Helmut Engisch | Texte zum Bohnenviertel aus den Jahren 1992, 1994 und 2000


Helmut Engisch | Brecht-Akademie im "Brett"
Die wildbewegten Siebziger im Stuttgarter Bohnenviertel

Irgendwann war er einfach da. Hockte am Vierertisch beim Windfang, die dürren Beine übereinandergeklappt, den schmächtigen Oberkörper leicht gekrümmt, einen Ellbogen auf den Oberschenkel gestützt, das Kinn in die Handmulde gepresst. So saß er da und beobachtete mit Interesse, wie sich der Kreis der leeren Schnapsgläser um sein Bierglas allmählich schloss. Neben ihm, auf der blankgeschabten Holzbank, lag sein schäbiges Kollegmäppchen aus schwarzem Kunstleder. Drin steckte die eingerollte Baskenmütze und mancherlei Gedrucktes, auch Handgeschriebenes.

Irgendwann, das wusste jeder, würden sich seine Notizen und Skizzen auf wundersame Weise zu einem Theaterstück fügen. Und alle, die an den Nebentischen um Schnaps und Bier würfelten, alle, die sich zugunsten greifbarer sozialistischer Siege die Köpfe heiß und die Kehlen heiser diskutierten, alle, die blauäugigen Oberschülerinnen von freier Liebe predigten und sich unter Miniröcken annähernd so gut auskannten wie bei Marx und Engels, alle, die sich unterm Tisch verstohlen Haschisch in die Tabaksdose krümelten - sie alle würden von ihm ihren Platz angewiesen bekommen in diesem revolutionären, alle dramaturgischen Grenzen sprengenden Theaterstück. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche oder wie der Verfremdungseffekt bei Brecht.

Ja, beim großen, beim ewig gültigen Brecht, so erzählte er den ungläubigen Studentinnen und Studenten seines nächtlichen Biertischkollegs, habe er gelernt. Doch, doch, damals in Berlin und bei keinem Geringeren als bei Brecht. Entschlossen reckte er sich nach solch wunderbarem Bericht auf aus seiner Verkrümmung, harkte zur Bekräftigung des schier Unfassbaren mit maisgelben Fingern seinen drahtigen Kinnbart. Dennoch glaubten ihm manche nicht. Zu deutlich roch er nach Schnaps. Andere dagegen glaubten ihm blind, denn er roch sehr überzeugend nach Schnaps und auch nach Genie.

An irgendeinem Herbstabend in diesen revolutionsverträumten siebziger Jahren scheuchte er eine Handvoll Auserwählter hinaus aus der Kneipenseligkeit, schob sie in die Straßenbahn Richtung Rohr, trieb sie dort von der Schleife der Endhaltestelle noch weiter bergauf zur Theaterprobe im Jugendheim am Waldrand. "Trommeln in der Nacht" stand auf dem Probeplan. Natürlich Brecht, was sonst. Und Tasso, dem Herrscher über Bierschuld und Kreditsühne im "Brett" war die Hauptrolle zugedacht. Doch glühte der Mond des Probeneifers nur selten rot auf vor dem Auftauchen des Kriegsheimkehrers Kragler. Tasso, der Hoffnungsvolle, tauchte des abends lieber ab in düstere Kaschemmen und wildbewegte Kommunen als sich seinen Ruf als zornigster aller Bohnenviertel-Bohemiens durch stieres Auswendiglernen zu versauen. Martin Pohl rächte sich bitter. Für Wochen verkroch er sich in sein schäbiges Zimmer in einem Wohnheim am Rand von Kornwestheim.

Irgendwann aber hockte er wieder da, am Vierertisch hinterm Windfang, verlangte auf ein Neues nach Schnaps und Theaterbegeisterung. Aus der unergründlichen Tiefe seiner Mappe zog er ein neues Stück. Sein Berliner Gesellenstück. Seine dramaturgische Zulassungsarbeit, mit der er sich bei Brecht den Status des Meisterschülers erschrieben hatte: "Der verwundete Sokrates". Brechts kraftvoll dahinfließende Prosa, in Rede und Gegenrede gestückelt von Martin Pohl. Eine Sensation.

