Claus Henneberg
Die Notizen aus dem Roman David Gimmel

1. Schwesterliches Oval.
2. Die Kraft eines weißen Eies.
3. Er war das Kind eines Kommas und einer Setzmaschine.
4. Grauen vor der wuchernden Üppigkeit des Lebens.
5. Unzählige chinesische Gedichte, die gelesen zu haben sich niemand rühmen kann. Sternenheere am nächtlichen Himmel. Unzählige leuchtende Punkte.
6. Die Erfindung der weißen Punkte auf den Dominosteinen. Die Erfindung der schwarzen Punkte auf den Dominosteinen. Persische Kulturleistung?
7. Gedanken - eine säende Kette unausrottbaren Löwenzahns.
8. Siebenerlei Fleisch der Turkey hat.
9. Die Schlange Homer; der Löwe Vergil; die Sphinx Dante.
10. Der langnasige, lächelnde Jüngling aus Tenea.
11. Die riesige Vagina des Amphitheaters zu Orange, umblüht von Haarbäumen.
12 Und mit dem Ausruf: "Die Griechen sind große Künstler!" fiel er in Ohnmacht.
13. Auf dem Friedhof. - Strickende Frauen, Kinder spielen zwischen Grabsteinen. Die dörrenden alten Toten.
14. Kindergräber. Vergrabene Mäuse. Wahrscheinlich gebündelt.
15. Ersann Zeremonien für meine Beerdigung.
16. Auf einem Spaziergang mit S. stießen wir auf ein an der Stirnseite aufgeschnittenes Haus. Welche Tragödien haben sich in seinem engen Gewinkel wohl abgespielt? Es ist verblüffend, bemerkte S. ,wie wenig Raum eine Tragödie benötigt... Wie wenig nun wirklich? Welches ist der kleinste Raum für eine Tragödie?
17. Die Mühe des Schauspielers, den Beifall auf sich zu ziehen. indem er die Wellen des Applauses mit ausgebreiteten Armen aufzufangen oder durch eine Handbewegung zum Herzen hin auf sieh zu lenken versucht oder im Gegenteil eine möglichst bescheidene Haltung einnimmt, die der Akklamation den scheinbar geringsten Widerstand entgegensetzt, ist vergeblich. Der Beifall, der eigentlich ihm gilt, trifft nämlich immer die Bühnenarbeiter hinter den Kulissen, wird unansehnlich und verläßt das Haus tres humblement durch die Hintertür.
18. Cabaret und Revue, Stätten einer fernen, geistigen, überpersönlichen Erotik.
19. Analogie zum "Botanischen Theater" Theater der Steine und Mineralien.
20. Drama der fünf Sinne. Das Nasentier, der Augenmensch, der Ohrenschmaus, das Fühlhorn (der Tastlöwe), der Schmeck.
21. Concetto.
Das markgräfliche Opernhaus gleicht. einer Ananas. Ihre eine Hälfte ist die Bühne, ihre andere das Parkett. Orchesterraum: Fruchtboden. -
Die Logen sind die Schuppen der Ananas. Die Zuschauer (Schildläuse) sitzen in den Schuppen. Das Fruchtfleisch ist der vibrierende Raum. -
Die Stiegenhäuser sind die Blätter ihres Schopfes. -
Von außen wird die Frucht von runden weißgekalkten Mauern umgeben, die bar allen Schmuckes in die Höhe streben.
Die Ananas ist eine Scheinfrucht
22. Satanische Landschaft, scheußliche Orgien unter schattigen Kronen.
23. Venedig der Ratten. Richtplätze unter Wasser.
24. Der Hexenwald Die oben verknoteten Wipfel. Die angelnden, schicksalshaften Frauen.
25. The Queen - ein mit kurzen Flügeln schnarrendes Tier.
26. Omnibusse mit großen Facettenaugen.
27. (In Omnibus: Krüppel und nähere Bekannte.)
28. Métro-Station Sèvres-Babylone.
29, Die Schönheit der Jeanne Duval.
