Möglichkeiten, Umfang und Wurzeln experimenteller Literatur Kunst und Musik im 20. Jahrhundert

Reinhard Döhl | Konkrete Literatur

Als Sprachknochensplitter, die sich für Poesie halten, als Schnickschnack wertete Max Rychner 1960 in "Die Zeit" Eugen Gomringers "33 konstellationen" (1): Sie entstammen einer Kiste, die Lallbrocken enthält, aber auch Wörter, die von den Tischen reicherer Männer in diese Armseligkeit fielen (2). Und während Hugo Friedrich noch 1966 glaubte, daß eine sogenannte 'konkrete Poesie' mit ihrem maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt [...] dank ihrer Sterilität [...] völlig außer Betracht bleiben (3) könne, wußte "Der Spiegel" 1970 bereits von frühen Inflations- und Alterserscheinungen einer neuesten (auch konkret genannten) Lyrik zu berichten, deren Wortmalereien [...] nunmehr auch vom Establishment immer höher eingeschätzt (4) würden, kritisierte die "Stuttgarter Zeitung": Ohne nun an die visuelle Poesie [...] die heutzutage beliebte Sonde der Ideologiekritik anzulegen und zu untersuchen, ob es sich dabei um eine hinter ästhetischer Progression versteckte politische Regression handelt (die Tatsache, daß visuelle Poesie in Diktaturen besonders gut gedeiht, kann man so oder so auslegen!), erscheint mir die hier vorgeführte Manipulation der Sprache schon aus dem Grunde suspekt, als - virtuell - sinnentleerte, auf ihre Zeichenexistenz verwiesene Schriftsymbole jeder Interpretation gegenüber offen sind: allen Beteuerungen zum Trotz ist visuelle Poesie über weite Strecken nichts anderes als geschmäcklerisch-unverbindliche, informationstheoretisch aufgeblähte Wand- oder Bodendekoration, die ästhetische Beschwichtigungsformeln propagiert (5).

Zwischen dieser Kritik und Rychners abschätzigem Schnickschnack liegen genau zehn Jahre, in denen sich eine Literatur in den Vordergrund und in die Diskussion spielte, deren Wurzeln in eine sogenannte Literaturrevolution zurückreichen, deren spezielle Ausprägung in den frühen fünfziger Jahren erfolgte und deren Ende sich mit einigen umfangreichen Anthologien (6) und umfassenden Ausstellungen (7) Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre anzudeuten begann. "Zijn de dagen van de konkrete poezie geteld?" fragte damals denn auch Paul de Vree (8), während Christian Wagenknecht in einem Großteil konkreter Literatur eine letzte Phase der Formgeschichte der Poesie sah, unfruchtbar oder fruchtbar doch nur im eigenen Gebiet: der poetischen Erkundung sprachlicher Sachverhalte (9).

Jeder Versuch, eine sogenannte konkrete Literatur in den Griff zu bekommen, ist vor allem durch drei Umstände erschwert: durch ihre Internationalität, ihre Vielsprachigkeit und eine daraus resultierende Variationsbreite des Selbstverständnisses, durch die Verstreutheit des oft nur schwer zugänglichen Materials und durch eine Vielzahl nicht nur terminologischer Unschärfen und Differenzen.

So begegnen vor und neben der erst relativ spät allgemein gebräuchlichen Bezeichnung "konkrete Literatur" synonym oder nur geringfügig variierend gebraucht Bezeichnungen wie "experimentelle", "elementare", "materiale", "abstrakte", "absolute", "künstliche", "spatialistische", "evidente Literatur" bzw. "Poesie". Immer wieder werden konkrete und visuelle Literatur fast synonym gebraucht, visuelle und akustische Poesie dagegen alternativ unterschieden (10). Angesichts dieses Dilemmas schrieb Hansjörg Schmidthenner schon 1965 resignierend, daß zwar alle Autoren der konkreten Poesie das, was an der Sprache materiell konkret ist, nachdrücklich in die Produktion mit einbezogen wissen wollen, daß sie aber im übrigen sehr oft verschiedene Meinungen vertreten, was - noch oder schon - zur konkreten Poesie zu zählen sei (11).

Geht man von dem in den erstem umfassendenm Anthologien und Ausstellungen überschaubar gemachten Material aus, wäre eine konkrete Literatur seit spätestens 1953 datierbar. Die ersten Jahre erweisen sich dabei wesentlich als Zeit der Theorienbildung mit Öyvind Fahlströms "HÄTILA RAGULPR PÄ FÄTSKLIABEN. manifest för konkret poesie" (1953), mit Eugen Gomringers "vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung" (1955) und schließlich mit Augusto de Campos', Decio Pignataris, Haroldo de Campos' "Plano-Pilôto para Poesia Concreta" (1958) (12). Ihnen folgen bis Mitte der sechziger Jahre zahlreiche weitere Manifeste und theoretische Äußerungen unterschiedlichster Art (13), was fragen läßt, ob eine konkrete Literatur gleichsam nur auf der Folie ihrer Theorien gelesen werden kann.

Dabei differieren von Anfang an die Auffassungen derart, daß bereits die Beantwortung der Frage nach der Bildung des Begriffs "konkrete Literatur" Ermessenssache scheint. Denn entweder hält man sich - wie zumeist geschieht - an die Tatsache, daß Gomringer 1954-58 Sekretär Max Bills an der Hochschule für Gestaltung in Ulm war (14), und schließt sich der Auffassung Helmut Heißenbüttels an: Der Begriff einer konkreten Poesie wurde gebildet in Analogie zur bildenden Kunst, vor allem zur Malerei. Dort löste er sich ab aus den theoretischen Vorstellungen Mondrians, der Stijl-Gruppe und Kandinskys (15). Oder man folgt - wie etwa Bob Cobbing in seinem Versuch über "Concrete sound poetry 195O-1970" (16) - Fahlström, der das Wort konkret [...] mehr im Anschluß an konkrete Musik als an Bildkonkretismus im engeren Sinne verwendet und seine Auffassung des fundamentalen konkreten Prinzips an Pierre Schaeffers "Etude aux chemin de fer", dem ersten Stück konkreter Musik, veranschaulicht:

Schaeffer hatte auf einem Band einige Sekunden Lokomotivengeräusch aufgenommen, war aber nicht damit zufrieden, dieses Geräusch nur an ein anderes zu fügen, obwohl die Zusammenstellung an sich ungewöhnlich wurde. Statt dessen schnitt er ein kleines Fragment des Lokomotivengeräusches heraus und wiederholte dieses Fragment in einer veränderten Tonhöhe: dann zurück zum ersten, dann das zweite usw., damit ein Wechsel entstand. Da erst hatte er geschaffen, er hatte durch die Zerstückelung einen Eingriff gemacht in den Stoff selbst: die Elemente waren nicht neu: aber der neue Zusammenhang, der gebildet war, hatte eine neue Materie gegeben.
Daraus geht hervor, daß, was ich literarische Konkretion nenne, ebensowenig wie die musikalische Konkretion und die Nonfiguration der bildenden Kunst einen Stil hat - teils ist es für den Leser eine Möglichkeit, Wortkunst zu erleben, in erster Linie Poesie - teils für den Poeten eine Befreiung, eine Erlaubniserklärung allen sprachlichen Materials und aller Mittel, es zu bearbeiten. Eine Literatur, die mit diesem Ausgangspunkt geschaffen wurde, steht also weder in Opposition noch in Ähnlichkeitsverhältnis zu Lettrismus, Dadaismus oder Surrealismus (17).

Wenn auch nicht in einem Ähnlichkeitsverhältnis, in Tradition von Dadaismus, Surrealismus und Lettrismus steht eine konkrete Literatur doch, was Fahlström indirekt auch zugesteht, wenn er von der Verwandtschaft des konkret arbeitenden Dichters [...] mit den Formalisten und Sprachknetern aller Zeiten, mit den Griechen, mit Rabelais, Gertrude Stein, Schwitters, Artaud und vielen anderen (18), spricht.

So geht z. B. Kurt Schwitters' i-Theorie Schaeffers Schlüsselerlebnis während seinem Suchen nach einer konkreten Musik voraus. Er habe, schreibt Schwitters 1923 in der sogenannten "Nummer i", dem zweiten Heft seiner Zeitschrift "Merz", den Buchstaben i zur Bezeichnung einer spezialen Gattung von Kunstwerken gewählt, deren Gestaltung so einfach zu sein scheint, wie der einfältigste Buchstabe i. Diese Kunstwerke sind insofern konsequent, als sie im Künstler im Augenblick der künstlerischen Intuition entstehen. Intuition und Schöpfung des Kunstwerkes sind hier dasselbe. Der Künstler erkennt, daß in der ihn umgebenden Welt von Erscheinungsformen irgendeine Einzelheit nur begrenzt und aus ihrem Zusammenhang gerissen zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d. h. ein Rhythmus, der auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden werden kann. [. . .] - Die einzige Tat des Künstlers bei i ist Entformelung durch Begrenzung eines Rhythmus. [. . .] - Wer nun denkt, daß es leicht wäre, ein i zu schaffen, der irrt sich. Es ist viel schwerer, als ein werk durch wertung der Teile zu gestalten, denn die Welt der Erscheinungen wehrt sich dagegen, Kunst zu sein, und selten findet man, wo man nur zuzugreifen braucht, um ein Kunstwerk zu erhalten (19).

Noch deutlicher sind die Beziehungen im Falle des Bildkonkretismus faßbar. Die Manifeste zu einer konkreten Literatur Mitte bis Ende der fünfziger Jahre stimmen weitgehend überein in der Betonung des literarischen Produkts als eines primär sprachlichen Ereignisses, in der angestrebten Ausschließung alles subjektiv Zufälligen, in der Opposition gegen traditionelle Schreib- und Lesegewohnheiten, in der Forderung neuer Schreib- und Leseweisen und schießlich in der Auffassung des literarischen Produkts als eines Gegenstandes zum geistigen Gebrauch.

