Reinhard Döhl | Serigrafien aus dem Siebdruck-Atelier Geiger

Anders als bei sonst üblichen Ausstellungen geht es diesmal nicht um die Präsentation eines Künstlers und Individualstils, sondern um mehrere Künstler. Weniger um die handwerkliche Kunstfertigkeit eines Malers, Zeichners, Bildhauers, Keramikers, sondern um die Demonstration der Möglichkeiten eines druckgrafischen Verfahrens, des Verfahrens der Serigrafie, vulgo des Siebdrucks.

Die Ausstellung umfaßt dabei Arbeiten von 13 Künstlern, was selbstverständlich ein gutes Omen ist, und erfaßt dennoch nur einen Bruchteil der Arbeiten, die im Siebdruck-Atelier Geiger im Laufe der letzten 22 Jahre entstanden sind. Mit Blättern von Uwe Ernst, Ulrich Zeh, Wolfgang Ehehalt stellt sie die Verbindung zum Ausstellungsprogramm der Galerie der Stadt Plochingen her. Sie spannt den Bogen von Klassikern der Moderne (Max Ackermann, Willi Baumeister, Richard Neuz, Paul Reichle), zu Vertretern gegenwärtiger Malerei in Paris (Atila, Philippe Morisson), von einer gegenständlichen zur gegenstandslosen Kunst, z.B. mit den auf Japanpapier gedruckten Serigrafien Andre Ficus' auf der einen, den strengen Blättern Horst Kuhnerts auf der anderen Seite. Sie enthält Beispiele aus dem von seinem Umfang her jeweils schmalen, dennoch gewichtigen druckgrafischen Oeuvre Adam Lude Dörings, Hans Schreiners und Johannes Schreiters. Und sie zeigt schließlich sowohl das Einzelblatt wie die Variationsmöglichkeit der Serigrafie. Und alles dies gäbe es nicht ohne das Siebdruck-Atelier Roland Geiger, das somit auch der gemeinsame Nenner wäre, auf den sich die heutige Ausstellung bringen ließe.

Anders als bei einer üblichen Vernissage habe ich im folgenden also nicht nur von einem oder mehreren Künstlern zu reden, sondern auch von einem Drucker als ihrem unerläßlichen Partner, nicht nur von Kunst, sondern auch vom Handwerk als ihrer Voraussetzung, nicht nur vom Ergebnis, sondern auch von ihrer technischen Produktion. Und ich möchte dabei meine Überlegungen ansatzweise auch einordnen in einen größeren Zusammenhang, dem Walter Benjamins Aufsatz über "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" das vielzitierte, oft mißverstandene Stichwort geliefert hat.

Die Serigrafie, um zunächst mit der Technik zu beginnen, ist in der Geschichte der künstlerischen, für die Kunst relevanten Druckverfahren das jüngste. Lexikalisch gesprochen. beginnt die Geschichte künstlerischer Druckverfahren mit dem Hoch- bzw. mit dem Tiefdruck, deren historische Reihenfolge umstritten ist. Im Hochdruck werden die erhabenen Teile einer Druckform eingefärbt und geben die Druckfarbe an das Papier ab. Beim Tiefdruck dagegen geben, nach Einfärbung und Reinigung der Oberfläche, die mit Druckfarbe gefüllten Vertiefungen die Farbe an das Papier weiter. Der Holzschnitt (wie ihn Ulrich Zeh gelegentlich noch praktiziert) bzw. die Radierung (die Ulrich Zeh ebenfalls meisterlich beherrscht, aber auch Kirchberger und Atila wären hier zu nennen, sind solche Hoch- bzw. Tiefdrucke, deren Geschichte als grafische Kunst mit der stärkeren Verbreitung des Papiers mit Ende des 14. Jahrhunderts einsetzt.

