Ferdinand Freiligrath | An George Scherer. Zu seiner Vermählung mit Marie von Seht.
Stuttgart, 19. Oktober 1871

Es hat der Dichter und Antholog
Gepflückt gar manche Blume;
Gar manche, die er selber zog
Zur Lust sich und zum Ruhme;
Manch' andre auch, aus fremdem Beet
Sinnig erlesen, - er versteht
Sich auf das Blumenlesen.

Das sind die Blumen mannigfalt,
Die fromme Dichter hüten!
Das sind im deutschen Dichterwald
Die Knospen und die Blüten;
Die las er aus zu Kranz und Strauß,
Die trug er still ins deutsche Haus,
Zu aller Deutschen Freude.

Er selber doch blieb freudeleer,
Keine Ruh' war ihm beschieden;
Er irrte hin, er irrte her,
Und hatte keinen Frieden:
"O ihr Blumen rings der Dichterflur,
Hätt' ich sonst eine einz'ge Blume nur -
Die Blume treuer Liebe!"

Er ging ihr nach auf Alp und Au,
Suchte Blätter durch und Gräser,
(Er nimmt's ein wenig sehr genau, -
Er ist ein Blumenleser!)
Manch wackre Blume lacht' ihn an,
Er aber seufzte: "Armer Mann!
Noch immer nicht die Rechte!"

Bis er endlich doch die Rechte sah,
nach langen, bangen Stunden:
Nun bist du mein! Viktoria!
Nun Hab' ich dich gefunden!
Nun halt' ich dich, Marienblum'!"
Sie sprach: "Nimm mich zum Eigentum!" -
Nun kann sein Herz gesunden.

Nun steht er da voll Stolz und Lust,
Ist alles Kummers ledig;
Nun trägt er sie an seiner Brust
Noch heute nach Venedig, -
Kehrt aber bald mir ihr zurück,
Und will zu seinem und ihrem Glück,
Für immer sie behüten! 
 
 

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