Vor allem letztere, auf Bill zurückgehende Auffassung gilt allgemein für eine Kunst und ihr Selbstverständnis, die - will man sich an das Epitheton konkret halten - seit spätestens 1930, seit Erscheinen der ersten und einzigen Nummer einer von Theo van Doesburg herausgegebenen Zeitschrift "Art Concret" datieren. Ähnlich wie zahlreiche andere Manifeste der damaligen Zeit formuliert auch das dort programmatisch veröffentlichte Manifest der Konkreten Kunst eigentlich keinen Neuansatz, faßt es vielmehr Teilergebnisse der sogenannten Kunstrevolution zum Programm einer Gruppe zusammen und formuliert als "Die Grundlagen der konkreten Malerei":

1. Die Kunst ist universell.
2. Bevor das Werk in Materie umgesetzt wird, soll es vollständig im Bewußtsein konzipiert und vorgeformt sein. Es darf keine Anlehnung an die Natur enthalten, weder Sinnlichkeit noch Sentimentalität. Wir wollen den Lyrismus, die Dramatik, den Symbolismus usw. ausschließen.
3. Das Bild soll mit rein plastischen Mitteln gestaltet werden, das heißt mit Flächen und Farben. Ein bildnerisches Element bedeutet nur sich selbst; folglich bedeutet das Bild ebenfalls nur sich selbst.
4. Die Bildkonstruktion muß ebenso wie die Elemente, die sie bestimmen, einfach und visuell kontrollierbar sein.
5. Die Technik muß mechanisch sein, das heißt exakt, anti-impressionistisch.
6. Wir wollen die absolute Klarheit. (20)
Es ist relativ leicht, Doesburgs Grundlagen auf eine konkrete Literatur umzumünzen. Dabei könnte es z. B. heißen, daß das Gedicht mit rein sprachmaterialen Mitteln gestaltet werden solle, d. h. mit Worten; daß ein Wort nur sich selbst bedeute; folglich bedeute das Gedicht ebenfalls nur sich selbst. So gelesen findet sich in den theoretischen Äußerungen konkreter Autoren eine Fülle von Entsprechungen, wenn Gomringer z. B. davon spricht, daß mit der konstellation [. . .] etwas in die Welt gesetzt werde, daß sie eine realität an sich und kein gedicht über (21) sei, oder wenn Max Bense konstatiert: Konkrete Poesie ist also bewußte Poesie, oder: Alles Konkrete ist hingegen nur es selbst. Ein Wort, das konkret verstanden werden soll, muß ganz und gar beim Wort genommen werden. Konkret geht jede Kunst vor, die ihr Material so gebraucht, wie es den materiellen Funktionen entspricht, nicht aber, wie es im Sinne von Übertragungsvorstellungen unter Umständen möglich wäre. In gewisser Hinsicht könnte also die 'konkrete' Kunst auch als 'materiale' Kunst aufgefaßt werden (22).

Ob das Epitheton konkret, bezogen auf die bildende Kunst, schon vor 1930 verwendet wurde, ist nicht mit Sicherheit auszumachen, eine solche Verwendung aber durchaus denkbar. Unwahrscheinlich ist dagegen ein so früher Gebrauch der Bezeichnung "konkrete Literatur" bzw. "Poesie", die Gomringer bezeichnenderweise in seinen ersten Manifesten - möglicherweise in Unkenntnis des Fahlströmschen Manifests - noch nicht verwendet, wenn er von der neuen dichtung, von der konstellation als neuer Form literarischer Redeweise spricht. Dennoch gibt hier ein schon vor den ersten Manifesten Fahlströms und Gomringers veröffentlichter retrospektiver Essay Hans Arps, "Kandinsky, le poete" (1951), einige aufschlußreiche Hinweise:

1912 besuchte ich Kandinsky in München. [. . .] Es war die Zeit, da die abstrakte Kunst sich in die konkrete Kunst zu verwandeln begann (23) [. . .]. Kandinsky ist einer der ersten, sicher der erste, der es bewußt unternahm, solche Bilder zu malen und entsprechende Gedichte zu schreiben. [. . .]
Anno Dada wurden im Cabaret Voltaire in Zürich zum ersten Mal Gedichte Kandinskys vorgelesen und mit urweltlichem Gebrüll von den Zuhörern verdankt. Die Dadaisten waren begeisterte Vorkämpfer der konkreten Dichtung. Hugo Ball und Tristan Tzara haben 1916 onomatopoetische Gedichte geschrieben, die wesentlich zur Klärung des konkreten Gedichtes beigetragen haben. Mein Gedichtband "Die Wolkenpumpe" enthält zum größten Teil konkrete Gedichte.
Der Gedichtband Kandinskys, "Klänge", ist eines der außerordentlichen, großen Bücher. [...] Kandinsky hat in diesen Gedichten die seltensten geistigen Versuche unternommen. Er hat aus dem reinen Sein< nie gehörte Schönheiten in diese Welt beschworen. In diesen Gedichten tauchen Wortfolgen und Satzfolgen auf, wie dies bisher in der Dichtung nie geschehen war. [. . .] Durch die Wortfolgen und Satzfolgen dieser Gedichte wird dem Leser das stete Fließen und Werden der Dinge in Erinnerung gebracht, öfters mit dunklem Humor, und, was das Besondere an dem konkreten Gedicht ist, nicht lehrhaft, nicht didaktisch. In einem Gedicht von Goethe wird der Leser poetisch belehrt, daß der Mensch sterben und werden müsse. Kandinsky hingegen stellt den Leser vor ein sterbendes und werdendes Wortbild, vor eine sterbende und werdende Wortfolge, vor einen sterbenden und werdenden Traum (24).
Vieles an diesen nur fragmentarisch zitierten Ausführungen Arps ist interessant und bedürfte einer genaueren Analyse. Für unsere Fragestellung geht es vor allem um die Konfrontation von Goethe- und Kandinsky-Gedicht, von - wie Arp es sieht - poetisch belehrendem Gedicht und sprachlicher Demonstration. Denn als Demonstration möchte auch Heißenbüttel 1961 seine literarischen Arbeiten verstanden wissen: Ich neige in gewisser Weise immer mehr dazu, diese Dinge weder als Gedichte noch als Text zu bezeichnen, sondern als Demonstrationen. Demonstration im Doppelsinn dieses Wortes scheint mir das zu sein, was notwendig ist (25).

Man könnte die von Arp vorgenommene Gegenüberstellung als eine erste (historische) Annäherung an das konkrete Gedicht nehmen und ein wenig vereinfacht sagen, daß in dem gleichen Maße, wie Goethe bei Formulierung seines Symbolbegriffs (26) die symbolische als die eigentlich poetische Redeweise von der allegorischen Redeweise des 17./18. Jahrhunderts abhebt, Arp jetzt das primär sprachliche Ereignis, die sprachliche Demonstration als die eigentlich poetische von der symbolischen Redeweise Goethes und - wie man hinzufügen kann - des 19. Jahrhunderts unterscheidet. Die Gedichte Kandinskys und Arps, der den "Klängen" wesentliche Anregungen verdankt, ständen danach ebenso wie die onomatopoetischen Gedichte Balls und Tzaras am Anfang einer Entwicklung, innerhalb derer nach 1953 dann die Rede von einer konkreten Literatur ist.

Auf was Arp mit seiner Gegenüberstellung zielt, läßt sich mit einer weiteren Gegenüberstellung verdeutlichen, in der Konfrontation von Goethes

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch
mit der sprachlichen Demonstration des Schweigens bei Gomringer:
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen                 schweigen
schweigen schweigen schweigen
schweigen schweigen schweigen
bzw. mit ihrem Gegenteil, mit Friedrich Achleitners sprachlicher Demonstration von Unruhe:
ruh
und
ruh
und
ruh
und
ruh
und ruh und ruh und ruh und
ruh
und
ruh
und
ruh
und
ruh
Mit Recht weist Wagenknecht darauf hin, daß Gomringers Konstellation nicht als eine moderne Version von "Wanderers Nachtlied" verstanden sein will. Kein Rollengedicht, keine Selbstaussprache des lyrischen Ich (Fritz Martini), zeigen die beiden Konstellationen vielmehr, was sie sagen, und sagen, was sie zeigen. In "ruh und" there is a contrast between the meaning of "ruh" [...] and the movement of the rhythm, which speeds up in the horizontal part of the constellation (27),kommentiert Achleitner seinen Text, während Wagenknecht für die Konstellation Gomringers festhält, daß sie sich allein auf der Fläche des bedruckten Papiers ordne. Das Schweigen, von dem hier vierzehnmal die Rede und einmal, emphatisch, nicht die Rede ist, soll weniger als Pause ins Ohr denn als Leerstelle ins Auge fallen (25).

Ein Vergleich der beiden Konstellationen schränkt überdies die Behauptung einer konkreten als einer primär visuellen Poesie (29) stark ein. Denn während Gomringer seinen Text mit Recht der Gruppe der "visuellen konstellationen" zuordnet, verweist im Falle Achleitners die Differenz zwischen Geschriebenem (ruh und) und akustischem Effekt (Unruhe), das Erzeugen von Unruhe durch vertikale und horizontale Addition des Wortes ruh, den Text in die Nähe der "audiovisuellen Gedichte", wie sie Carlo Belloli 1959 theoretisch begründete: what we seek is visual evaluation in semantic structure, a development entirely of spiritual quality in that it represents the unified relationship of word, sound and visuality (30).

Den Schritt weiter in Richtung eines primär akustischen Textes gehen z. B. Cobbing mit einem Zählgedicht der Art

wan
do
tree
fear
fife
seeks
siphon
eat
neighing
den
elephan'
twirl (31)
oder Ernst Jandl mit seinem inzwischen recht populären
schtzngrmm
schtzngrmm
t-t-t-t
t-t-t-t
grrrmmmmm
t-t-t-t
s-------c-------h
tzngrmm
tzngrmm
tzngrrnm
grrrmmmmm
schtzn
schtzn
t-t-t-t
t-t-t-t
schtzngrmm
schtzngrmm
tssssssssssssssssssss
grrt
grrrrrt
grrrrrrrrrt
scht
scht
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
tzngrmm
tzngrmm
t-t-t-t-t-t-t-t-t-t
scht
scht
scht
scht
scht
grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
t-tt
Was in diesem Text geschieht, ist dem Schriftbild leicht abzulesen. Das Wort schützengraben wird auf sein Konsonantenskelett reduziert mit Ausnahme der beiden letzten Konsonanten b und n, die - dialektal bedingt - durch ein doppeltes m ersetzt sind. Dieses Konsonantenskelett wird wiederum in sich zerlegt, in seinen Bestandteilen rhythmisch neu geordnet durch Wiederholungen, Dehnungen, Verstellungen, bis schließlich ein t-tt herausgefiltert wird, was akustisch ja tot assoziiert. Die Wahl des Konsonantenskeletts, seine Anordnung erfolgt eindeutig im Hinblick darauf, was als Schall nachgeahmt werden soll, und zwar abhängig von dem Wort, von dem der Autor ausgeht. Der ästhetische Reiz dieses "Sprechgedichts" (Jandl) ließe sich demnach begründen mit der Ambiguität von vorgegebener Semantik und der Materialität der durchgespielten Konsonanten.

Daß die einleitend zitierte Kritik der "Stuttgarter Zeitung" für diesen Fall nicht sticht, bedarf keiner Erörterung. Als politisch will Heißenbüttel diesen und ähnliche Texte verstanden wissen. Und er versteht sie zugleich als Gedichte:

Es sind Gedichte sogar in einem ganz bestimmt auf Tradition bezogenen Sinn. [...] Jandl bezieht sich auf die Tradition und zieht sich zugleich zurück auf die bloßen Kennmarken des traditionellen Redens. Er zieht sich zurück auf ein sprachliches Rudiment [...], das er am Grunde dessen findet, was in der Über-lieferung Gedicht heißt. Dies Rudiment (mit allem, was sich aus ihm, aus seiner Wortwörtlichkeit erschließen läßt) verarbeitet er zu einem Modell, an dem sich zeigt, wie der Redende (und sein Leser, sein Nachsprecher) sich in der Sprache befindet (32).

