Reinhard Döhl | Nijinski Prospekt / Tagebuch Tanz

Eigentlich sollte und wollte unser gemeinsamer Freund Wil Frenken an dieser Stelle etwas zu der von ihm konzipierten Ausstellung, dem "Nijinski Prospekt" sagen. Aber er ist während der Vorbereitung der Ausstellung so unglücklich gestürzt, daß er für Wochen in die Unbeweglichkeit verbannt wurde.

Wolfgang Ehehalt und ich haben es deshalb übernommen, die eingesandten Beiträge zu sichten, zu rahmen, zu hängen und eine Ausstellung zu eröffnen, in der, durch seinen Unfall bedingt, Wil Frenken zunächst nur symbolisch und Susanne Frenken noch nicht vertreten sein kann. Und wir haben uns zugleich entschieden, die Ausstellung offen zu halten, was heißen soll, daß im Laufe ihrer Dauer sowohl Exponate ausgetauscht wie ihre Präsentation geändert werden können.

Die Galerie bei Buch Julius hatte sich in den letzten Jahren neben der Präsentation ihrer Künstler vor allem konzentriert auf das Vorstellen befreundeter internationaler Künstlergruppen u.a. aus Österreich, der Tschechischen Republik, aus Frankreich oder Japan, u n d auf Projekt-Ausstellungen z.B. zu Velemir Chlebnikov, zu Else Lasker-Schüler oder Gertrude Stein. Und sie hat diese Ausstellungen oft in andere kulturelle Veranstaltungen eingebunden: die "Pariser Skizzenbücher" in die "Wort-für-Wort"-Veranstaltungen "Als Stuttgarter Schule machte", das "Memorial Gertrude Stein" in das Internet-Projekt "Epitaph Gertrude Stein" oder den heutigen "Nijinski Prospekt" in das "Stuttgarter Ballett Festival".

Nicht, wie man vielleicht argwöhnen könnte, als kulturelle Trittbrettfahrerei,

- Trittbrettfahren, Dünnbrettbohren und das Brett vorm Kopf sind Stuttgarter Spezialitäten, die wir gerne anderen und der neuen Kulturbürgermeisterei überlassen -

Nicht also als kulturelle Trittbrettfahrerei, sondern erklärbar aus dem Galeriekonzept und den Interessen der beteiligten Künstler, die sich - national und international - meist schon seit den 60er Jahren, den Jahren der Stuttgarter Gruppe/Schule um Max Bense her kennen.

Ich nenne Hans Brög und Barbara Wichelhaus, natürlich die Frenkens, Peter Stobbe, Heinz Hirscher, Wolfgang Ehehalt, Ilse und Pierre Garnier aus Frankreich, Bohumila Grögerová und Josef Hiršal aus Prag, Hiroo Kamimura, Kei und Syun Suzuki aus Japan - und andere, die diesmal nicht mit von der Partie sind.

Thematisch lassen sich diese Projekt-Ausstellungen bei Buch Julius leicht einem Dialog zuordnen, an dem die meisten der genannten Künstler in wechselnden Konstellationen seit den 60er Jahren beteiligt waren, - einem Dialog über die konkrete/visuelle Poesie und ihre Internationalität, über die fließenden Grenzen zwischen Schrift und Bild oder über die Einbeziehung der Medien, der neuen Aufschreibsysteme in die künstlerische Praxis. (Achten Sie z.B. einmal darauf, wieviele der heute ausstellenden Künstler sich und in welchen Formen sie sich der Möglichkeiten der Copyart bedient haben.)

Dieser Dialog ist ferner ablesbar einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins, der Zaum-Poesie Chlebnikovs und der russischen Futuristen, den ästhetischen Theorien Willem Flussers oder mit Viktor Segalens "Ästhetik des Diversen", um hier nur das Wichtigste zu nennen.

Die heutige Ausstellung macht also keine Ausnahme. Zwar ist sie, auf den ersten Blick verblüffend, zunächst in ein Ballett Festival zu Ehren John Crankos eingebunden, also einer Person und einem Kunstbereich zugewiesen, mit dem die bisherigen Ausstellungen und beteiligten Künstler allenfalls am Rande zu tun hatten. Aber ihr Konzept trägt dem Rechnung.

