sondern ein Kairo in einer unendlich fernen Himmelsgegend, auf einem unendlich fernen Stern (21).
Es ist dies ein Traum, der sich ganz erst erschließt, wenn man in Anschlag bringt, daß Arp und Sophie Taeuber 1942 ernsthaft daran gedacht haben, nach Amerika zu gehen. Nicht also Kairo, die Welt der Mythen und der Mystik, die sie zu Lebzeiten verband, nicht Amerika, der gedankliche Fluchtpunkt von 1942, ein himmlisches Kairo ist der Ort der Wiedervereinigung, wobei offen bleiben muß, ob Arp hier möglicherweise auch ein Wortspiel mit dem griechischen kair oV im Sinn hatte.

Arp hat im Laufe seiner literarischen Trauerarbeit Sophie Taeuber gleichsam zur Göttin erhöht, um sich mit ihr in einem neuen Leben wieder zu vereinigen:

Du bist ein Stern
und träumst in Gottes lichter Blume.
Ich meg nicht weitergehen.
Ich will auch schlafen.
So wie du schläfst
in Gold in tiefer Ferne
in einem reinem Wiegen (22).
Das legt einen Vergleich mit jenen "Hymnen an die Nacht" nahe, die der von Arp hoch geschätzte Romantiker Novalis aus dem Zielgedanken heraus verfaßte, seiner Sophie nachzusterben. Aber bereits in der Diktion bleibt Arp deutlich schlichter:
Ich spreche kleine, einfältige Sätze
leise für mich hin,
immerfort für mich hin.
Ich spreche kleine, alltägliche, geringe Sätze.
Ich spreche wie die geringen Glocken,
die sich wiederholen und wiederholen (23).
Auch war Arps Erschütterung tiefgreifender. Denn anders als Novalis, der sich zunächst als Fremdling dieser Welt verstand, um sich ein Jahr später nach einem Heilschlaf erneut zu verloben, bleibt Sophie Taeuber für Arps Spätwerk, auch wenn dies nach 1953 nur noch selten ausgesprochen wird, der Leitstern, nachdem sie ihm durch das Beispiel ihrer klaren Arbeit und ihres klaren Lebens den rechten Weg, den Weg zur Schönheit gewiesen hatte. Als Wegweiser, die in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen sollten, hatten Sophie Taeuber und Arp ihre ersten gemeinsamen Arbeiten verstanden. "Wegweiser" hatten sie eine gemeinsame Skulptur aus dem Jahre 1938 getitelt. "Wegweiser" nannte Arp 1953 den einleitenden Essay zu "wortträume und schwarze sterne", den er mit Sophie Taeubers Tod enden läßt.

Wie zentral dieser Tod in seine literarische Produktion eingriff, macht noch einmal ein kleiner Exkurs deutlich. Ließ Arps berühmte Klage um Kaspar in ihrer Fassung von 1915 offen: warum bist du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heißen wirbelwind oder ein euter aus schwarzem licht oder ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden trommel des felsigen wesens, fragt die Fassung aus "wortträume und schwarze sterne", also nach Sophie Taeubers Tod, bereits: warum hast du uns verlassen. in welche gestalt ist nun deine schöne große seele gewandert. bist du ein stern geworden [...].

Was auch hier noch Frage bleibt, lm Falle der realen Elegie ist es Gewißheit:

Sophie ist ein Himmel.
Sophie ist ein Stern.
Sophie ist eine Blume (24).
Selbst ihre ehemals irdische Existenz verklärt sich von dorther: Sophie schrieb die Engelsschrift (25).

In immer neuen Konstellationen ziehen sich die Wörter Himmel, Stern, Blume durch das Spätwerk Arps, meist im Gegensatz zur verrinnenden Zeit und in Verbindung mit der Unendlichkeit. Zwischen den Zeilen der Zeit, hat Arp in "Dreams und Projects" geschrieben, laufe das Licht [...] weltauf, weltab, und daß es gelte, zwischen den Zeilen zu lesen.

Die Sterne schreiben unendlich langsam und lesen nie. Ich lernte im Traume schreiben und erst viel später mit großer Mühe lesen (26).
Man darf hier mit einigem Recht sich eines zweiten, von Arp geschätzten Romantikers erinnern: Clemens Brentano. Eines seiner bedeutendsten und schwierigsten Gedichte beginnt. Was reif in diesen Zeilen steht. Und es endet mit zwei Versen, die Brentano auch in anderen Gedichten als Refrain verwendet hat:
O Stern und Blume, Geist und Kleid,
Lieb', Leid und Zeit und Ewigkeit.
Ursprünglich sind dies die letzten Worte, die das Büblein (eine Metamorphose Brentanos) im Märchen von "Gockel, Hinkel und Gackeleia" ins "Tagebuch der Ahnfrau" eingeschrieben hat, in einem Märchen, das Arp kannte. So schloß sich unter dem Eindruck des Todes von Sophie Taeuber auch im literarischen Werk - kaum bemerkbar - der Kreis zu Arps ursprünglicher Begegnung mit der Romantik, auf deren Bedeutung für Arp bereits Carola Gideon-Welcker aufmerksam machte: Brentanos "Rheinmärchen", die sich mit den Eindrücken einer Stromreise vermischten, riefen aus der Landschaft Mythos und Feenzauber wach, öffneten Tore zu phantastisch verwobenen Bezirken, die später durch "Des Knaben Wunderhorn" und vor allem durch die versunkene, naturbeseelte Dichtung von Novalis vertieft wurden.

[Ursprünglich u.d.T. "Sophie Taeuber, Muse" Vortrag zur Ausstellung Sophie Taeuber - Hans Arp, Kunstmuseum Bern 2.9.1988. Druck [zweisprachig] in: Sandor Kuthy (Hrsg.): Sophie Taeuber - Hans Arp. Fribourg: Office du Livre 1988, S. 187-192. [Auch Ausstellungskatalog im Rahmen der Ausstellungsfolge "Künstlerpaare, Künstlerfreunde", 2.9.-6.11. Kunstmuseum Bern; 17.11.-31.1.89 Stiftung Rolandseck; 10.2.-31.3.89 Von der Heydt-Museum Wuppertal.]

[Anmerkungen werden nachgestellt]