Jandls Schützengraben-Gedicht - eine vergleichende Analyse mit August Stramms "Patrouille" und "Sturmangriff" dürfte aufschlußreich sein - ist konsequenterweisde nicht nur gedruckt, sondern auch auf einer Schallplatte produziert (33) und damit in einer Form veröffentlicht, die sich für eine primär akustisch strukturierte konkrete Literatur immer mehr durchzusetzen scheint (34).

Zur Vorgeschichte dieser Texte zählen fraglos die "parole in libertà" der italienischen Futuristen, die "Verse ohne Worte" Hugo Balls, die Lautgedichte der Dadaisten und ihre Entwicklung bis zum lettristischen Gedicht eines Isidor Isou, wovon noch zu sprechen sein wird. Selbst die Gedichte Arps aus "die wolkenpumpe" (1920) lassen sich in dieser Vorgeschichte verstehen, soweit bei ihnen die akustische Dimension vor die semantische tritt. Und nicht von ungefähr nennt Kandinsky seinen Gedichtband ja "Klänge". Damit wären wir zum Ausgangspunkt unseres Exkurses zurückgekehrt.

Die Ansätze einer konkreten Literatur, ihre Wurzeln liegen also augenscheinlich in einer sogenannten Literaturrevolution, genauer: in der literarischen Auseinandersetzung mit einer traditionellen symbolischen Redeweise. Diese Auseinandersetzung führt - wie sich am literarischen Werk Arps sehr schön ablesen läßt (35) - zu Ergebnissen, an die eine konkrete Literatur fast nahtlos anschließen, auf die eine konkrete Literatur folgenreich aufbauen konnte.

Für Arp z. B. erfolgte diese Auseinandersetzung im Sprach- und Wortspiel mit literarischen Requisiten, mit der Umgangssprache, im Verstellen des Sinns in Unsinn, während Franz Mon später für seinen Fall von Querstellen spricht, wenn er nach dem Grund fragt, aus dem heraus der Versuch, nur noch lautlich, nicht mehr bedeutungsvoll zu reden, sinnvoll, ja vielleicht notwendig erscheint. Er erkennt diesen Grund im sprachlosen Zurückgeworfensein ins Schweigen. Er spricht vom "Querstellen" gegen das allzu geläufig gewordene und im Grunde fast nur noch Anonymes und Unbedeutendes sagende Vokabular der sogenannten Umgangssprachen (36).

Für Arp führte die literarische Auseinandersetzung schließlich zur Erprobung neuer sprachlicher Mittel, zum Einsatz neuer syntaktischer Sonderformen, z. B. der Permutation, die Daniel Spoerri, Mon und vor allem Ludwig Harig Ende der fünfziger Jahre jeder auf seine Weise wieder aufgreifen, zum Ansatz neuer Möglichkeiten, im Gedicht zu reden, z. B. in der Konfiguration oder Konstellation. Etwa gleichzeitig mit Entstehen des ersten Gomringerschen Manifests hielt Arp über seine Gedichte um 1930 rückblickend fest:

In diesen Gedichten verwende ich öfters die gleichen Wörter. [...] Ich schrieb Gedichte mit einer beschränkten Anzahl Wörter, die in verschiedenen Konstellationen auftreten. [...] Die Beschränkung in der Zahl der Wörter bedeutet keine Verarmung des Gedichtes, vielmehr wird durch die vereinfachte Darstellung der unendliche Reichtum in der Verteilung, Stellung, Anordnung sichtbar. Auch die typographische Anordnung des Gedichtes war in jener Zeit für mich von großer Wichtigkeit (37).
Genau davon spricht aber auch Gomringer, wenn er die Konstellation als die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung auffaßt; in ihr sind zwei, drei oder mehr, neben oder untereinandergesetzten worten - es werden nicht zu viele sein - eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben. [...] die konstellation ist eine ordnung und zugleich ein spielraum mit festen größen (38).

In "gedichttechnik" schließlich beschreibt er die ihm idealtypische Ein-Wort-Konstellation: ein aufbauprinzip der konstellation [...] ist die unmittelbare wiederholung eines wortes. sie bewirkt die beharrung und momentane konzentration und ein plötzliches bewußtwerden der besonderheit einer bestimmten wortmaterie. [...] um beispielsweise dem deutschen wort schnee< zum bedeutenden ausdruck zu verhelfen, ist es nötig, dieses wort - dieses zeichen - in einer ausgewogenen anzahl und in einer bestimmten typographischen anordnung zu verwenden (39).

Welche Möglichkeiten sich über die relativ geringe Spielbreite der Gomringerschen Ein-Wort-Konstellation hinaus ergäben, wenn man die für ein Wort aufgewendete Buchstabenmenge als Ensemble akustischer oder visueller Partikel auffaßt, soll wenigstens mit Hinweis auf einige Textbeispiele angedeutet werden. So
versucht Jandl das mechanische Ablaufen der Zeit als sprachlichen Prozeß darzustellen, indem er das Wort stunden in st / und / en zerlegt und, mit einem weiteren und verbunden, viermal untereinanderschreibt. Dieser Text hätte seinen Stellenwert ungefähr zwischen Gomringers "schweigen" und Jandls "schtzngrmm", einem akustisch strukturierten Gedicht.

Auf der anderen Seite führt Timm Ulrichs in der Wiederholung aller durch Buchstabenauslassungen möglichen fragmentarischen Schreibweisen des Wortes fragment gleichsam tautologisch das Wort Fragment als Fragment vor, läßt Dom Sylvester Houedard die vier Buchstaben des Wortes news in Wiederholung und verschiedener Schriftgröße über eine Seite gleichsam explodieren, sicherlich auch, um so den Wert und die Bedeutung, die eine auf ständig neue Informationen drängende Zeit den Neuigkeiten beimißt, durch die materiale Auflösung von news, die rein mechanische Vervielfältigung der Buchstaben in Frage zu stellen. Den Weg zum Figurentext, zum in einem wörtlichen Sinne Schrift-Bild geht schließlich Jirí Kolár, wenn er in "Gersaints / Aushängeschild" die Buchstaben z. B. der Namen Albers und Brancusi in der Vervielfältigung zu Albersschen Quadraten bzw. dem Aufriß einer Brancusischen Plastik ordnet, wobei er im letzten Fall sogar noch die Schere zur Konturierung zu Hilfe genommen hat. [Auf das hier vergleichweise interessante Bildgedicht "'Der Kuß', nach Brancusi" von Ernst Jandl sei wenigstens verwiesen.]

Diese Beschränkung auf nur noch wenige Worte und schließlich auf das nur noch aus einem Wort bestehende Gedicht läßt sich als ein Reduktionsprozeß beschreiben, dessen Ansätze sich wiederum in der Literaturrevolution, in der Auseinandersetzung mit einer traditionellen Literatur finden, für die die Kategorie des Inhaltlichen eine wesentliche Bedeutung besaß.

Was Heißenbüttel in diesem Zusammenhang an einem Text Gertrude Steins exemplifiziert - Die Opposition ist aggressiv. Sie reduziert den Inhalt und löst die Form in ihren traditionellen Erscheinungsweisen auf. Sie ist getragen von der Intention einer neuen Sprechmöglichkeit. Diese neue Sprechmöglichkeit wird gesehen in der Rückführung und Rückbesinnung der Sprache auf sich selbst. In dieser Rückbesinnung wird die Frage nach Form und Inhalt gegenstandslos (40) -, ist denn auch ein weiteres wesentliches Indiz konkreter Texte. Von Reduktion auf die Variation eines Modells redet Heißenbüttel in eigener Sache im Zusammenhang der "Kombinationen", und er fordert in der "Achterbahn": Reduktion muß Witz entwickeln.

Bense macht zunächst in seiner "Theorie der Texte" bei Aufzählung der ihm wichtigsten "Textsorten" einen Unterschied zwischen 5. abstrakte und konkrete Texte und 8. reduzierte und komplette Texte, faßt dabei als konkreten Text allerdings nur die "Konstellation" im Sinne Gomringers bzw. das ihr ähnliche "Ideogramm" der Noigandres-Gruppe, während er für die reduzierten und kompletten Texte notiert: Die Verwendung der Ausdrücke 'reduziert' und 'komplett' zur Kennzeichnung von Texten kann sich sowohl auf die semantische wie auf die nicht-semantische Funktion eines Textes beziehen. Man kann in einem Text grammatische und logische Ausdrücke reduzieren, oder man kann mehr oder weniger auf die konkreten Bedeutungsträger (die die Außenwelt eines Textes im Gegensatz zu seiner sprachlichen Eigenwelt geben) verzichten (41). Allerdings sind die von Bense genannten insgesamt zwölf Paare von Textformen keinesfalls ausschließlich gemeint, sie gehen vielmehr z. T. auseinander hervor, können sich bei dem Versuch, Texte zu klassifizieren, z.T. sinnvoll ergänzen.

Auf dem Hintergrund einer allgemeinen sprachlichen Entwicklung möchte Gomringer schließlich seine "Konstellationen" verstanden wissen: unsere sprachen finden sich auf dem weg der formalen vereinfachung. es bilden sich reduzierte, knappe formen. oft geht der inhalt eines satzes in einen einwort-begriff über, oft werden längere ausführungen in form kleiner buchstabengruppen dargestellt. es zeigt sich auch die tendenz, viele sprachen durch einige wemige, allgemeingültige zu ersetzen.