Wil Frenken hat sie eben nicht als Ballettausstellung sondern als "Nijinski Prospekt" konzipiert und damit einem Künstler gewidmet, der berühmt wurde durch seine Interpretation von Claude Debussys "L'Après-midi d'un Faun", einem "Prélude", das wiederum eine musikalische Adaption der berühmten Ekloge Stéphane Mallarmés war, der seinerseits seit Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre im Umfeld der Stuttgarter Gruppe/Schule wegen seiner Livre-Konzeption eine gewichtige Rolle gespielt hat, so zuletzt bei Wil Frenkens "Hommage à Mallarmé" 1980 vor der Freiburger Universitätsbibliothek oder meinem Pariser "Mallarmé Projekt" aus dem Jahre 1990, an dem auch Pierre Garnier zeitweilig beteiligt war.

Pierre Garnier war es auch, der für diese Art übergreifenden künstlerischen Dialogs den Begriff der Konstellation vorschlug, bei Ausstellungen der Galerie von Bense-, Mallarmé- oder Chlebnikov-Konstellationen in eben dieser Reihenfolge gesprochen hat, einer Reihenfolge, der sich in den letzten Wochen dann eine Nijinski-Konstellation angeschlossen hätte.

[Wobei Pierre Garnier die Konstellation als ein Wort begreift, das seit Mallarmé und Velemir [Chlebnikov, R.D.], und auch durch unsere Raumforschung im Mittelpunkt der Poesie stehe und in unserer Poesie schwebe, das heißt einer Poesie des Zeichens, der Sprachelemente, der Sprachurformen und Sprachendformen [Hervorhebungen von mir, R.D.].]

Das bisher Skizzierte macht, hoffe ich, verständlich, daß und warum sich die Künstler der heutigen Ausstellung nicht mono- sondern dialogisch, nicht illustrierend sondern reagierend an die Vorgabe der jetzt erstmals in deutscher Übersetzung vollständig erschienenen Tagebücher des im eigenen Verständnis tanzenden Philosophen Waslaw Nijinski gehalten haben. Nicht also nur die Tagebuchaufzeichnungen "Ich bin ein Philosoph, der fühlt", die Sie selbstverständlich bei Buch Julius kaufen und nachlesen können, sondern auch Waslaw Nijinskis choreografisches Denken und tänzerische Umsetzungen speziell des "Nachmittag[s] eines Fauns" standen zur ästhetischen Disposition und Auseinandersetzung. Wobei es für den Interessierten zu Waslaw Nijinskis legendärer Choreographie selbstverständlich ebenfalls eine gewichtige, inzwischen allerdings vergriffene Dokumentation gab.

Für die Ergebnisse unserer ästhetischen Auseinandersetzungen, die einzelnen Exponate der Ausstellung beschränke ich mich auf Hinweise:

Barbara Wichelhaus' "Nijinski: Ich weiß..., ich weiß..., ich weiß" getitelter Ausstellungsblock geht jeweils von einer Textstelle des Tagebuchs aus, kombiniert sie mit einer (Farb)fotografie im Hintergrund und existentiellen Ausdrucks- bzw. Verhaltensweisen wie Tanz, kindliche Bildsprache etc.

Hans Brög verbindet Textcollage mit Tänzermotiv und Schwänen (also auch mit einem Hinweis auf den konkreten Anlaß dieser Ausstellung, die Präsentation der "Schwanensee"-CD).

Wolfgang Ehehalt verweist mit seinen Portraits über Waslaw Nijinski hinaus einerseits auf John Cranko, dem zu Ehren das "Stuttgarter Ballett Festival" inszeniert wird. Andererseits spielt er mit einem bäuerlichen Tänzerobjekt auf seine Weise auf den Anfang des Schwanensee-Balletts an.