30. Die Melasse der Schönheit (unkristallisierter Rohrzucker: Rückstände).
31. Ein Mann namens Christik. Ein auf sich zurückgewendeter Heiland. Ein Christus, der nicht (mehr) gekreuzigt zu werden braucht.
32. Kagerer. Jemand, der so heißt stottert von Natur.
33. Die traurige Figur des Opa S., dem eine Legende den Arm abriß und eine Kneipe das Bein brach.
34. Ich erinnere einen feinen Mann. Er war schlank und alt. Der Mann hieß Heyerhoff und besaß einen langen weißen Zaun zum Anhalten.
35. Student mit wildwuchernden Wangenkoteletten (Turgenjew?).
36. Portrait.
Infantilismus. Klatschsucht. Servilität.
Erzeugung: ehelich, beiläufig, fantasielos, todernst (deutsch).
Kennzeichen: haararm, schweißfüßig, schrumpköpfig, ledern. Dauernde Kopfschmerzen. Überanstrengung. Ausdörrung. Steriler Sexualprotz.
37. Mädchenbild.
Runde kugelige Hüften. Braune Härchen akkurat in die hohe gerundete Stirn. Ein Schäufelchen weißer Zähne. Eine Narbe.
38. Dunkelgrün. Salomonis Siegel. Nasse Baumblätter.
39. Schwarz. Schwarze hautdurchschimmerte Dessous. Schwarz der Fette.
40. Weiß. Das Weiße des Auges oder holunderblütenweiß. Alte Brüsseler Spitzen. Gestrichenes C auf dem Klavier.
41. Braun, kackbraun, tödlich.
42, Jemand schlägt den Stuhl, an dem er sich gestoßen. Tiraden wie: "0 Du gottverfluchtes Ding, 0 Du Saustuhl, Dreckstuhl, 0 Du Hurenstuhl. Ich lecke Dich am Arsch, Dich gottverdammten Scheißstuhl usw. usw."
43. Tauwetter. Verschneite Wälder in Grätenmuster. Die eisblumenartigen Stickereien des Frankenwaldes.
44. Flugkörper aus weißer Wolle.
45. Bunt gewirkte Borte auf einem weißen Wollkleid über dem Busen.
46. Das Verführerische an Dirndlkleidern. Der tiefe Busenausschnitt, die Blenden über den Brustwarzen, das weiße Leibchen, die Wespentaille, das Schößchen, der reifrockartige Rock. Letzter Rest Rokoko.
47. Landschaft der Zungenschleimhaut. Erloschene Krater unter drohend rotem Gewitterhimmel.
48. Menstruation. Der dünne monatliche Weg zurück. Leerer Tage Besinnlichkeit. Venenrote Traurigkeit. Vorsicht!
49.Möglichkeiten der Purgation. Beichte oder Menstruation (Selbstreinigung). Das Weib und der Katholizismus. Das alternde Weib und der Katholizismus.
50. Marianne und ihre bunten Aktphotos, die man in USA den Rasierklingen beilegt. Eiserne Jungfrauen mit eingebauten Rasiermessern.