Man könnte eine Ausstellung oder Anthologie konkreter Texte so anordnen [und ich habe dies auch zweimal in Zürich und Stuttgart versucht (43)], daß die Zahl der für einen Text aufgewendeten Wörter immer mehr abnimmt, bis der Text schließlich nur noch aus einem Wort besteht; ja man könnte diesen Reduktionsvorgang noch jenseits des Wortes an möglichen sinnfälligen Silben- oder gar nur noch Buchstabenkonstellationen zeigen. Man würde auf diese Weise rein mechanisch eine Tendenz konkreter Literatur sichtbar machen, deren Ansätze zu sehen wären im Ausbrechen aus der Strophen- und Versstruktur des traditionellen Gedichts und schließlich sogar aus der traditionellen Vonlinksnachrechts-Abfolge des Textes. Auf Arno Holz' Achsenkomposition der Phantasus-Gedichte, seine Definition der Zeile als der letzten Einheit seiner Rhythmik (im Gegensatz zu (Versfuß/ Metrik), auf Stephane Mallarmés "Un Coup de Dés" beruft sich denn auch Gomringer bei Aufzählung der Vorgänger in seinem Manifest "vom vers zur konstellation", dessen Motto rien n'aura lieu / excepté / peut-être / une constellation unvollständig dem Gedicht Mallarmes entlehnt ist (RIEN / N'AURA EU LIEU / QUE LE LIEU / EXCEPTÉ / PEUT-ÊTRE / UNE CONSTELLATION). Gomringer bezieht sich des weiteren auf den italienischen Futurismus und (Zürcher) Dadaismus, und damit auf eine Entwicklung, die mit Gustave Kahns "vers libre", Marinettis "parole in libertà" und Balls Konsequenzen in wesentlichen Punkten skizziert wäre:

Mit der Preisgabe des Satzes dem Wort zuliebe begann resolut der Kreis um Marinetti mit den "parole in libertà". Sie nahmen das Wort aus dem gedankenlos und automatisch ihm zuerteilten Satzrahmen (dem Weltbilde) heraus, nährten die ausgezehrte Großstadtvokabel mit Licht und Luft, gaben ihr Wärme, Bewegung und ihre ursprünglich unbekümmerte Freiheit wieder. Wir andern gingen noch einen Schritt weiter. Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen. Und seltsam: die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen n e u e n Satz, der von keinerlei konventionellem Sinn bedingt und gebunden war. An hundert Gedanken zugleich anstreifend, ohne sie namhaft zu machen, ließ dieser Satz das urtümlich spielende, aber versunkene, irrationale Wesen des Hörers erklingen; weckte und bestärkte er die untersten Schichten der Erinnerung.
Auf den Versuch, der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung [...] zu verleihen, auf die Überzeugung, das Wort mit Kräften und Energien geladen zu haben, die uns den evangelischen Begriff des "Wortes" (logos) als eines magischen Komplexbildes wieder entdecken ließen (44) zielt Gomringer unter anderem, wenn er die Überzeugung äußert, daß die weltanschauliche begründung und der ausdruckswille, der hinter dieser dichtung steht, [...] uns nicht mehr zugehörig (45) seien.

Aber wie weit ist Gomringer von Mallarmé - für den Carl Einstein festgehalten hat, es sei ihm um den schwierigen Punkt gegangen, wo die Sprache sich durch Fixiertsein allein rechtfertigen kann, durch den Gegensatz des geschriebenen Schwarz und des unerschlossenen Weiß des Papiers (46) - entfernt? Er entlehnt ihm, wenn auch bezeichnend verkürzt, das Motto seines Manifests. Er nennt die Konstellation das letztmögliche absolute gedicht. Seiner Auffassung, die Konstellation umfasse eine gruppe von worten, wie sie eine gruppe von sternen umfaßt und zum sternbild wird, läßt sich eine Passage aus "Un Coup de Dés" vergleichen: vers / ce doit être / le Septentrion aussi Nord / UNE CONSTELLATION / froide d'oubli et de désuétude / pas tant / qu'elle n'énumère / sur quelque surface vacante et supérieure / le heurt successif / sidéralement / d'un compte total en formation (47). Und die Analyse einer der neben "schweigen" bekannteren Konstellationen Gomringers,

das schwarze geheimnis
ist                           hier
hier                           ist
das schwarze geheimnis
wird Formulierungen Mallarmés berücksichtigen müssen wie l'alphabet des astres, seul, ainsi s'indique, ébauché ou interrompu; l'homme poursuit noir sur blanc; avec le rien de mystère, indispensable, qui demeure, exprimé, quelque peu; comme un vol recueilli mais prêt à s'élargir [...] feuille fermée, contienne un secret, le silence y demeure; l'ombre éparse en noirs caractères (48) u.a.m.

Es muß einer umfangreicheren Analyse vorbehalten bleiben, diese Tradition genauer zu beschreiben. Dabei wird man auch an Bilder der geometrisch-konkreten Kunst denken müssen, etwa an die Meditationstafeln, Mandalas, Wegweiser Sophie Taeubers und Arps, die in die Weite, in die Tiefe, in die Unendlichkeit zeigen (49) sollten, speziell an Malewitschs schwarze und weiße Quadrate der suprematistischen Phase. Looking at this poem, merkt Haroldo de Campos dem ersten japanischen konkreten Text Kitasono Katues, "tanchona kukan" (1957), an, I remember Malevich's "White on White" painting and Albers' "Homage to the Square" series (50).

Versteht man Weiß als Anwesenheit und Schwarz als Abwesenheit aller Farben, könnte man, ausgehend von Katues "tanchona kukan", den zitierten Text Gomringers, manche "zeichen" Heinz Gappmayrs, einzelne "ideogramme" Claus Bremers, die "textlabyrinthe" Franz Mons als Gruppe subsumieren, die durch ein Interesse der Autoren an Ab- bzw. Anwesenheit der Sprache wesentlich charakterisiert wäre, wobei eine gewisse Neigung zu Sprachmystik, eine gelegentlich naiv-mystische Scheu vor Druckerschwärze sicherlich mit hineinspielt.

Angefangen beim z, kommentiert Bremer eines seiner ideogramme, wird Zeile für Zeile, die jeweils das ganze Alphabet enthält, ein Buchstabe mehr übereinandergeschrieben. So enthält schließlich ein Fleck Dunkel alle unsere Ausdruckmöglichkeiten (51).

Noch in diesem Zusammenhang zu lesen ist auch Mons Begründung der labyrinthischen Darstellung des Textes: je konsequenter ein text aufgebaut ist, desto dringlicher wird das bedürfnis nach seiner labyrinthischen darstellung, nicht um seine struktur zu durchlöchern, sondern um ihre intensität erfahrbar zu machen und zu manifestieren, daß die klarste textentwicklung auf einem grund von unabsehbaren möglichkeiten entspringt (52).

Und in noch einem Punkte ist Mallarmé, der seinen Zeitgenossen vorwarf, sie könnten nicht lesen, es sei denn die Zeitung, für Gomringer 'entwicklungsgeschichtlich' bedeutend, in dem Versuch, durch komplizierte typographische anordnungen das einzelne wort aus der einebnenden syntax zu lösen und ihm [...] eigengewicht und [...] individualität zu geben (53). Marie-Louise Erlenmeyer hat die syntaktischen Voraussetzungen dieses für "Ein Würfelwurf" notwendigen nichtlinearen mehrschichtigen Lesens beschrieben:

Wichtig für die verschiedenen Lesemöglichkeiten des Würfelwurfs ist, was Diderots Enzyclopädie, bezugnehmend auf die uneinheitliche Anwendung des Dativs, sagt: "Die Tatwörter regieren nichts. Es gibt nur die Sicht des Geistes, die Grund ist für die verschiedenen Inflexionen, die man den Dingwörtern gibt, die im Rapport stehen zum Tatwort." Daß Subjekt und Objekt im Französischen unter sich austauschbar, also nicht unterschieden sind, außer durch eine festgelegte Folge im Satzgefüge, ist für die Möglichkeiten in Mallarmés dichterischem Denken und Gestalten von größter Tragweite und gibt in der abendländischen Sprach- und Denkstruktur von Handelnden und Duldenden die Freiheit einer hin- und herschwingenden Vertauschbarkeit der Kräfte. In diesem Sinne hebt Mallarmé durch die Technik seiner Inversionen auch die festgelegte Folge innerhalb des Satzes auf (54).

Dennoch löst Mallarmé das Gefüge der vorgegebenen Syntax nicht auf. Er macht vielmehr durch die typovisuelle Erweiterung dieses Gefüge noch einmal handhabbar und funktionabel. Darauf bezogen erscheint die inhaltlich reduzierte Konstellation Gomringers, in der neben- oder untereinandergesetzten worten [...] eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben ist, die eine ordnung und zugleich einen spielraum mit festen größen darstellt, in der erst die inversion zu einer bewegenden größe, zu einem problem (55) wird, sogar relativ traditionell, gemessen an anderen Beispielen konkreter Literatur. Dennoch geht beidem die aus Mißtrauen in das grammatische Schema der Unterscheidung von Subjekt, Objekt und Prädikat (Heißenbüttel) resultierende aggressive Zerstörung der Syntax durch die italienischen Futuristen voraus.

Ich saß im Flugzeug auf dem Benzintank und wärmte meinen Bauch am Kopf des Fliegers, da fühlte ich die lächerliche Leere der alten, von HOMER ererbten Syntax. Stürmisches Bedürfnis, die Worte zu befreien, sie aus dem Gefängnis des lateinischen Satzbaus zu ziehen (55). So leitet Marinetti recht anekdotisch sein "Manifesto tecnico della letteratura futurista" ein. Konnte Mallarmé im Vorwort zu "Ein Würfelwurf" noch von Teilnahme seines Versuchs [...] an den unserer Zeit eigenen und ihr wertvoll erscheinenden Vorstößen zum freien Vers und der Prosadichtung sprechen, fordert Marinetti jetzt: Nach dem freien Vers, nun endlich DIE BEFREITEN WORTE!

Wenn Gomringer in seinem Manifest die Konstellation gegen eine Dichtung des individualistischen ausdrucks, gegen Stimmungsdichtung abhebt, so findet sich dies bereits als Ablehnung einer poesie personelle bei Lautreamont (Reprenons le fil indestructible de la poésie impersonelle), als Forderung im Technischen Manifest: MAN MUSS DAS 'ICH' IN DER LITERATUR ZERSTÖREN, das heißt die ganze Psychologie (57).

Die für die Folgezeit und die Entwicklung einer konkreten Literatur wichtigsten Forderungen des Technischen Manifests werden gleich zu Anfang gestellt:

1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERATEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN [...].
3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN [...].
4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN [...].
5. JEDES SUBSTANTIV MUSS SEIN DOPPEL HABEN [...].
6. AUCH DIE ZEICHENSETZUNG MUSS ABGESCHAFFT WERDEN. [...] (58).
Diesen Forderungen folgt bald die Praxis, zunächst durchaus noch in der traditionellen zeiligen Vonlinksnachrechts-Abfolge im Versuch, durch Wechsel der Typen und unterschiedliche Spatien so etwas wie eine neue 'syntaktische Ordnung' herzustellen ("Battaglia / peso + odore"). Doch brechen Ardengo Soffici ("Bif§zf + 18. Chimismi lirici", 1915) und Marinetti ("Les mots en liberté futuriste" 1919) den Text bald endgültig aus seiner traditionellen Erscheinungsform.

In den "Wörtern in Freiheit", beschreibt Heißenbüttel die auf diesem Wege entstehenden Leseflächen, wird zum erstenmal radikal das geordnete Schriftbild aufgegeben. Die visuelle Form der Sprache wird aus den Schemata der Druck- und Lesepraxis herausgenommen und in einem gleichsam bildhaften Aufbau neu zusammengesetzt. Dabei verfährt diese neue Konstellation der vokabulären Sprachelemente durchaus selbstherrlich. Eine dem visuellen Kompositionsbild entsprechende akustische Form (die versucht und durchgeführt wurde) geht nicht zwingend aus diesem Bild hervor (59).

