Claus Henneberg | leben pauls

[Hinweis: Paul ist der Maler Werner ["Paul"] Krüger. Die Notizen Paus sind kursiv gesetzt; runde Klammern stammen von Paul, eckige vom Autor]

1. Kapitel | Gaststättenrechnungsblöcke

Von Statur war ich unscheinbar

denn wie hätte er sonst immer wieder durchschlüpfen, sich herauswinden. tarnen können, wenn er es nicht gewesen wäre, seiner Unscheinbarkeit hatte er es zu verdanken. daß es ihm immer wieder gelang, weil man einem so unauffälligen Kerle nichts zutraute, weder etwas besonders Gutes, noch etwas besonders Schlechtes, damals zum Beispiel, in Stettin als er eine Hakenkreuzfahne herabriß, die von einem Haus herunterhing, das zur letzten Wahl geschmückt war, 1934, glaube ich, müßte nachsehen, und Paul sprang hoch und riß die Fahne herunter, weil sie ihm nicht gefiel, oder aus Übermut. oder weil er die Nationalsozialisten nicht mochte, vermutlich aus allen drei Gründen zusammen, als gerade zwei SA-Männer in kackbraunen Uniformen und ebensolchen Schaftstiefeln an den Beinen um die Ecke bogen und ihn nach kurzer Jagd durch die morgendlichen Straßen einfingen, um ihn zur Polizei zu schleppen, die ihn der politischen Polizei überstellte, der Gestapo, oder wie sie damals hieß, ich habe nachgesehen, am 5. März 1933, einem Sonntag wahrscheinlich, weil alle Wahlen am Sonntag stattfinden, weil da die Bürger Zeit haben, man bräuchte einen Kalender von 33, oder so eine Formel, wie ich sie einmal gesehen habe, in der multipliziert und subtrahiert, addiert und dividiert wird, um jeden Wochentag zu errechnen bis in die Steinzeit, Sonntag also, ein Sonntag muß es gewesen sein, als die Wahl war, und ich erinnere mich, daß ich mit meinen Großeltern und meinem Onkel in Haspe zum Wahllokal ging, mein Großvater trug auch eine SA-Uniform und am Koppel eine Pistole oder sprach er nur davon, daß er, wenn er früher zur Wahl ging, eine Pistole mitnahm, es konnten aber auch Wahlversammlungen gewesen sein, zu denen er sie mitnahm, wegen der Kommunisten, der Rollkommandos, oder aus Angst vor einem Überfall auf dem Heimweg, meine Großmutter sah reputierlich aus und trug ihren üblichen großen Busen, an den ich mich abends daumenlutschend lehnte, bevor ich zu Bett geschickt wurde, und einen schwarzen Strohhut mit weißer Blume, und mein Onkel ging damals zu seiner ersten Wahl, wählte zur ersten Mal, ich lief vor meinen Verwandten her, war genau fünf, fast fünf, noch einige Monate fehlten, aber daran erinnere ich mich noch, daß ich mich umdrehte und fragte, was wählst Du denn, Opa, wählen war soviel, wie etwas aussuchen in einem Geschäft, an einer Theke, bei Kalaminus in Hagen zum Beispiel, wo hinter den Glasscheiben des Tresens Tausende, ich sage Tausende belegter Brötchen aufgebaut waren, von denen ich mir welche aussuchen durfte, wenn wir nach einem Einkaufsbummel in die Stadt bei Kalaminus landeten, um zu verschnaufen und uns zu stärken, was wählst Du, Opa, fragte ich ihn ungefähr in Höhe der Schule Haspe-Heubing, hinter dem Bahnübergang mit der Schranke, die sooft zu war, einem grauen Klotz hinter einer grauen rauhen Mauer, NSDAP, knurrte mein Großvater, und Du, Oma, sie flötete natürlich dasselbe, oder sie sagten es gleichzeitig beide, knurrend der eine und flötend der andere, aber mein Onkel, der einen sehr langen Mantel trug. wie ich mich entsinne, verriet es mir nicht, wegen des Wahlgeheimnisses, wie er erklärte, schwieg lächelnd, überlegen, erwachsen, im Bewußtsein der ihm durch Älterwerden und Wachsen, einfaches Großwerden zugekommenen Verantwortung und Würde, und das war an demselben Tag, als sie Paul verhafteten, weil er eine Hakenkreuzfahne herabgerissen hatte, vier Stunden früher vielleicht, in Stettin, als mich mein Onkel gerade mit dem Trötehorn, einem verbeulten Signalhorn aus Messing, das ich sehr liebte, zum Frühstück weckte, um 7 vielleicht, und die Polizei übergab ihn der geheimen Staatspolizei, die ihn verhörte, warum er die Fahne heruntergerissen habe, er sei wohl ein Staatsfeind, ach wo, sagte Paul, im Gegenteil, wieso, fragten die Staatspolizisten, wenn jemand eine Fahne herabreißt, beweist das seinen Haß gegen den Staat, nein, sagte Paul, ich wollte die Fahne doch klauen, Du wolltest sie klauen, fragten die Staatspolizisten verblüfft, ja, sagte Paul ganz zerknirscht, und das war Unrecht, ich sehe es ein, Du lügst, sagten die Staatspolizisten, nein, sagte Paul, meine Eltern besitzen nämlich keine Hakenkreuzfahne [...]

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