Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet | Leinardi
Reinhard Döhl | Kreis und Ellipse

Einem oberflächlichen Betrachter wird beim flüchtigen Durchmustern der in dieser Ausstellung gezeigten kleinen Aquarelle und größeren Acrylbilder vielleicht der Eindruck entstehen, es sei eigentlich wenig, was auf ihnen gezeigt werde. Es sei nichts drauf auf ihnen. Sie seien dürftig.

Diesem oberflächlichen Betrachter hat der französische Künstler und Schriftsteller Michel Seuphor entgegengehalten, Ermanno Leinardi sei einer jener Maler, die in zunehmender Zahl verstanden hätten, "!daß es die Dürftigkeit der Mittel" sei, "die die allergrößte Originalität im Bereich der bildenden Künste" erlaube. (l) "Auf einem weißen Blatt" - pointiert es Seuphor - "kann man Vieles mit fast Nichts erreichen." Aber reicht das zur Erklärung der ausgestellten Aquarelle und Acrylbilder aus? Sollte ein Verstehen, eine Annäherung an die Arbeiten Ermanno Leinardis nicht auf anderem Wege, vor allem genauer möglich sein?

Ermanno Leinardis Arbeiten sind in der Tat weit von einer Malerei entfernt, die auf ihren Bildern Geschichten erzählte, auch heute wieder erzählt. Sie beziehen in der Auseinandersetzung mit dieser Malerei eine radikale Gegenposition. Dabei meine ich, wenn ich von Auseinandersetzung spreche, gleichzeitig die Geschichte dieser Auseinandersetzung mit, die deutlich um 1910 beginnt. Um was es in dieser Auseinandersetzung unter anderem ging, beschreibt Otto Flake an einem Beispiel recht amüsant in seinem Schlüsselroman über den Züricher Dadaismus, "Nein und ja". Er gibt dort eine Diskussion über die Arbeiten eines jungen Malers wieder.

"Die Bilder, die mein Freund malt, denn er ist Maler", schreibt Flake, "beziehn sich nicht mehr auf das, was abzumalen überflüssig ist, weil es ja schon existiert. Hängen Sie seine Bilder an die Wand, suchen Sie umsonst Kuh und Nymphe darauf. Halten Sie sich für bedeutender, ernster, weil Sie von dreißig bis siebzig unermüdlich Spargel und Mädchen malen? Ist das eine männliche Beschäftigung? Spargel und Mädchen haben einen ganz anderen Zweck, als in Ihrem Öl aufzuerstehen - gegessen und beschlafen zu werden." (2) Dagegen seien die Bilder des jungen Freundes, und damit liefert Flake zugleich mein erstes Stichwort, dagegen seien die Bilder des jungen Freundes "anmaßungslos", "ohne das bedeutsame Mundzusammenkneifen", wollten sie "nichts sein als Spiel".

Das gilt in einer ersten Annäherung auch für alle mir bekannten Arbeiten Ermanno Leinardis. Sie sind Spiel, ästhetisches Spiel in einem bestimmten Sinne. Spielerische Annäherung und Durchmusterung eines Themas, von dem noch zu sprechen sein wird. Wir Deutschen tun uns immer ein wenig schwer mit dem Spielen, es sei denn, wir spielten Monopoly, Mensch-ärgere-dich-nicht oder Karten. Das betreiben wir dann gerne mit tierischem Ernst. Genau diesen Ernst aber sollte der Betrachter der Arbeiten Ermanno Leinardis draußen lassen. Denn Ermanno Leinardi spielt zum Vergnügen, um eines ästhetischen Gewinns willen. Der Maler Leinardi lädt die Betrachter seiner Bilder zu einem vergnüglichen Spiel ein. Das meint auch Michel Seuphor, wenn er von Bildern spricht, "die für den Geist so fröhlich als für den Blick überraschend" seien.

Spiel wäre also das eine, das zweite Stichwort für eine Annäherung an die hier ausgestellten Arbeiten heißt Reduktion. Reduktion bezeichnet in der Auseinandersetzung der modernen Künste, um die moderne Kunst den Rückzug, die Rückführung der Malerei auf Elementares und Materiales, ihre Elemente und Materialien wie Farbe und Form. Erst in der Rückbesinnung auf sie - ist man überzeugt - werde eine Neubesinnung, ein Neuverständnis der Kunst möglich. Die Reduktion müsse allerdings Witz entwickeln, solle sie nicht langweilig werden.