Eine strikte Trennung zwischen "Seh-" und "Hörtexten" (Ferdinand Kriwet), zwischen "akustischer" und "optischer Erscheinungsweise" der Worte (Gerhard Rühm), zwischen dem visuellen und akustischen Text der konkreten Literatur erfolgt erst durch die von Ball, Raoul Hausmann und Schwitters gezogenen Konsequenzen. Die Futuristen, der ihnen in manchem nahestehende Guillaume Apollinaire vollziehen sie noch nicht. Im Gegenteil betont Marinetti unsere natürliche Tendenz zur Klangmalerei. Es tut nichts, wenn das entstellte Wort zweideutig wird. Es wird sich den klangmalerischen Akkorden oder Geräuschbündeln vermählen und uns gestatten, bald zum klangmalerischen psychischen Akkord zu gelangen, dem sonoren, aber abstrakten Ausdruck einer Emotion oder eines reinen Gedankens (60). Anders als Heißenbüttel sieht so auch Dietrich Mahlow die Leseflächen der Futuristen: Die meisten Zeilen sind Geräusche, wie Stellen aus einem Lautgedicht der Dadaisten. [...] Die Bewegung des Sprechens, dazu die Lautstärken, vom Schrei bis zum Murmeln, werden sichtbar (61). Und für Apollinaires bekanntes "il pleut" läßt sich schließlich ein ausgesprochen auditives Vokabular beobachten.

Wie immer dem sei, sowohl der visuelle wie der akustische Text lassen sich von den parole in libertà< herleiten. Für den visuellen Text ist dabei zum einen von Bedeutung, daß die Forderung der Zerstörung der Syntax dazu geführt hat, der Typographie jetzt gleichsam Rolle und Funktion der traditionellen Syntax, wenigstens zum Teil, zuzuweisen, sozusagen eine typographische Syntax einzuführen. Zum anderen steht die von Gomringer, der Noigandres-Gruppe u.a. wiederholt bekundete Absicht, alles metaphorische Ungefähr zu vermeiden bzw. auszuschließen, am Ende eines von den Futuristen, von Apollinaire eingeleiteten Prozesses, zu dessen Beginn Marinetti z. B. die Unterdrückung der Redewendungen wie, gleich, so, wie, ähnlich verlangt und fordert, in der Sprache abzuschaffen, was sie an Bild-Klischees und farblosen Metaphern enthält (62). Apollinaires von der konkreten Literatur häufig als Beleg zitiertes "il pleut" liest sich dabei durchaus noch in der Tradition einer symbolischen Bildersprache, was allerdings ein wenig dadurch verdeckt wird, daß er das traditionelle lyrische Requisit Regen typographisch wörtlich nimmt, gleichsam ins Typogramm veräußerlicht. Im gezielten Einsatz umgangssprachlicher Versatzstücke zeigen andere "Calligrammes" Apollinaires eine immer weitergehende Abkehr von einer symbolischen Bildersprache und deuten damit eine Entwicklung an, innerhalb derer es schließlich zu einer für die konkrete Literatur kennzeichnenden Ersetzung des traditionellen literarischen Bildes durch das typographische Bild kommt.

Die Vielfalt der Möglichkeiten ist heute sichtbar in einer Fächerung von fast tautologischer Deckung von Text und Figur, etwa bei den zitierten Albers- und Brancusi-Portraits Kolárs, bis zum gewollten Widerspruch zwischen Bild und Text, wenn Bremer z. B. Christusworte in die Figur eines mit aufgepflanztem Bajonett angreifenden Soldaten einschreibt und kommentiert:

Kein eigener, kein Hippie-Text. Sondern Christusworte in einer katholischen Übersetzung, vorgefunden wie die Form. Kunst zeigt sich, finde ich, im Umgang mit Gegebenem. Die sichtliche Montage von Gewohntem macht Gewohntes zu Ungewohntem. Im Schriftbild, das hier getrennt ist, macht die Schrift das Bild fragwürdig und das Bild die Schrift. Die Tatsache, daß der Inhalt hinter die Form ein Fragezeichen setzt und die Form hinter den Inhalt, lädt den Leser zur Stellungnahme ein (63).
Apollinaire hat seine ersten vier Figurengedichte als "Ideogrammes lyriques" veröffentlicht und dabei möglicherweise an die Figurata des Barock gedacht. Er hat damit aber auch einem folgenreichen Irrtum Vorschub geleistet, aus dem heraus z. B. Houedard in seiner "Between Poetry and Painting Chronology" (64) eine kontinuierliche Geschichte des visuellen Textes bis zu den Figurgedichten der Bukoliker und Alexandriner zu rekonstruieren versucht. Gewiß begegnet eine Tendenz zur figuralen Textdarstellung innerhalb der Literaturgeschichte in Abständen immer wieder. Doch ist ihre Begründung jeweils so verschieden, daß eine Chronologie, die einen historischen Prozeß vorgibt, wo es sich höchstens um vergleichbare Tendenzen handelt, verfehlt erscheinen muß. Gerade das, was etwa die barocken Figurata auszeichnete, wohlgeordnete Waagrechte und vollständige Verszeilen (Alfred Liede), Vonlinksnach-rechts-Abfolge des Textes, Einhalten von Strophen-, Vers- und Satzstruktur, mußte ja vor den Leseflächen der Futuristen, den "Calligrammes" Apollinaires, den visuellen Texten einer konkreten Literatur erst in Frage gestellt und aufgelöst werden. Da die konkrete Literatur keine Verse kenne und gerade hier auch noch auf Sätze verzichtet, beschreibt Wagenknecht diesen Tatbestand, können sich ihre Figuren nicht aus dieser oder jener metrischen oder syntaktischen Ordnung des sprachlichen Materials ergeben. Die einzig wirksame Ordnung ist der figurale Zusammenhang selbst. Während also das barocke Figurgedicht auch im gewöhnlichen Druck ein Gedicht bilde, ja in gewissen Fällen selbst beim bloßen Hören noch als Bildgedicht erkennbar bleibe, fiele jedes ähnliche Werk konkreter Dichtung in sich zusammen, wenn ihm der Halt seiner typographischen Organisation genommen würde. Der konkrete Dichter gebe die konventionellen Ordnungsschemata der Sprache und Dichtung auf - um zu erproben, ob sich nicht schon die Elemente beider, die Wörter, auf der frei verfügbaren Fläche des Papiers dergestalt wiederholen, versetzen und verbinden lassen, daß die von ihnen bezeichneten Gegenstände unmittelbar zur Anschauung kommen. Der Autor konkreter Texte dichtet also gewissermaßen nicht in der Fläche, sondern aus ihr heraus (65).

Ebenfalls von den "parole in libertà" läßt sich auch der allerdings von Wagenknecht und vielen anderen im Zusammenhang einer konkreten Literatur nicht oder kaum behandelte akustische Text herleiten, jedoch insofern nur indirekt, als sich Balls "Verse ohne Worte" als eine Konsequenz der "Wörter in Freiheit" zeigen lassen. Man kann den Weg zu den "Versen ohne Worte", der sicherlich durch die Situation des "Cabaret Voltaire", dessen Mitarbeiter einer den andern stets durch Verschärfung der Forderungen und der Akzente zu überbieten suchte, mit bestimmt wurde, an Hand der Tagebücher Balls leicht verfolgen und mit drei kurzen Zitaten beschreiben:

1. Mit der Preisgabe des Satzes dem Wort zuliebe begann resolut der Kreis um Marinetti mit den "parole in liberta".
2. Wir anderen gingen noch einen Schritt weiter. Wir suchten der isolierten Vokabel die Fülle einer Beschwörung, die Glut eines Gestirns zu verleihen.
3. Man ziehe sich in die innerste Alchemie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk. (66)
Das ist etwas anderes als die zeitlich davorliegenden Versuche einer künstlichen Sprachfindung, sprachlicher Weltflucht bei Stefan George oder Else Lasker-Schüler, als das unsinnige Sprachspiel bei Paul Scheerbarth oder Christian Morgenstern.

Zwar lassen sich Balls "Klanggedichte" - die übrigens auch in der Tradition des onomatopoetischen Gedichts als dessen reduzierteste Form gelesen werden können - ähnlich wie die entsprechenden Versuche Georges oder Else Lasker-Schülers auch als Schutzwehr gegen das gewöhnliche Leben (Novalis) interpretieren, aber Ball wehrt sich - anders als George oder Lasker-Schüler - zugleich gegen eine durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache, er ist mißtrauisch gegen die Sprache der Literatur, gegen Sprache überhaupt. Das führt bei ihm zu einer Art Sprachmystik, die der zwei Jahre später mit seinen "poemes phonetiques" beginnende Raoul Hausmann nicht will, wenn er resümiert: Durch die Dada-Bewegung hat die Dichtung völlig ihren Charakter geändert: statt Folgen von sinnvollen Worten, angenehmem Klingen von Vokalen, ist sie gewollte Auflösung geworden, sie bedient sich der Buchstaben des Alphabets, dem ersten und letzten Phänomen rein menschlicher Klangform (67).

In der Tat spielt in der Vorgeschichte einer konkreten Literatur die Entdeckung des Buchstabens als des ursprünglichen Materials der Dichtung eine wichtige Rolle. Die konsequente Dichtung, pointiert Schwitters ja, ist aus Buchstaben gebaut. Buchstaben haben keinen Begriff. Buchstaben haben an sich keinen Klang, sie geben nur Möglichkeiten zum Klanglichen gewertet [zu] werden durch den Vortragenden. Das konsequente Gedicht wertet Buchstaben und Buchstabengruppen gegeneinander (68).

Konsequente Gedichte dieser Art sind eine Handvoll Alphabet-Texte seit 1920, dem Erscheinungsjahr von Louis Aragons

SUICIDE
Abcdef
ghijkl
mnopqr
stuvw
xyz
dem Schwitters mit "Z A / (elementar)" und einem "Alphabet von hinten" antwortet, in dem die Buchstaben p und o eindeutig als Wort zusammengezogen sind. Ebenfalls in "Register / (elementar)", in dem Schwitters die Reihenfolge des Alphabets verstellt und die z.T. wiederholten Buchatben um eine Achse ordnet, verzichtet er - ähnlich wie später in seiner Ursonate - nicht ganz auf wörtliche Anspielung (ARP). Man kann mit Heißenbüttel "elementar"-Gedichte dieser Art als Versuche verstehen, dem von den Futuristen und Apollinaire entwickelten visuellen Text neue, material-bezogenere Möglichkeiten abzugewinnen, das Sehbild des poetischen Gebildes ganz rein zu erfassen und von allen anderen, störenden Elementen abzulösen. Die Konsequenz, die Schwitters bei diesem Vorhaben zog, bestand darin, daß er dem Gedicht allen rezipierbaren Inhalt nahm (69).

Aber das scheint nicht ganz schlüssig, wenn man die wörtlichen Anspielungen berücksichtigen will. Darüber hinaus läßt sich für die zitierten Alphabet-Texte die Absicht des reinen Sehbildes - die allerdings für das fraglos auch in diesen Zusammenhang gehörende "Gesetzte Bildgedicht" geltend gemacht werden muß - bezweifeln. Schwitters hat an keiner Stelle die Möglichkeit der klanglichen Wertung ausgeschlossen.