An die Skizzen bzw. Zeichnungen nach Waslaw Nijinskis Choreographie, wie sie uns von Valentine Gross, Ludwig Kainer und anderen zeitgenössischen Künstlern überliefert sind, scheint (bewußt oder unbewußt) Hubert Begasse anzuschließen zu wollen. Während Wjatscheslaw Kuprianow Waslaw Nijinski mit dem "Kopf des Tänzers" ein sehr konzentriertes Poem gewidmet hat, das wir im Keller mit einem Plakat und einer Collage Heinz Hirschers konstelliert haben, die erst gestern um 17Uhr37 von Hirscher eingereicht wurde -

während der in russische Sprachvarianten und -valeurs verliebte Valeri Scherstjanoi mit seinen "Ich in ich" getitelten Arbeiten, von den Tagebüchern Waslaw Nijinskis ausgehend, einen persönlichen Metatext herstellt,

demonstrieren Werner Steinbrechers acht skripturale Blätter in gleichsam automatischem Schreibprozeß auch den geistigen Verfall Waslaw Nijinskis um/nach 1919, wie er sich den Tagebüchern ablesen läßt,

dreht Peter Stobbe das Größenverhältnis von Autor und Text, Individuum und Schrift praktisch um, wenn er eine Figur in fragmentierte Sätze des Tagebuchs einstellt bzw. ihnen unterstellt.

Gleich eine ganze Mappe mit über 40 Arbeiten, die wir leider nur unvollständig zeigen können, hat Wilhelm Tarnow beigesteuert und gestaltet, Arbeiten die in ihrer Folge fast so etwas wie eine Ausstellung in der Ausstellung bilden und deren vielfältige Anspielungen eigentlich einen ausführlicheren Kommentar verdient hätten. Z.B. die Nachbarschaft, in die Tarnow Weltraumfahrt und Ballett, Gagarin und Nijinski bringt, oder die Einschrift Kleist, die natürlich auf den berühmten Aufsatz "Über das Marionettentheater" verweist, oder der Hinweis auf Strawinsky [sic, R.D.] und damit auf ein weiteres wichtiges, wenn auch weniger bekanntes Nijinski-Ballett nach Igor Strawinskis "Sacre du printemps" (1913), ein Ballett, in dem das Fagott [...] die Flöte des "Fauns" ersetzt habe, um hier Pierre Boulez zu zitieren ["La corruption dans les encensoirs", Melos. Zeitschrift für Neue Musik, Oktober 1956]. Genaues Hinsehen ist also bei Wilhelm Tarnows Arbeiten angeraten.

Der japanische Shomeister Kei Suzuki, dessen Tochter übrigens Ballettanz studiert, hat Waslaw Nijinskis Verständnis des Tanzes als Philosophie mit anderen Mitteln zum Anlaß genommen, für die Ausstellung ältere Arbeiten beizusteuern, die zentrale Begriffe japanischer Poesie und Philosophie mit dem Pinsel ausdrücken. Wobei ich hinzufüge, daß Kei Suzuki gesprächsweise die Bewegung des Pinsels beim Schreibakt wiederholt (wenn auch an den Bewegungen des No-Theaters und japanischer Tänzer orientiert) als Tanz bezeichnet hat, der Tiefe haben müsse.

[Schließlich hat Reinhard Döhl sich auf die Mallarmé/Debussy'sche Ekloge konzentriert, einige Faunsgesichter (aus "Der Tod eines Fauns") beigefügt und schlägt darüber hinaus vor, das berühmte Album, das de Meyer aus Fotos von Waslaw Nijinskis legendärer Realisation des "Nachmittag[s] eines Fauns" zusammengestellt hat, endlich ins archaische Mosaik aufzulösen. Das Ziegenballett schließlich möchte einmal spielerisch auf das in der Realisation durch Waslaw Nijinski verkörperte Animalische der Ekloge aber auch, in der Montage, auf Waslaw Nijinskis viel zu wenig bekannte choreographische Partituren verweisen sowie piktografisch die von ihm auf der Ballettbühne eingeführte vierte Wand anspielen. Etcetera.]