In diesem Sinne sind die Bilder dieser Ausstellung Beispiele einer "reduzierenden", einer "reduzierten" Malerei. Sie zeigen - wenn ich hier ein wenig verkürzen darf - ein ästhetisches Spiel mit reduzierten Formen, mit Kreis und Ellipse, mit Gerade und Krümmung. Dabei leiten sie ihre Spielregeln aus den Spannungen ab, die sich zwischen scheinbar Widersprüchlichem (Kreis - Linie) ergeben. Ihr Spielwitz besteht darin, daß sie den Kreis gegen die gerade Linie, die Ellipse gegen die gekrümmte Linie und umgekehrt in Spannung setzen, allgemein: daß sie geschlossene und offene Form, Gerade und Krümmung in ein Spannungsverhältnis bringen, daß sie in sich Geschlossenes (den Kreis) gegen in sich Gespanntes (die Ellipse) ausspielen. Ich kann hier nicht eingehen, möchte aber wenigstens hinweisen auf das scheinbar parallele manieristische Problem "Kreis oder Ellipse", des "problematischen" Menschen (der Ellipse, des Mondes) und des "harmonischen" Menschen (des Kreises). Im Verständnis Gustav René Hockes (3) gäbe es dann Arbeiten Leinardis, die versuchen, Manierismus und Klassizismus miteinander in Einklang, ins Gleichgewicht zu bringen, was allgemein das formale Problem Leinardis, also das Ziel seines Spiels zu sein scheint.

Ermanno Leinardi verfährt in diesem Spiel formal streng bei den Bildern, aber auch in flüchtiger Notation bei den Aquarellen, wenn er sich, scheinbar nur so hinskizziert, an sein Thema heranspielt. Diesem Heranspielen entsprechen Bilder, die er "infinito" nennt. Sie stehen auf der einen Seite der Spannungsbreite seiner Malerei, auf deren anderer Seite wir gleichsam definite Bilder wie "Il dondolo", "TS/B 246", "La linea rossa" ausmachen können. Aber - und das führt mich zu einem dritten Stichwort meiner Annäherung an die hier ausgestellten Arbeiten - aber dieses Spiel wird hintersinnig gespielt. Denn hinter einer ersten Wahmehmungsschicht, in der man Kreis, Linie und Krümmung sieht, haben die Arbeiten Leinardis noch eine zweite Spielebene, die sich allerdings erst aufschließt, wenn man Kreis und Ellipse als das liest, was sie auch sind, als Buchstaben.

Das 0 hatte, wie die meisten Buchstaben des Alphabets, ursprünglich Bildqualität, war Teil einer Bilderschrift, deren Bedeutung Gegenständen des täglichen Lebens entsprach. Diese Bildqualität ist in der abstrahierenden Entwicklung der Schrift schon sehr früh in Vergessenheit geraten. Wenn Ermanno Leinardi seinen Bildern in Form der Ellipse, des Kreises jetzt das 0 einschreibt oder einklebt, wenn er derart einen Buchstaben in das formale Wechselspiel einordnet, dann gewinnt er diesem Buchstaben auf neue Weise eine verloren gegangene Bildqualität zurück. Dann sind - so gelesen - seine Bilder auch Schriftbilder.

Auch dies - meine ich - zählt zu den Überraschungen, die der Betrachter der Aquarelle und Bilder Ermanno Leinardis erleben kann, vorausgesetzt: er ist bereit, sich auf die vom Maler vorgeschlagenen Spielregeln einzulassen. Die Spielvielfalt ist erstaunlich groß, der Spielraum mit diesen Hinweisen bei weitem nicht ausgeschritten, etwa an dem Punkt, wo Leinardi die Spielebene der Fläche scheinbar verläßt, wenn er den Kreis, das 0 in die Zeichnung, das Bild eincollagiert und damit ein weiteres Spannungsfeld aufmacht.

Der zu dieser Ausstellung entstandene Siebdruck versucht unter anderem, diesem Aspekt gerecht zu werden. Er steht zugleich für eine Seite der Malerei Leinardis, deren andere das auf dem Plakat reproduzierte Aquarell zeigt. Auf den ersten Blick vielleicht zugänglicher, ist es - grob gesagt - die "romantische" Seite einer Malerei, die aber untrennbar mit ihrer anderen Seite, den "klassisch" strengen Acrylbildern verbunden ist, zu einer ästhetischen Welt, deren Spielregeln und -materialien reduzierte Formen, Kreis und Ellipse, Gerade und Krümmung, Form und Buchstabe, Schrift und Bild heißen, deren Spielsinn im Zusammentreffen von scheinbar Widersprüchlichem, im Erfahren von Spannungen (zum Beispiel zwischen erlebtem und Bildraum) besteht. Keinesfalls glaube ich, daß Leinardi Geschichten erzählt, daß Michel Seuphor recht hat, wenn er schreibt: "Mit großer Anmut und noch mehr Adel aber immer mit Bescheidenheit läßt die gerade Linie das '0' tanzen, und wir wohnen einer Zirkusszene in beschränkten Verhältnissen bei." Dazu ist mir das Spiel, das Leinardi auf seinen Aquarellen und Acrylbildern, streng oder flüchtig, spielt, denn doch zu abstrakt.

[Galerie Geiger Kornwestheim, 3.12.1977. Druck in: Kunst Handwerk Kunst. Kornwestheim: Edition Geiger 1986]

Anmerkungen
1) Dies und die folgenden Seuphor-Zitate nach Michel Seuphor: Ermanno Leinardi. Milano: Scheiwiller 1977, S.11. Arte Moderna ltaliana, Bd. 73.
2) Otto Flake: Nein und Ja. Berlin: Die Schmiede 1923, S.78 f.
3) Die Welt als Labyrinth. Hamburg: Rowohlt 1957, S.133 ff., 190 u. passim.