Im Gegenteil betont er zwei Jahre später: Der Vortrag ist es sogar gleichgültig, ob sein Material Dichtung ist oder nicht. Man kann z.B. das Alphabet, das ursprünglich bloß Zweckform ist, so vortragen, daß das Resultat Kunstwerk wird (70) - eine Feststellung, die für eine ausführliche Analyse von Hausmanns fmsbwtözäu, das ursprünglich eine Druckprobe für die Auswahl von Typen war (Schwitters), und der Schwitterschen Ursonate nicht unwichtig ist (71).

Diese Breite zwischen klanglicher und/oder typovisueller Auswertungsmöglichkeit des auf das Alphabet, den Buchstaben reduzierten Textes läßt sich auch für eine Vielzahl vergleichsweise ähnlicher Gebilde der konkreten Literatur geltend machen. Dabei läßt sich rein äußerlich durchaus eine Nähe zur traditionellen Gedichtform beobachten, etwa bei Houédards "rhyming alphabet", während Harolde des Campos für die Serien "alphabet", "alphabetenquadrate" und "typoaktionen" Hansjörg Mayers mit Recht die Bezeichnung "typoems" vorgeschlagen hat.

In diesem Zusammenhang zu sehende Collagen Franz Mons, Kolár' "Abeceda I-III" lassen sich darüber hinaus einer wichtigen weiteren Tradition einordnen, der auch das visuelle Pendant des genannten Hausmannschen Lautgedichts, das Poèmeaffiche "fms" (1918) zuzurechnen ist: einem seit Aufnahme von Schriftelementen ins Bild bzw. in die Collage der Kubisten zu beobachtenden Prozeß geistiger Annäherung der Kunstarten (72).

Carlo Carràs politisch gemeinte "Manifestiatione interventista" (1914) erweist dabei noch einmal den Stellenwert des Futurismus in der Vorgeschichte einer konkreten Kunst, in der wenige Jahre später Schwitters in Sachen "Merzgesamtkunstwerk" ausführt: Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusam-mengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. [...] Dies geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen (73).

Karel Teige hat wohl als erster in seinem "Manifest des Poetismus" ("Manifest poetismu", 1928) - dem, ähnlich dem etwa zeitgleichen "Manifest der Konkreten Kunst", weniger programmatische als vielmehr zusammenfassende Bedeutung zukommt - auf diese Tendenz zu Mischformen nachdrücklich hingewiesen, indem er z.B. Apollinaires "Calligrammes" als einen wichtigen Schritt zur Identifizierung der Poesie und der Malerei apostrophiert oder an anderer Stelle verallgemeinert:

Die Epoche unserer Zivilisation ist ein Stadium, wo sich die einzelnen Kunstarten und -gattungen von den Aufgaben befreit haben, denen sie in der Vergangenheit gedient hatten, wo sich die ästhetische Aktivität von der Utilitarität der einstigen Gewerbe loslöst, um ein selbständiges Leben zu leben, und wo sich die emanzipierten Kunstbereiche einander annähern und miteinander vermählen, so daß man sie künftig nach den Kategorien der einstigen ästhetischen Systeme nicht mehr wird einteilen und unterscheiden können; in einer Zeit, wo neue wissenschaftliche und technische Errungenschaften zu ganz neuen ästhetischen Sparten und Gebilden führen, entzündet sich die Idee der Korrespondenz und Einheitlichkleit der künstlerischen Emotion (74).
Rund dreißig Jahre später weist Heißenbüttel in seiner "Geschichte des visuellen Gedichts im 20. Jahrhundert" erneut auf dieses Problelm der Mischformen hin, ohne damit eine längst überfällige Diskussion auszulösen, und merkt schließlich speziell zur konkreten Literatur an: Konkrete Poesie [...] kann, so meine ich, vor allem unter zwei Aspekten gesehen werden: dem der Reduktion und dem der Überschreitung der medialen Begrenzungen.

Wie sehr das Problem der Grenzverwischungen schon den der Vorgeschichte einer konkreten Literatur - deren akustische Texte der "musique concrète" Schaeffers ebenso wie der späteren Entwicklung einer elektronischen Musik wertvolle Impulse verdanken - auch für die Bereiche der Literatur und Musik Gültigkeit hat, zeigt als exemplarisches Beispiel die "Ursonate" Schwitters', dem Hausmann anlastet, er habe die Form der Sonate übernommen und [...] seine Klangfolgen nach dem Prinzip der klassischen Musik komponiert, wodourch ein Zwitter zwischen Form und Klang entstanden sei (76).

Dies könnte ein Grund sein, weshalb die Schwittersche Komposition kaum Nachfolge gefunden hat. Die Lautdichter der konkreten Literatur (77) verwenden jedenfalls keine vorgegebenen Großformen mehr (78), versuchen stattdessen, lettristische Traditionen, Errungenschaften der konkreten und elektronischen Musik für sich fruchtbar zu machen und auf ihre Weise fortzusetzen.

Von einer spezifischen Linie in der konkreten Lautpoesie, nämlich der elektronisch-musikalischen, spricht in diesem Zusammenhang Cobbing, bezogen auf das Fahlströmsche Manifest, in seinem Bericht über die "Konkrete Lautdichtung 1950 bis 1970" und weist am Beispiel François Dufrênes auf die Rolle hin, die das Tonbandgerät in dieser Entwicklung spielt.

However, in 1950, Françcois Dufrêne and Gils Wolman (France) began to make their cri-rhythmes and mégapneumes without any aid from the tape-recorder. [...] Both performed at first live, and later recorded their creations on tape, the tape-recorder being used simply as a recording instrument.
However, Dufrêne gradually warmed towards the more creative aspects of the tape-recorder and other electronic devices, which he had at first regarded as contaminations. He began to superimpose one recorded performance over another, and to use certain varieties of echo effect and reverberation. This was mainly from about 1063 onwards, although there are earlier examples. (79)
Den ebenfalls der akustischen Literatur zugehörenden "Artikulationen" Mons gehen - um hier noch einmal auf die Vorgeschichte zurückzulenken - die gelegentlich als lettristisch apostrophierten "Lautgedichte" Hausmanns voran, der rückblickend ihre Bedeutung und Technik wesentlich artikulatorisch begründet:
Im Gewirr der Töne und Geräusche hat der Mensch einige dieser Töne und Geräusche gewählt und andere abgelehnt. Er hat seine Wahl Harmonie und Akkorde genannt. Wenn wir die vielfachen Möglichkeitzen, die uns unsere Stimme bietet, aufzeichnen, die Unterschiede der Klänge, die wir unter zahlreichen Techniken der Atmung hervorbringen, der Stellung der Zunge im Gaumen, der Öffnung des Kehlkopfes oder der Spannung der Stimmbänder, kommen wir zu neuen Anschauungen dessen, was man Wille zur schöpferischen Klangform nennen kann. (80)
Noch vor Hausmanns ersten "Lautgedichten" bereiten aber schon die Zürcher Dadaisten in ihrer Auffassung und Praxis des von Henri Barzun und Fernand Divoire übernommenen "Poème simultan" die "écriture automatique" der Surrealisten und die artikulatorische Erweiterung des Alphabets im Lettrismus grundlegend vor. Ball in seinem Tagebuch (30.3.1916) und Arp in seinen Erinnerungen an "Dadaland" haben Herstellung und Aufführung dieser Gedichte so instruktiv beschrieben, daß man sich eine ziemlich genaue Vorstellung bilden kann. Drei Sätze Arps sind dabei für unseren Zusammenhang von besonderem Interesse:

1. La poésie automatique sort en droite ligne des entrailles du poète ou de tout autre de ses organes qui a emmagasiné des réserves. [...] Il cocorique, jure, gémit, bredouille, yodle comme ça lui chante. Ses poèmes sont comme la nature: ils puent, rient, riment comme la nature (80).
2. Die Charakterisierung des akustischen Simultangedichts im letzten Satz entspricht nämlich weitgehend einem Definitionsversuch, den Arp 1944 der "art concret" allgemein widmet: nous ne voulons pas copier la nature. nous ne voulons pas reproduire, nous voulons produire. nous voulons produire comme une plante qui produit un fruit et ne pas reproduire. nous voulons produire directement et non par truchement (81).
3. Und der erste Teil des Zitats nimmt praktisch in verkürzter Form eine artikulatorische Konsequenz des Lettrismus vorweg, die Dufrêne dann nach 1950 wieder aufgreift und fortführt, wenn seine cri-rhythmes employ the utmost variety of utterances, extended cries, shrieks ululations, purrs, yarrs, yaups and cluckings (Cobbing).

Wir haben, formuliert Isou diese Konsequenz, das Alphabet aufgeschlitzt, das seit Jahrhunderten in seinen verkalkten vierundzwanzig Buchstaben hockte, haben in seinen Bauch neunzehn neue Buchstaben hineingesteckt (Einatmen, Ausatmen, Lispeln, Röcheln, Grunzen, Seufzen, Schnarchen, Rülpsen Husten, Niesen, Küssen, Pfeifen usw...) (82).

Wählt Rudolf Blümner, ein weiterer, allerdings bisher kaum bedachter Ahnherr der akustischen Literatur, dem Schwitters nicht nur als Sprechkünstler des Sturm-Kreises sicherlich manche Anregung verdankt [vgl. sein Blümner-Portrait], 1921 noch den Vergleich mit Malerei und Musik, um seine "Absolute Dichtung" zu begründen - [...] wie der Maler Farbformen nach Belieben, also unabhängig von einer Bedeutung, zur Gestaltung zusammensetzt, der Komponist Töne rhythmisch nach vollkommener Freiheit aneinanderreiht, so stelle ich Konsonanten und Vokale nach k ü n s t l e r i s c h e n Gesetzen zusammen (83) -, so ist für Isou rund zwanzig Jahre später das lettristische Lautgedicht une poesie devenue musique bzw. einc nouvelle poesie et nouvelle musique. Dabei versteht sich Isou augenscheinlich am Ende einer "evolution du matériel poétique", die er als einen mit Baudelaire einsetzenden Reduktionsprozeß sieht, wenn er seinen Vorgängern folgende literarischen Leistungen bescheinigt

Baudelaire:"la destrustion de l'anecdote pour la forme du POÈME";
Verlaine: "annihilation du poème pour la forme du VERS"
Rimbaud: "la destruction du vers pour le MOT";
Mallarme: "l'arrangement du MOT et son perfectionnement";
Tzara: "destruction du mot pour le RIEN";
Isou: "l'arrangement du RIEN - LA LETTRE - pour la création de l'anecdote" (84).
Mit Arbeiten von Isou und Belloli müßte eigentlich jede Ausstellung oder Anthologie konkreter Literatur beginnen. Von einer proto-konkrete konceptie Bellolis spricht de Vree und könnte sie gleichfalls für Isou geltend machen. Wie Isou läßt sich auch der Spätfuturist Belloli am Ende eines literarischen Entwicklungsprozesses sehen, der über die "parole in libertà" zu "semantico visual poster poems" (Williams) führt, zu "testi-poemi murali" (1944) der Art
treni
              i treni
i
i i i i i i i i i i i i i
umbria     1943
denen Marinetti creazione originale di zone-rumori construiti otticamente sulla pagina-spazio totale (85) bescheinigt, in deren Folge Belloli 15 Jahre später im zeitlichen Kontext einer konkreten Literatur seine "notes for an aesthetic of audiovisualism" folgen läßt. So gesehen erweist sich die konkrete Literatur im Sinne Wystan Hugh Audens als Akt einer colonization. Das Heraustreten aus dem dichterischen Gefüge von rund einhundert Jahren, das Friedrich ihr indirekt zugesteht, hat also schon in ihrer Vorgeschichte stattgefunden.