51. Die mit Stacheln aus Stuhlbeinen bewehrten Tischigel der Nachtcafés.
52. Windgeordnete Löckchen auf der Stirn des Himmels.
53. Das Gehirn des Sommers - Wolken (11.8.).
54. Familien, Arten, Rassen, Individuen von Wolken.
55. Die Schichtungen der Wolken. Entsprechungen der Schichtungen hier. Erweiterung meines Themas.
56. Ein Mädchen mit windgekräuseltem Gesicht.
57. Der Buchstabe Digamma. Eine ruhige Fahne vor einer Reihe wildgewordener Buchstaben,
58. Blühender Holunder in Omelettenteig getaucht.
59. Pannhas. Speise für die ganz Armen aus Wurstsuppe, Blut, Buchweizenmehl und Prophezeiungen.
60. Milch in Satten (gesteckelte Milch). Dies zähe gelbe Dach von fettem Rahm.
61. Trommeln und Milch.
62. Truppen von Salat. Gefechte.
63. In der Gesindestube. Man schäkert über große Entfernungen.
64. Weiße Teller wehen herein. Hinterdrein eine schüchterne weiße Kanne.
65. Die vierte Dimension: Kind einer Geschwisterehe. Bruder Raum, Schwester Zeit.
66. Der sich im Rhythmus von Herzschlägen weitende und zusammenziehende Raum (Erfahrungen eines Landarztes).
67. Die Tätigkeit des Webers hat mich schon immer mit heiliger Scheu erfüllt, denn der Lärm, den sein Stuhl macht, gemahnt an das Donnern des Himmels, - Das Interessanteste an dem, was er macht, ist übrigens stets die Rückseite!
68. Blasen Sie einmal durch die Lenkstange Ihres Fahrrades, - falls Sie eines besitzen!
69. Das böse Klappern eines mit Blechplaketten beschlagenen Spazierstockes.
70. Das feine Geräusch sich schälender Haut an den Schultern.
71. Die glänzend grüne schimmernde Metallstimme.
72. Die Sprache der Flüsse. Die rundkantigen Worte der Felsen.
73. Die blökenden Kühe der Wälder. Ferndonner, Vögel.
74. Die aufgeblasenen Schäfte von Zwiebeln ähneln Plastiken. Der Kopf ist eine Blüte. Seine Gedanken weben über Gras,
75. Mein Großvater griff mit kundiger Hand unter reifende Tomaten. Die waren klein, rund, unkundig.
76. Er legte die Hände in den Nacken, trat an die weißgeformte Schüssel und ließ sich, das Rückgrat durchgedrückt, auslaufen.
77. Er hat ein Gesicht wie ein Trichter. Er hat ein Gesicht wie ein Kerker. Er hat ein Gesicht wie ein haariges Loch.
78. Plastiken aus Sand, Sandel, Sahne, Samen, Samt.
79. Pfanzenziegel.
80. Flügelmutter.
81. Lichtgelenk.
82. Die Vokale sind das Blut der Worte.
83. Die Stadt, Schmuck und Ordnung. Vergleichbar der gefüllten Rose. -
Dörfer: Heckenrosen.
84. Der Garten...
Der Garten ist die Schwester der Stadt.
85. Das Meer. Ein Schulfreund übersetzte den berühmt gewordenen Schrei des xenophonischen Heeres, als es das Meer erblickte, mit: "Tralala, Tralala!"
86. Das Meer im Spiegel.
87.Das Meer? 'ne Kasse!
88. Das Meer spricht - lateinisch (morsum, keitum, eidum etc.).
89. Wenn eine Muschel sprechen könnte, würde sie stottern müssen.
90. Die Verleiherin von Segelschiffchen für Kinder. Die Kühnheit auf dem Karren. Zusammengepferchte Träume. Die verflochtenen Leinen der Sehnsüchte, ein Wald aufrechter Maste von Hoffnung.
91. Die Sonne balancierte das Meer berührend einen gewaltigen Bau von Licht und Farben. Das Meer in seiner abendlichen Bewegtheit steinern, übergossen von trocknem, backsteinrotem Licht. Ein einziger Stern im Widerschein der versunkenen Sonne.
92. Die Wege einer kleinen Insel.
93. Schwänemark und Deden.
94. Maximale Anreicherung (Sättigung) des Gedichts mit Wahrem und Schönem.
95. Aufzucht der reinen (sprachlichen) Mittel - nach Paul Klee.
Die reine Grammatik. Versuche mit Genitiven, Dativen, Akkusativen. Versuche mit den Tempora, den Modi usw. Anwendung nur solcher reinen Mittel.
96. Wörter - lyrische Quanten, lyrische Impulse, pur.
97. Man muß das Wort als DRECK und als HOSTIE behandeln.
98. Buchstaben als Signale (Chiffren und Siglen). Zurückziehen des lyrischen Impulses auf kleinsten Raum. wiederholte Anwendung der selben Chiffre Grundlage für eine quasi algebraische Mitteilung von Lyrik.
