Eduard Mörike
An
*) meinen Vetter.
Juni 1837.
 
Lieber Vetter! Er ist eine
Von den freundlichen Naturen,
Die ich Sommerwesten nenne.
Denn sie haben wirklich etwas
Sonniges in ihrem Wesen.
Es sind weltliche Beamte,
Rechnungsräte, Revisoren
Oder Kameralverwalter,
Auch wohl manchmal Herrn vom Handel,
Aber meist vom ältern Schlage,
Keinesweges Petit-maîtres,
Haben manchmal hübsche Bäuche,
Und ihr Vaterland ist Schwaben.
 
Neulich auf der Reise traf ich
Auch mit einer Sommerweste
In der Post zu Besigheim
Eben zu Mittag zusammen.
Und wir speisten eine Suppe,
Darin rote Krebse schwammen,
Rindfleisch mit französ'schem Senfe,
Dazu liebliche Radieschen,
dann Gemüse und so weiter;
Schwätzen von der neusten Zeitung,
Und daß es an manchen Orten
Gestern stark gewittert habe.
Drüber zieht der wackre Herr ein
Silbern Büchslein aus der Tasche,
Sich die Zähne auszustochern;
Endlich stopft er sich zum schwarzen
Kaffee seine Meerschaumpfeife,
Dampft und diskuriert und schaut in-
mittelst einmal nach den Pferden.
 
Und ich sah ihm so von hinten
Nach und dachte: Ach, daß diese
Lieben, hellen Sommerwesten,
Die bequemen, angenehmen,
Endlich doch auch sterben müssen.


*) Unverbindliche Fußnote der Herausgeber, nicht nur für für Asoreten: Unser Eduard ist Deutschlands größter An-Dichter. Allein 73 seiner Gedichttitel beginnen mit dieser Zuweisung, zweimal anonym mit "An -" einsetzend, gewichtig mit "An X. und Y." und "An Z" endend.




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