Die Malerin Barbara Schröder ließ vor Begeisterung die Ohrenklappen ihrer rehbraunen Motorradkappe flattern, der Maler Jürgen Leippert sank vor Errregung unter den Tisch, sein Kollege Landsberger kippte sanft gegen die Schulter seiner Tagesmuse, und der Versicherungsagent Müller griff sich entschlossen an den Krawattenknoten. Selbst die unerschütterliche Wirtin Eftoksia spürte in diesem Moment, dass Bedeutendes im Begriff war, sich in ihrer verrauchten und auch ein wenig verruchten Herberge Raum zu schaffen. Geistesgegenwärtig griff sie nach der Ouzo-Flasche, spendierte eine Lokalrunde. Zwar war ihr Verdacht, die jäh wieder aufgeflammte kulturelle Aufbruchstimmung könne sich leicht zu einer Gefahr für ihren Bierumsatz auswachsen, ziemlich abwegig, doch war die Wirtin vom "Brett" klug genug, auch mit Wundern zu rechnen. Jenes Wunder aber, das sich an jenem Abend im "Brett" tatsächlich ereignete, kam ihr durchaus gelegen. Martin Pohls Theaterglut heizte den designierten Bühnenrevolutionären dermaßen ein, dass wenige Stunden später schier Unglaubliches wirklich war: Der Umsatz an Bier und Spirituosen hatte ein neues, zuvor nur schwerlich für möglich gehaltenen Rekordhoch erreicht.

Trotz solch bedeutender Verdienste ist dieser schmächtige und dabei doch so mächtige Begeisterungszauberer dann eines Tages einfach fort. Ohne Abschied, ohne Salut. Und nichts, außer vielleicht einige achtbare Spitzen in den Umsatz-Annalen einer Stuttgarter Brauerei, war geblieben von Martin Pohls dramaturgischer Biertisch-Akademie im "Brett". Er war und blieb verschwunden. Zumindest bis zum Jahr 1992 und bis zum Erscheinen jenes Buches, in dem Heiner Müller autobiographische Rückschau hielt. Dort tauchte dieser Martin Pohl tatsächlich wieder auf. Als Meisterschüler von Brecht. Also doch!

Und so manche Zweifler von einst erhoben nun über den Marmortischen der etwas feineren Bohnenviertel-Bistros zur späten Abbitte die Schampus-Flöte auf den Verschollenen, schwelgten bereitwillig in Ouzo-Nostalgien. Jene, denen seine Reibeisenstimme noch sonderbar vertraut in den Gehörgängen nachklang, waren leichthin bereit, den zehnten Teil ihres Art-Direktoren-Gehalts darauf zu verwetten, dass er längst eingekehrt sei in den niedern Olymp der poetischen Anarchisten. Andere bestanden felsenfest darauf, ihn anlässlich eines Berlinbesuchs in einer Kreuzberger Absinth-Destille entdeckt zu haben, listenreich getarnt als biederer Sozialrentner. Und wieder andere vermuteten ihn in der erbärmlichen Geborgenheit eines psychiatrisch betreuten Seniorenheims, misstrauisch und böse einen deckenhohen Stapel Manuskripte bewachend.

Seine Schauspiel-Eleven vom "Brett" aber spielen längst ihre mehr oder weniger einträglichen Alltagsrollen als Sozialarbeiter, Lehrer oder Hausfrau und sehnen sich dem wohlverdienten Ruhestandsgehalt entgegen. Von Zeit zu Zeit jedoch, wenn sie Trost und Erbauung suchen in den Abenteuer-Landschaften der Erinnerung, schleichen sie wieder an den Ort ihrer unverwüstlichen Träume, ins "Brett". Am Tisch hinterm Windfang ist meist ein Stuhl frei. Der Engel Eftoksia aber ist ausgeflogen.