99. Organisation von Prosamassen. Komposition auf verschiedene Blickpunkte hin.
100. Die Perle im Austernfleisch. Inkrustierung von Fremdkörpern im Fleisch der Kunst, Inkrustation von Wirklichkeit (Wahrheit) mit Schichten von Schönheit.
101. Vergiß' den Einbau blinder, schlechter und unsauberer Stellen nicht! Auch das sind Qualitäten.
102. Der Leser - ein angepflockter Ochse auf der Weide der Assoziationen. Rückkehr des Ochsen in einer Spirale zum Pflock, an dem wir ihn anbanden. Sein Blöken, wenn er zum Zentrum des Kreises gelangt, weil sich seine Kette allmählich um den Pflock gewickelt hat.
103. Erinnern über die Gegenwart in die Zukunft. Von dort Rückerinnern an die Gegenwart und Vergangenheit. Träumen. -
104. Flugzeuge, die zu Fledermäusen wurden und sich in Eschenalleen und schwarzen Teichen verloren. Dreidecker, Vierdecker, - zerfetzt, zerrostet, aber fliegend.
105. Sie bekam alle Zähne gleichzeitig, aber es waren ihrer zu viele und mußten sich erst aus Zweier- und Dreierreihen in eine durchgehende Linie ordnen.
106. Kretin mit stachlicher Ananasschalenkopfhaut (mitgeteilt vom Gott der Träume und Figurationen).
107. Sah eine Mücke, die dem Hl. Geist glich.
108. Zwei hintereinander liegende Schlangen, die sich gegenseitig verzehrten. Sobald die eine die andere und damit sich selbst sowie die andere gefressen hätte, hätte das Spiel theoretisch von neuem beginnen können, wenn ich nicht aufgewacht wäre. - Endloser Durchgang. -
109. Traumworte: Taureion; Elis.
110. Traumwitz: "Kack de Tid an!"
111. Kindermund: Brüssel - der Welt Rüssel.
112. Der Brustkorb der Heiligen, ein flammender Rost
113. Der Mund ist ein Engel. Er hat vier Flügel.
114. Die Puppe der Kleopatra war von Alabaster.
115. Die mittlere Höhe (Idealität) Oberfrankens.
116. Blei-Tinte: Eindruck schwebender Räumlichkeit.
117. Apercu: Von einem Maler unterscheidet mich, daß ich nicht male. Sonst alles.
118. Archaisches Relief. Regelmäßige Wiederkehr des selben Motivs (Rapport).
119. Maßstab für Größe - die aufgebürdete Last.
120. Der Leib des Menschen, der sich webt und entwebt, gleicht dem delischen Schiff, dessen Teile laufend durch neue ersetzt wurden, das seiner Idee nach aber immer das delische Schiff bleibt, auch wenn keine einzige Planke mehr vom ursprünglichen Schiff herstammt.
121. Der Held: Ragendes Hindernis in der Strömung des Lebens. Unterspülung dieses Hindernisses durch Humor (Shakespeare).
122. Dieser Libellus ist ein Fels, den ein Gestrandeter mit Namen, Daten, Zeichnungen, Reliefs usw. bedeckt, die mit der Zeit zusammenwachsen, sich überlagern und den Stein zu zerfressen drohen, bis das Bild eines hinter den scheinbar zusammenhanglosen Bildern Gemeinten aus dem chaotischen, vielschichtigen Gekritzel hervortritt. In diesem Augenblick wird der Gestrandete gerettet. - (Man kann für Fels übrigens auch Zellenwand und für Gestrandeter Gefangener sagen.)
123. Nach Pascal ist die Liebe Bewegung.
124. Penis. Fuß der Schnecke. Schiebt sich langsam in unversehrte Gebiete der Zukunft.
125. (Die Notizen können fortgesetzt werden)



[aus: Claus Henneberg: Texte und Notizen. Neuwied, Berlin 1962]




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