Wenn ich eingangs die ersten Jahre der konkreten Literatur eine Zeit der Theorienbildung nannten, kann ich jetzt differenzieren, daß diese Theorienbildung auch als eine Vergewisserung der Vorgeschichte und zugleich als ein Versuch, den eigenen Standpunkt innerhalb eines langwierigen literarischen Prozesses zu bestimmen, verstanden werden muß. Versuche derartiger Standortbestimmungen lassen sich in immer dichterer Folge bis Mitte der sechziger Jahre verfolgen und zeigen in Pierre Garniers "Position I du Mouvement International", in der "Réponse d'Henri Chopin à Position I du Mouvement International" (86) und einer Erklärung der sogenannten Stuttgarter Gruppe "Zur Lage" (87), wie uneinheitlich bei allen Gemeinsamkeiten diese Bestimmungsversuche ausfallen, wobei Garnier infolge der Einengung, den der Begriff "Konkrete Dichtung" durch Gomringer und die Noigandres-Gruppe erfuhr, unter dem nom general de Spatiale summiert: poesie concrete, poesie phonetique, poesie objective, poesie visuelle, poesie phonique, poesies cybernetiques, serielles, permutationnelles, verbophonie, etc., während die Stuttgarter Gruppe die Bezeichnung "Konkrete Poesie" gänzlich meidet und von Tendenzen spricht, innerhalb derer Poesie heute realisiert wird, nachdem Heißenbüttel schon 1961 anzudeuten versucht hatte, in welcher Weise man über den relativ engen Rahmen hinaus, den Gomringer und die Brasilianer sich zunächst gesteckt haben, von konkreter Poesie sprechen könnte (88).

Dennoch hat sich bis heute ein Vorurteil über die konkrete Literatur halten können, das sich an Gomringers Konstellationen und den Ideogrammen der Noigandres-Gruppe und ihren Nachfolgern orientiert, dabei aber nur - und nicht einmal zur Gänze - die Tendenz zum visuellen Text, den typovisuellen Aspekt betrifft, während es die Tendenz zum akustischen Text in Folge der Isouschen nouvelle poesie et nouvelle musique völlig außer acht läßt. Die Arbeiten Siegfried J. Schmidts und in seiner Folge Peter Weiermairs (89) seien hier stellvertretend genannt, zumal nicht zuletzt ihre rein ästhetische und sprachphilosophische Argumentation mit beigetragen haben dürfte zu vorschnellen Urteilen, wie sie z. B. die einleitend zitierte Kritik der Stuttgarter Zeitung formuliert.

Ähnlich wie bei den Manifesten und theoretischen Äußerungen ist der Befund bei den Textveröffentlichungen. Zunächst erscheinen die Texte vereinzelt in Zeitschriften, in der inzwischen schon legendären "spirale" Gomringers, Marcel Wyss' und Diter Rots seit 1953, seit 1958 in eigens dafür gegründeten Publikatiosfolgen wie Spoerris "material" (1958-61), das durchaus andere Intentionen verfolgt als Gomringers "konkrete poesie / poesia concreta"(1960-65). Seither datieren auch die ersten selbständigen Publikationen oft in kleinsten Verlagen, bis dann Ende der sechziger Jahre etwa gleichzeitig Autoren wie Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner, Gomringer, Bremer, Heißenbüttel, Jandl, Mon u. a. ihr bis dahin oft an entlegenem Ort Veröffentlichtes noch einmal - und jetzt in großen Verlagen- überschaubar zusammenfassen.

Im Wintersemester 1959/60 stellt Bense - dessen Zeitschrift "augenblick" (1955-61) und Publikationsfolge "rot" (seit 1960) in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden müssen - in der von ihm geleiteten Studiengalerie der Technischen Hochschule Stuttgart zum ersten Mal konkrete texte aus und leitet damit eine immer regere Ausstellungstätigkeit ein.

Man geht sicher nicht fehl, wenn man das Jahr 1960 als eine Art ersten Höhepunkt innerhalb der Geschichte einer konkreten Literatur annimmt, die in einem zweiten Anlauf mit jetzt zunehmender Breitenwirkung ihren zweiten Höhe- und in gewisser Hinsicht auch Endpunkt Ende der sechziger Jahre erreicht. Schon 1965 widmet ihr Walter Höllerer in seiner Zeitschrift "Sprache im technischen Zeitalter" ein Sonderheft "Texttheorie und Konkrete Dichtung", das allerdings wesentliche Aspekte ebenso unberücksichtigt läßt wie ein 1968 in Karlsruhe veranstaltetes Kolloquium "Konkrete Dichtung / Konkrete Kunst", das Autoren und Theoretiker in unmittelbaren Kontakt bringen wollte, um beiden Seiten Einblick in die gemeinsame Sache - die konkrete Kunst - von den jeweils verschiedenen Aspekten her zu ermöglichen (91).

Ein die Ergebnisse dieses Kolloquiums zusammenfassender Berichtband läßt sich ebenso wie eine Anzahl seit 1967 erschienener Anthologien, Langspielplatten, umfangreicher Ausstellungen als Versuch verstehen, die konkrete Literatur überschaubar zu machen, was ja voraussetzt, daß sie den Beteiligten als literarische Phase weitgehend abgeschlossen scheint. Die von Nicolas Zurbrugg Anfang 1970 in "Stereo Healphones" (92) zusammengestellten, z. T. recht kritischen Äußerungen beteiligter Autoren zum Tode der konkreten Literatur sind hier ebenso bezeichnend wie auf der anderen Seite schon 1968 die Veröffentlichung der Ergebnisse eines ) "Vaughan College Concrete Poetry Course" (93), die man entweder als die vom Spiegel attestierten frühen Inflations- und Alterserscheinungen werten kann oder als Beleg dafür nehmen, daß die konkrete Literatur unter anderem literarische Redemuster ausgebildet und bereitgestellt hat, die gleichsam literarische Gesellschaftsspiele ermöglichen, nicht unähnlich, wenn auch mit anderem gesellschaftlichen Hintergrund, den literarischen Gesellschaftsspielen des Barock, der japanischen Renga/Renshi-Tradition.

Man wird bei der Analyse konkreter Literatur die gelegentlich recht unterschiedliche gesellschaftspolitische Situation mit einkalkulieren müssen und keinesfalls über einen Leisten schlagen dürfen, daß visuelle Poesie in Diktaturen besonders gut gedeiht. Mary Ellen Solt unterscheidet mit Recht:

It is not difficult to see that Gomringer's "constellations" do not look like Noigandres ideograms. And on the whole, Brazilian concrete poetry is more directly concerned with sociological-political content, und sie weist für ein Ideogramm Pignataris nach: Decorative typography is used here to satirical effect. In

Beba coca cola
babe cola
beba coca
babe cola caco
caco
cola
c l o a c a
Décio Pignatari makes an anti-advertisement from an American advertising slogan, condemning both, die culture that makes and exports coca cola and the culture, that drinks it (95).

Anders wird man nicht für Francos Spanien fragen müssen, ob das intellektuelle Spiel der konkreten Literatur nicht so etwas wie eine letzte Zone geistiger Freiheit bot in Ländern, in denen Literatur nicht frei ist. Die dem tschechischen Beitrag zur konkreten Literatur zugehörenden "Variationen auf einen Satz von Josef Stalin" (Der Frieden wird erhalten und befestigt werden, wenn das Volk die Sache des Friedens in seine Hände nehmen und sie bis zu Ende verteidigen wird) stellen auf dem Wege der Variation in Frage, lassen sich als Musterbeispiel einer sprachlichen Demonstration des klassischen Widerspruchs von Theorie und Praxis apostrophieren. Umgekehrt und wirkungs-ästhetisch nicht uninteressant war die große Überraschung, die Heißenbüttels "Politische Grammatik" (1959) bei einigen tschechischen Autoren ausgelöst hat: Aus drei Wörtern wurde da eine Kreation aufgebaut, die typisch war auch für unsere menschliche Situation. Das war für uns ein wirklich politisches Gedicht, ob es konkret war oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Es war aus reduzierter Sprache aufgebaut. Und es stellte einen neuen Zutritt zu poetischen Ausdrucksformen dar (94). Ähnlich interessant war der kommentierte Abdruck eines visuellen Textes, der die Worte sah (Schah), taç (Krone), halk (Volk), aç (hungrig) typographisch in ihrer Wiederholung zu einem Orden ordnet, des einzigen, allerdings in Deutschland lebenden türkischen Beiträgers zur konkreten Literatur, Yüksel Pazarkaya, in einer in Schweden erscheinenden Gastarbeiterzeitschrift (95).

Alle Texte, kommentiert Bremer seine den bereits genannten Figurengedichten vorausgehenden "engagierenden texte" (1966), die ich hier zeige, sind so geschrieben, daß die Haltung, zu der sie einladen, auch in unseren gesellschaftlichen, politischen Verhältnissen ein Wirkungsfeld finden kann. Es sind keine engagierten Texte, es sind engagierende Texte (97).

Wagenknecht - der für einen Großteil der konkreten Literatur kritisch einschränkt, daß er, wie lehrreich auch im einzelnen, im ganzen kaum mehr als ein anregendes Spiel geworden sei, zwar oft imstande, den Betrachter zu unterhalten, nicht aber dazu, ihn auch nützlich zu beschäftigen - sieht in diesen Texten Bremers Beispiele eines Typs von nicht mehr nur kontemplativen Gedichten, weil sie statt der Sprache die Rede, statt Satzplänen Sätze [studieren. Sie] arbeiten mit Parolen. Sie machen und zitieren Vorschriften. Und sie bringen diese Vorschriften mit den von der konkreten Poesie entwickelten oder erneuerten Mitteln in der Weise zur Sprache, daß sich der Betrachter, wenn er die Darstellungsmethode nicht schon von vornherein verwirft, zur Folgsamkeit oder zum Widerspruch veranlaßt findet. [...] Erst in solchen Gedichten scheint sich die konkrete Poesie ihren Namen wirklich zu verdienen (97).

