Helmut Engisch | Balsambüchslein und Bohnengirlanden
Wie die Esslinger Vorstadt in Stuttgart zu ihrem
nahrhaften Namen kam
Welchem von Württembergs geliebten Herren dieses leicht anrüchige, aber weiters kaum peinliche Malheur passiert ist, darf wohl auf immer ein Rätsel bleiben. Irgendwann im Lauf des 17. Jahrhunderts wird es wohl gewesen sein, als die Häuslein entlang der Ringmauer an Rand der Esslinger Vorstadt noch neu und schmuck waren und ein Landesherr auch bei weltläufigen Gästen Eindruck schinden konnte mit diesem großzügig angelegten, freundlichen und gartengrünen Stadtquartier. Vielleicht war’s Herzog Johann Friedrich, der Umgängliche, dem diese Geschichte passiert ist, denn das würde ganz gut passen. Und die Gäste mit ihren gar zu empfindlichen Nasen kamen zu seinem großen "Stahl- und Armbrustschießen", zu dem er anno 1618 nach Stuttgart eingeladen hat. Sicher ist jedenfalls, dass dieser Herzog - welcher es immer auch gewesen sein mag - mit seinem hochherrschaftlichen Besuch durch die Webergasse stadteinwärts ritt. Und als die feine Gesellschaft so richtig mitten drin war im Bohnenviertel, da gewahrte der Herzog, dass sich so mancher Herr die hochwohlgewachsene Nase zuhielt. Der Herzog stutzte nur kurz, denn schwer von Begriff war er nicht. Aufs Fürstlichste amüsiert, deutete er auf die zahlreichen Dunglegen oder Misthäufen links und rechts des Webergässle und sprach: "Seht. ihr Herren, das sind meine Stuttgarter Balsambüchslein!"
Ein bissle anrüchig war die Gegend des Bohnenviertels also nicht erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, als Eugen Dolmetsch, der ausgefuchste Kenner und Liebhaber dieses traditionsreichen Stuttgarter Stadtquartiers, sich ernstlich um das Renommee des Stadtviertels sorgte: "Die Überflutung der altansässigen Bewohner durch Einwanderung von allerhand üblen Geistern drückt den Ruf der Stadtgegend." Also hieß es bald und nicht gerade schmeichelhaft von einem Hauptstadtschwaben, dessen Wiege irgendwo im jenem verwinkelten Bezirk gestanden hatte: "Er ist nicht weit her - er ist vom Bohnenviertel."
Es hatte sich im Lauf der Jahrhunderte der einst makellose Ruf der Esslinger Vorstadt halt im Zwielicht gruschteliger Hinterhöfe verloren. Und die buntgewürfelte Gesellschaft, die dort klebte, lebte und strebte, war nicht durchgängig von hasenreinem Charakter. Aber vielleicht lag das auch nur am Blickwinkel der Betrachter, die einerseits die wein- und vesperseligen Beizle und Wirtschäftle des Bohnenviertels samt ihren echten bis grobschlächtigen Originalen als ein Stück echter Land-Idylle mitten in der Stadt schätzten, andererseits die empfindlichen Nasen rümpften über die Ärmlichkeit und die Undurchschaubarkeit der Verhältnisse. Die Nachkommen der alteingesessenen Wengerter-Dynastien Stöckle, Schwab, Löffel, Bühler, Vögele immerhin hatten sich da schon zurückgezogen aus dem Bohnenviertel-Geviert und zehrten andernorts als wohlhabende Privatiers von ihrem Vermögen, das sie sich durch den Verkauf ihrer Weingärten in Stuttgarter Halbhöhenlage glücklich erworben hatten.
Mit ihren Vätern, Großvätern und Urgroßvätern hatte es das Schicksal so gnädig nicht gemeint. Sie hatten alle Mühe und Not, sich und ihre kinderreichen Familien in Anstand und in schweißumglänzter Ehrbarkeit zu ernähren. Und wenn in so manchem Herbst der Wein auch in Bächen aus ihren Keltern floss, sich am Charlottenplatz die Trester zu Bergen schichteten, nur selten reichte der Segen der Wengert aus, die Großfamilien über das ganze Jahr hin auskömmlich zu nähren.
Also mussten dem Boden an den Hängen des Nesenbachtals noch andere, habhaftere Früchte abgerungen werden. "Die Gemüse-Gärtnerei ist in neurer Zeit beinahe ganz in die Hände der Weingärtner übergegegangen", berichtet die "Beschreibung des Stadtdirektions-Bezirks Stuttgart" im Jahr 1846. "Für die Mehrzahl derselben bildet der Küchen-Garten eine ergiebige Nahrungsquelle, indem auf den hiesigen Märkten auch viele Gemüse für Auswärtige gekauft werden. Während der Mann das eigene oder gepachtete Gütchen baut oder ihm Taglohn arbeitet, ist es die Frau mit ihren Kindern, welche durch unermüdlichen Fleiß, durch starkes Bedüngen und häufiges Begießen dasselbe Stück vier- bis fünfmal des Jahres zum Ertrag bringt." Und auch jeder Quadratmeter der Wengert wurde genützt, um die Produktivität des landwirtschaftlichen Familienbetriebs zu steigern. "Als Nebennutzung werden an leeren Platten Johannisbeeren, Bohnen, Wälschkorn, hie und da Rettige gepflanzt."
Da sind sie also endlich, die Bohnen vom
Bohnenviertel, die einst an Schnüren und in schier unendlichen Girlanden
die Häuser der Esslinger Vorstadt schmückten und dann erst abgehängt
wurden, wenn sie bis auf den Kern knacktrocken und dürr genug waren
für die Vorratskammer. Gut und gehaltvoll genug als Grundnahrungsmittel
für die schwer arbeitenden und dennoch niederen Stände, waren
diese so vielseitig verwendbaren Hülsenfrüchte allemal zu jenen
Zeiten, also noch kein Kartoffelkraut wuchs auf den Äckern der Alten
Welt. Dem Bohnensegen jedenfalls, der an den Häusern der Esslinger-
oder St. Leonhards-Vorstadt prangte und wochenlang im Wind leise raschelte
bis er seinen Wassergehalt restlos eingebüßt hatte, verdankt
das umtriebige Stadtquartier seinen Spitz- oder Übernamen, der heute
noch so frisch, anheimelnd und unverwüstlich ist wie damals, als das
Bohnenviertel in der Pracht seiner Bohnen-Girlanden prangte.