Hoch- bzw. Tiefdruck gelten, wie der Buchdruck mit beweglichen Lettern, als Erfindung von einschneidender Bedeutung, da mit ihnen Grafik zum ersten Mal technisch reproduzierbar und damit wohlfeil wurde. Daß Dürers Mutter und wohl auch seine Gesellen mit den Holzschnitten der Werkstatt auf dem Markt handelten und - bei fehlenden Großaufträgen - mit diesem Handel für das notwendige Haushaltsgeld sorgten, ist Ihnen sicherlich ebenso geläufig wie die Rolle des Holzschnitts für die Einblattdrucke der Reformation und Gegenreformation. Noch die Anfänge unserer heutigen Bildzeitung haben im 16. Jahrhundert aus der Erfindung des Holzschnitts ihr Kapital geschlagen, z.B. mit einer "Newe[n] Zeytung auß Ghendt / in Flandern. Wie es da selbst ein gantz greuelichs vnd Erschroecklichs / vngewiter entstanden desgleichen vormals nie erhoert wordn ist / geschehen Anno 1586. dem 18. Augustij".

Erst Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte Alois Senefelder den Flachdruck, bei dem druckende und nichtdruckende Stellen der Druckform praktisch in einer Ebene liegen, durch entsprechende Vorbehandlung aber nur die druckenden Stellen die Farbe annehmen, während die nicht druckenden sie abstoßen. Mit dieser von Senefelder entwickelten Technik arbeiteten und arbeiten - auf diese Ausstellung bezogen - nicht nur Willi Baumeister und Günther C. Kirchberger, der als Student der Stuttgarter Kunstakademie noch Lithografien Baumeisters drucken durfte bzw. mußte - mit der Lithografie erreichte die Reproduktionstechnik auch, wie Walter Benjamin schreibt, eine grundsätzlich neue Stufe.

Das viel bündigere Verfahren, das die Auftragung der Zeichnung auf einen Stein von ihrer Kerbung in einen Holzblock oder ihrer Ätzung in eine Kupferplatte unterscheidet, gab der Graphik zum erstenmal die Möglichkeit, ihre Erzeugnisse nicht allein massenweise (wie vordem), sondern in täglich neuen Gestaltungen auf den Markt zu bringen. Die Graphik wurde durch die Lithographie befähigt, den Alltag illustrativ zu begleiten. Sie begann, Schritt mit dem Druck zu halten. In diesem Beginnen wurde sie aber schon wenige Jahrzehnte nach Erfindung des Steindrucks durch die Photographie überflügelt.

Daß und auf welche Weise die von Walter Benjamin skizzierte Entwicklung vom originalen Kunstwerk über seine Reproduktionsmöglichkeiten zu massenhafter Knipserei und Fotoindustrie aber auch umkehrbar ist, könnte ich mit meiner eigenen künstlerischen Emntwicklung belegen, haben in jüngster Zeit die Fotorealisten bewiesen oder die "Polaroid Portraits" Richard Hamiltons oder die erst kürzlich hier gezeigten "Fotolithografien" Manfred Kärchere, die den Weg von der Foto- zur Lithografie praktisch zurück beschreiten und damit eine Forderung Charles Baudelaires erfüllen, nach der die Fotografie allenfalls der Wissenschaften und der Künste Dienerin sein dürfe. [Vgl. meine "Variationen zu den Fotolithografien Manfred Kärchers (1981, 1987, 1990)", "Von der Fotografie zur Grafik"].

Als eine solche Dienerin begegnet sie uns auch beim historisch jüngsten Druckverfahren, der Serigrafie, und zwar dann, wenn Filme auf die Druckform, das Sieb umkopiert werden. Wie das im einzelnen geschieht, was mit einem Sieb vor dem Druck alles geschehen muß und darf und was nicht, kann Ihnen Herr Geiger viel besser als ich erklären. Ich beschränke mich deshalb auf die Beschreibung des Druckverfahrens, das gegenüber Hoch-, Tief- und Flachdruck mit Recht zumeist als Durchdruck umschrieben wird, da bei ihm die Druckfarbe durch die geöffneten Stellen der Druckform (einer Schablone, eines Siebes) mittels einer Rakel auf das darunterliegende Papier aufgebracht wird. Aber auch auf andere Materialien wie Holz, Glas, Kunststoff in unterschiedlichster Form, was den Siebdruck vor allen anderen Druckverfahren (auch) industriell so interessant macht. Dieser gewerbliche Siebdruck hat in letzter Zeit die künstlerische Serigrafie zunehmend benachteiligt und eher verdeckt als erhellt, in welchem Maße gerade die Serigrafie als modernes künstlerisches Ausdrucksmittel zu beachten ist. Entsprechend erfährt denn auch der Benutzer eines weitverbreiteten Lexikons lediglich: Der Siebdruck wird v(or) a(llem) zum Bedrucken von Blech und Glas sowie beim Drucken von Plakaten angewandt; daneben fand er nach dem 2. Weltkrieg starke Verbreitung in der künstler(ischen) Druckgrafik.