Diese Tendenz zum engagierenden, ja sogar zum engagierten Text nimmt Mitte der sechziger Jahre unübersehbar zu.

sau
aus
usa
lautet z. B. eine 3-Buchstaben-Permutation Mayers von 1965, der sich Jandls "alphabet einer macht, mit 3 unbekannten" (1969) vergleichen ließe. Chopins "Aux Hommes" (1969) schließlich scheint ziemlich direkt an die Wandparolen und Plakatentwürfe der Pariser Mairevolte anzuschließen, die umgekehrt ihrerseits durchaus auch mit Mitteln konkreter Literatur arbeiten:
je participe
tu participes
il participe
nous participons
vous participez
ils profitent.
Dieser Plakattext aus dem Mai 1968 will allerdings weniger konkretes Gedicht als politischer Gebrauchstext sein. Das ist zunächst kein Widerspruch, denn vom Gedicht als einem Gebrauchsgegenstand haben so unterschiedliche Autoren wie Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger auf der einen und auf der anderen Seite die Noigandres-Gruppe und innerhalb der konkreten Literatur als erster Gomringer gesprochen:
der zweck der neuen dichtung ist viel direkter als der der individualistischen dichtung. der unterschied zwischen der sogenannten gebrauchsliteratur und der designierten dichtung fällt nicht mehr ins gewicht. zwischen beiden besteht nahe verwandtschaft, ja es ist nicht abwegig zu denken, daß der unterschied einmal verschwindet, daß es in zukunft überhaupt nur noch eine art wirklicher gebrauchsliteratur geben wird (98).
Allerdings hat Gomringer dabei sicher am wenigsten an die politische Wandparole gedacht. Er sieht die Aufgabe des Dichters anders: indem der dichter ein schweigen bricht, bejaht er, er bejaht mit worten. [...] daß wir lernen, auf worte zu achten, worte zu sehen, worte zu hören, daß wir freude haben an worten, daß wir heiter werden mit worten, dies ist des dichters anteil an den tätigkeiten des menschen (99).

Der Gebrauchstext, den er im Auge hat, dürfte wohl eher der Werbetext sein einer Art, wie ihn z. B. das Stuttgarter "schwabenbräu" oder der Kaufhof (KAUFHOF kommt) vorgestellt haben. Und als Beispiele einer künftigen wirklichen gebrauchsliteratur lassen sich vielleicht schon eine Anzahl in letzter Zeit produzierter Textvasen Gomringers ansprechen. Könnte man Gomringers Feststellung, das neue gedicht ist [...] einfach und überschaubar, es wird zum seh- und gebrauchsgegenstand: denkgegenstand, denkspiel, mit Einschränkung für den konkreten politischen Wandtext der Mairevolte geltend machen, als Gebrauchsgegenstand stellt er nicht nur intentionell etwas grundsätzlich anderes dar als eine Vase mit der Aufschrift ping pong, für die sich ankreiden ließe, der ursprünglich von Bill (und Bense) so definierte Gegenstand zum geistigen Gebrauch sei nun endgültig in die Sackgasse des Konsums geraten - ein Problem, das bei den in der konkreten Kunst fließenden Grenzen zwischen Kunst- und Designobjekt einmal grundlegend und nicht nur von einem neomarxistischen Standpunkt aus durchdacht werden müßte.

Inzwischen wurde in Enzensbergers "Kursbuch" das Ende der Literatur gefordert, da sie nichts zur Lösung der gesellschaftlich-politischen Mißverhältnisse beitrage, affirmativ sei und letztlich sowieso nur von der Clique verstanden werde, für die sie geschrieben sei. Daß sich die Beziehungen zwischen Literatur und Gesellschaft im 20. Jahrhundert so einfach nicht auflösen lassen, hat bereits Heißenbüttel kritisiert und dagegengehalten, daß in der Reduktion auf das Wort und in der Kombinatorik von Wörtern [...] die der Sprache eingeschriebene Stufenordnung von Rängen (Über-, Unter- und Beiordnungen) durchbrochen werde, in der bestimmte gesellschaftliche Ent-wicklungen der Sprache ihren Stempel aufgedrückt haben und ohne die wir bis heute nicht in der Lage sind, uns differenziert zu verständigen. [...] Die Brechung des Ausdrucks gesellschaft-licher Herrschaft aber, wenn man es so ausdrücken will, bedeutet so etwas wie eine Einebnung der Sprache. In dieser Einebnung wird sie nicht zur exklusiven Schlüsselsprache für Eingeweihte [...], sie wird zugänglich für jedermann; genauer, der Zustand, aus dem heraus Literatur produziert wird, ist in dieser Einebnung ein für jedermann gedachter (100).

So gesehen betreibe Gomringer, der sich bereits in seinem ersten Manifest für den zweck interessiert, welcher der dichtung in der heutigen gesellschaft zugeschrieben werden kann (101), sogar so etwas wie eine Sozialisierung der Sprache und gehe darin weiter als die politisch engagierten Poeten der anderen Seite, die bei aller verbalen und physisch tätigen Kritik an den herrschenden Zuständen doch der metaphorischen Redeweise der bürgerlichen Rechtfertigungspoetik verhaftet (102) blieben. Allerdings schlösse er dabei Problematik, Kritik, Verzweiflung, Konflikt usw. weithin aus.

Anders als die "engagierenden texte" Bremers, die zu einer Haltung einladen, die auch in unseren gesellschaftlichen, politischen Verhältnissen ein Wirkungsfeld finden kann, wollen Gomringers Konstellation dem heutigen menschen durch seinen objektiven spielcharakter dienen, und der dichter dient ihm durch seine besondere begabung zu dieser spieltätigkeit. er ist der kenner der spiel- und sprachregeln, der erfinder neuer formeln. durch die vorbildlichkeit seiner spielregeln kann das neue gedicht die alltagssprache beeinflussen (103). (An anderer Stelle spricht Gomringer gar vom gedicht einer auch in kommunikativer hinsicht sich neubildenden universellen gesellschaft.)

Gomringer, dessen Beitrag zur konkreten Literatur sich wesentlich auf die Konstellation beschränkt, will also - ein wenig verkürzt - den Leser als Partner in einem Spiel mit Worten, mit denen der Dichter bejaht. Bremer, dessen Werk deutlich eine Entwicklung von den "tabellen und variationen" (1960) über die "engagierenden texte" zu den (engagierten) Figurentexten (1968) erkennen läßt, will ganz anders den

Leser zum Ungehorsam und zum Widerstand (Wagenknecht) erziehen. Historisch könnte man hier eine Entwicklung der konkreten Literatur sehen, eine erste relativ strenge Phase (der Konstellation) von einer Phase der Erweiterung (mit zunehmender Tendenz zum engagierenden und engagierten Text) in den sechziger Jahren unterscheiden. Das entspräche in ungefähr einer Unterscheidung Wagenknechts zwischen den konkreten Dichtern, die mit den lexikalischen und grammatischen Mustern der parole, nicht mit der hier und jetzt, in dieser oder jener geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation verlautbarten Rede selbst, arbeiten, deren Gegenstand [...] nicht Worte, sondern Vokabeln, nicht Sätze, sondern Pläne von Sätzen bilden, und einer konkreten Literatur, die statt der Sprache die Rede, statt Satzplänen Sätze studiert (104).

Von zwei Aspekten konkreter Literatur und zwei Generationen konkreter Dichter spricht unter anderem Blickwinkel auch Cobbing bei seinem Versuch, die Bedeutung des Fahlströmschen Manifests zu bestimmen. He opened the way not only for the structural aspects of concrete poetry which play such a prominent part in the theory and practice of Eugen Gomringer [. . .], the Brazilians and the Germans, but for expressionist aspects which a second generation of concrete poets has found so potent (105).

Aber das Gesicht der konkreten Literatur ist von Anfang an nicht einheitlich. Auf den Unterschied zwischen Gomringers Konstellation und dem Ideogramm der Noigandres-Gruppe hat Mary Ellen Solt hingewiesen. Ist Gomringer davon überzeugt, das neue gedicht könne durch die vorbildlichkeit seiner spielregeln [...] die alltagssprache beeinflussen, spricht Mon vom Querstellen gegen das allzu geläufig gewordene und im Grunde fast nur noch Anonymes und Unbedeutendes sagende Vokabular der sogenannten Umgangssprachen, benutzen in den sechziger Jahren zunehmend Autoren als Material die vorgefundene Sprache, lassen sie mit den Mitteln der konkreten Literatur leerlaufen, zerstören das sprachliche Fundstück und versuchen so, umgangssprachliche Verhaltensmuster in ihren Widersprüchen zu entlarven.

Ist Gomringer davon überzeugt, daß das neue gedicht [...] als ganzes und in den teilen einfach und überschaubar sei, leitet Mon die Begründung seiner "textlabyrinthe" ein: solange geschrieben wird, konkurrieren zwei tendenzen, das geschriebene darzubieten, die zur leichtesten lesbarkeit mit der, dem lesen widerstand zu bieten (106). Ähnlich unterschiedlich ist die Bedeutung, die beide Autoren dem Schweigen zumessen. Die Verfassung des Querstellens, sieht es Mon, ist das Schweigen. "Ich" ist da, aber es behauptet nichts, es redet nicht, es läßt alles, was es von der Rede hat, und alles, was Rede ist, fahren. Es fällt auf sich zurück, von wo die entfallene Realität ja ausgegangen war. Es fällt auf sich zurück, ohne sich um sich zu kümmern. Etwas wird in seinen leeren Hof eintreten, an dem es wieder beginnen kann (107), während für Gomringer der Dichter einer ist, der ein schweigen bricht, um ein neues schweigen zu beschwören. [. ..] die worte des dichters kommen aus dem schweigen, das sie brechen. dieses schweigen begleitet sie. es ist der zwischenraum, der die worte enger miteinander verbindet als mancher redefluß (108).

Man könnte leicht einen ganzen Katalog derartiger Aspekte und Tendenzen zusammen- und gegenüberstellen und damit verdeutlichen, wie komplex eine konkret genannte Literatur bei genauerem Zusehen ist. Was mich interessiert, sagt es Heißenbüttel in eigener Sache, ist die Ausnutzung der Tendenzen, als die man die konkrete Poesie ansehen kann, miteinander, in Bezug zueinander (109). In ihren Mitteln, Methoden und Tendenzen in einer sogenannten Literaturrevolution vorbereitet, erweist sie sich als Phase eines seither andauernden literarischen Prozesses, die wesentlich charakterisiert ist durch eine konsequente Aufnahme dieser Mittel, Methoden und Konsequenzen. Wo sie sich dabei zu speziellen Einzelmethoden, Einzeltechniken, Einzelrichtungen verengt (Heißenbüttel) hat, erscheint sie heute historisch abgeschlossen, überschaubar, gleichsam museal. Im größtmöglichen Miteinander von Methoden jedoch, durchlässig an den Rändern, könnte sie, wie Heißenbüttel es zu fassen versucht, nicht nur [...] neue literarische Sprechweise, [...] sondern ebenso [...] eine neue Weise sein, sich sprachlich in dieser Welt zu orientieren (110).

[In: Manfred Durzak [Hrsg.]: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1971, S. 257-284. (3. erweiterte Aufl. 1976)]

[Anmerkungen werden nachgestellt]