Ich kenne mit Ausnahme meines Parts und der Korrespondenz, die Wolfgang Ehehalt und ich in der Tradition unserer "Kunst & Kompostkarten" im Vorfeld der Ausstellung geführt und auch in die Ausstellung integriert haben,

ich kenne den umfassenderen Dialog, die Telefonate, Korrepondenzen und FAXE der beteiligten Künstler mit Wil Frenken bei Vorbereitung und Organisation der Ausstellung nicht und möchte darüber auch nicht spekulieren. Wolfgang Ehehalt und ich vertrauen stattdessen darauf, daß künstlerische Hervorbringungen, wenn man sich ihnen ohne Vorbehalte und im konkreten Fall mit Kenntnis der Tagebücher und der Choreographien Waslaw Nijinskis nähert, daß die heute und hier ausgestellten Exponate durchaus in der Lage sind, für sich selbst zu sprechen, zu zeigen, was auf ihnen drauf und an ihren Künstlern dran ist.

Und weil dies in einer Buchhandlung geschieht, möchte ich abschließend auf einen Aspekt, der in der Ausstellung außer in den Beiträgen Werner Steinbrechers, Peter Stobbes und Barbara Wichelhaus weniger zur Sprache kommt, nämlich auf den Dichter Waslaw Nijinski wenigstens zitierend verweisen:

Ich will ein wenig in Reimen schreiben, aber meine Gedanken sind woanders. Ich will meine Spaziergänge beschreiben.
Ich ging zu Fuß. Ich ging gerne allein spazieren. Ich gehe gern allein spazieren. Ich will allein allein. Du allein und ich allein. Wir allein und ihr allein.
Ich will schreiben schreiben. Ich will sagen sagen.
Ich will sagen sagen, ich will schreiben schreiben.
Warum soll man nicht in Reimen sprechen, wenn man in Reimen sprechen kann. Ich bin Reim Reim Rifma Rif. Ich will Rifma Rif Narif. Du bist Rif, ich bin Narif. Wir sind Rif du Rif wir Rif. Du bist Gott und ich bin er. Wir sind wir und ihr seid sie.
Ich will sagen sagen, daß du schlafen willst und schlafen.
Ich will schreiben und will schlafen.
Du willst schlafen nicht und schreiben.
Ich will schreiben schreiben schreiben.
Du du schreibst und schreibst und schreibst.
Ich will sagen sagen dir
Was nicht sein darf ist nelsjá.
Ich nelsjá nelsjá nelsjá.
Du du ljá du ljá lja gá
Ljá ga ljá ga ljá gu ljá ga
Gá lja gá lja ljá gu ljá.
Ich will sagen sagen dir, daß man schreiben darf nicht dir. Ich schreib dir ich schreibe dir. Ich sag dir ich sage dir. Ich will schreiben ich will schreiben. Will nicht schlafen ich will kacken.
Ich will daß du wärst schon fort.
Ich will daß du wärst schon fort.
Du bist fort und ich bin fort.
Wir sind fort und ihr seid fort.
Du willst nicht spazieren dort.
Ich will nicht spazieren dort.
Gúlja gulja gulja ljá lja
Lja gu lja gu lja gu ljá.
Du bist ghú lja gu lja gú.
Du bist gu gu gu gu gú.
Gu gu gu gu gu gu gú.
Ich will sagen daß du schlafen
Ich will sagen daß du schlafen
Du nicht schlafen willst mit mir
Du nicht schlafen willst mit mir.
Ich mit dir und du mit mir.
Ich mit dir und du mit mir.
Wir sind ihr ihr seid in mir.
Ich ich will mit dir mit dir.
Du du willst mit mir bist Er.
Ich bin Er du bist in mir.
Wir sind ihr und sie sind Du.
Du du du du du du du.
[...]

Es wäre bestimmt ein interessantes Experiment, dieses und andere Gedichte Waslaw Nijinskis einmal choreographisch zu interpretieren. Aber das wäre zugleich eine andere Geschichte.

[Zur Ausstellungseröffnung in der Galerie Buch Julius am 11.10.1997]