Dreierlei stört mich an dieser Auskunft:

1. ihre nichtssagende Kürze.
2. das Imperfekt fand, das zumindest mißverständlich ist, denn die künstlerische Serigrafie fand nicht nur in den 50er/60er Jahren eine starke Verbreitung, sie ist, wie die heutige Ausstellung zeigt, auch in den 80er Jahren durchaus noch aktuell.
3. vermisse ich einen Hinweis auf das Alter dieses druckgrafischen Verfahrens, fühle ich mich, wie Bertolt Brecht bei Einführung des Radios, an eine alte Geschichte erinnert, in der einem Chinesen die Überlegenheit der westlichen Kultur vor Augen geführt wurde. Er fragte: 'Was habt Ihr?' Man sagte ihm: Autos, Telefon, Siebdruck'. 'Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen', erwiderte der Chinese höflich, 'das haben wir schon wieder vergessen.'

Ich habe, wie Sie sicherlich vermuten, eine kleine Textbegradigung vorgenommen. Denn der Siebdruck kommt im Originalzitat nicht vor. Er hätte aber vorkommen können, denn Serigrafie heißt - wörtlich übersetzt - gar nicht Sieb- sondern Seidendruck, nach dem lateinischen sericus, einem Adjektiv, das sich von den Serern herleitet, einer Völkerschaft im östlichen Asien, wo schon vor hunderten von Jahren Schriftzeichen mit Hilfe der Seide im Schabloneverfahren hergestellt wurden. Geigers serigrafische Umsetzung der eher konventionellen Aquarelle André Ficus' auf Reispapier hat hier durchaus ihren Hintersinn.

Daß die Serigrafie als künstlerisches Ausdrucksmittel keine Eintagsfliege ist, belegt z.B. das druckgrafische Werke Günther C. Kirchbergers, dessen erste, gemeinsam mit mir konzipierte Serigrafie aus dem Jahre 1963 stammt, dem gleichen Jahr, in dem auch der frischgebackene Siebdruckmeister Roland Geiger sein Atelier installierte. Gehe ich historisch vor, steht am Anfang des Siebdruck-Ateliers Geiger die Bekanntschaft mit Richard Neuz, Anfang der 60er Jahre. Diese Bekanntschaft machte aus dem Siebdruckmeister in einer gleichsam zweiten Lehrzeit den heute unersetzlichen Partner seiner Künstler. In der sehr intensiven gemeinsamen Arbeit, beim Umsetzen Neuz'scher Bildvorlagen zu künstlerisch eigenständigen Serigrafien, kamen handwerklich eine Vielzahl jener Tendenzen ins Spiel, die die Kunstrevolution zu Beginn dieses Jahrhunderts vorgegeben und die Richard Neuz in seiner Malerei aufgenommen hatte.

Diese Tendenzen vor allem zur Farbe, zu Farbklängen, von denen Wassily Kandinsky sprach (und an die noch die hier ausgestellten strengen Kompositionen Philippe Morissons erinnern), diese Tendenzen zur Abstraktion und zur Eigengesetzlichkeit der ästhetischen Mittel begegneten Roland Geiger in noch eindrucksvollerer Weise, als nach Richard Neuz bald auch Max Ackermann die Entwicklung seiner Serigrafien dem Kornwestheimer Siebdruck-Atelier anvertraute. Beide sind hinreichend in dieser Ausstellung präsent, die damit nicht nur an Max Ackermann erinnert, der im nächsten Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, sondern nachdrücklich auch an Richard Neuz gemahnt, der vor genau 10 Jahren starb und inzwischen zu Unrecht fast vergessen ist. Für die Galerie Geiger jedenfalls hat es durchaus programmatisches Gewicht, daß die jeweils letzten Einzelausstellungen Max Ackermanns und Richard Neuz' zu Lebzeiten den Anfang der Galeriearbeit markieren.
Wie in Jahresringen kommen in der Arbeit des Siebdruck-Ateliers in den 60er und 70er Jahren weitere Tendenzen hinzu. Und das ergibt. summa summarum, nach über 20 Jahren Siebdruck-Atelier und nach über zehn Jahren Galerie-Arbeit, ein Repertoire, zu dem praktisch drei Generation beigetragen haben und noch tragen:

Ein Einzelfall in dieser Ausstellung ist das Blatt Willi Baumeisters, das - erst kürzlich gedruckt - den Bogen noch einmal zurückschlägt zu den frühen Arbeiten von Richard Neuz und Max Ackermann. Es ist ein Einzelfall erstens, weil es ohne die Mitarbeit des Künstlers gedruckt würde, die in der Regel für die Serigrafien des Siebdruck-Ateliers eine wesentliche Voraussetzung bildet.

Es ist zweitens aufschlußreich im Vergleich mit Arbeiten Atilas, die kompositorisch ähnlich wie das Blatt Baumeisters die Farbflächen nicht waagerecht oder senkrecht, sondern im Bogen über die Fläche verteilen. So ergibt sich über die Jahrzehnte hinweg eine Korrespondenz. wie sie auch zwischen Philipp Morisson und Max Ackermann im gemeinsamen Nenner der Farbklänge gegeben ist. Zugleich markieren Morissons strenger Bildaufbau und Atilas Alusion des Gegenstandes den historischen Abstand, zeigen sich wiederum Breite und zugleich innere Schlüssigkeit des Geigerschen Siebdruckprogramms.

Drittens und letztens ist das Baumeisterblatt geeignet, wenigstens theoretisch zu der Einsicht überzuleiten, daß es so etwas wie eine äußerliche Entwicklung und technische Abhängigkeit der Serigrafie gibt. Im Vergleich nämlich zu jenen Serigrafien, die noch zu Lebzeiten Baumeisters von jenem inzwischen Legende gewordenen "Poldi" Domberger gedruckt wurden, hat sich der Farbauftrag sichtlich geändert.

Leider ist im Falle Baumeisters ein Vergleich zwischen den Serigrafien der 50er Jahre und dem Einzelblatt von 1986 im Rahmen dieser Ausstellung nicht möglich. Er läßt sich aber instruktiv ersetzen durch einen Vergleich der frühen Neuz- und Ackermann-Drucke mit den letzten Arbeiten Atilas oder Morissons. Und der läßt, auch für den Laien deutlich, den Unterschied zwischen einer zunächst dick und pastos aufgebrachten und der heute eher lasierenden Farbigkeit erkennen. Wieweit dies drucktechnisch begründet ist, kann Ihnen Herr Geiger am einzelnen Blatt wesentlich besser erklären als ich. Desgleichen ein weiteres, damit zusammenhängendes Problem: daß nämlich immer weniger Farben für die im Grunde farbintensive Serigrafie fabrikmäßig zur Verfügung stehen. Hier wird der genau die Farben mischende (und, wie ich aus der Schule plaudern darf, wegen seiner Genauigkeit gefürchtete) Drucker Roland Geiger endgültig zum unersetzbaren Partner seiner Künstler. Da auch die für die künstlerische Serigrafie benötigte Filmfolie immer unerschwinglicher wird, die bei ihrer Herstellung benötigten Filme mit den modernen Techniken und von den an ihnen Ausgebildeten praktisch kaum mehr zur Verfügung stehen, ist noch mehr als bisher für die Zukunft der künstlerischen Serigrafie die Exklusivität handwerklich gekonnter und künstlerisch wertvoller Grafik garantiert. Die gemeinsame Arbeit von Künstler und Drucker im Atelier, das im Gegensatz zu massenhafter Reproduktion schrittweise Entstehen einer Serigrafie, ihre Exklusivität gewinnt derart sogar einer modernen Drucktechnik etwas von der Aura, dem Hier und Jetzt zurück, deren Verlust Waltet Benjamin für das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit beklagt hatte.

[Galerie der Stadt Sindelfingen, 23.11.1986; Galerie der Stadt Plochingen, 5.12.1986]