reinhard döhl | gedichte | schwarz auf ich weiß | aber dies alles
zeitgedichte (1)

biographie | drei arien für die missa profana [mache dein gesicht weiß | es begab sich aber | wenn der vorhang sich öffnet] | banaler abend | gebrauchsanweisung | moritat | meditationen 1-4 | die noch vollen aschenbecher auf dem tisch | gegenstrophen

biographie

wir brechen unsere träume
wie wir die worte brachen.

fremde vögel fliegen nachts
und zeichnen schatten
in die koordinaten
kreuze der fenster.

aber dies alles so wissen wir
wird gehen und nie mehr zurückkehren
an den morgen die kommen mit den
künstlich gefärbten horizonten.
 

drei arien für die missa profana

1 mache dein gesicht weiß
daß niemand weiß
wer du bist

mache dich frei
von deinem gesicht
das dich verrät

bedenke die wunde
wenn sie verheilt
verheilt langsam.

2 es begab sich aber
daß das fleisch
aas ward

und die maden
waren weiß
in dem aas.

da erging ein gebot
zu waschen die hände
in unschuld.

3 wenn der vorhang sich öffnet
steht einer da der sagt
rühme den herrn.

wenn es abend wird
spricht einer dich an
bedenke.

doch wenn es nacht ist
ist keiner der sagt
und du vergißt einen namen.
 

banaler abend

er wußte nicht, daß er von toten sprach
als er abend sagte
und nicht
daß die opferkerzen verlöscht waren.

er warf sein jojo
mit einer schnellen bewegung
den passanten an die köpfe
dann schloß er die gardinen
um fünf minuten gymnastik zu treiben.

für alles andere
blieb ihm keine zeit
seine stunden waren
völlig ausgefüllt.
 

gebrauchsanweisung

brenne ein streichholz an
und halte es an die zeit.

benutze es auch für deine pfeife
du weißt was du tust.

wirf es zu den andern
in die schale deines abfalls.
 

moritat

es vergeht viel zeit
daß die sonne im westen aufgeht
ist ein gerücht
und die zeit vergeht.

wozu du neigst von natur
gib dir nur mühe zu tun
es bleibt dir wenig zu tun jetzt.
 

meditationen

löse dein gesicht aus der schale
löse dich ein für die nacht.

aber du sagtest mir pergamentworte
ich werde die rollen vertauschen
und aus der akademie austreten.

sage ich dir daß du liebst
fledermausgrau fliege doch falter
sage ich dir daß du weinst
sage ich dir daß du stirbst.

ich schicke kassiber durch die muschel des telephons
ich poche meinen knöchel blutig an der wand des zimmers
aber am ende der welt im zimmer nebenan
schmeckt niemand mein blut auf der zunge
nur sand.
 

die noch vollen aschenbecher auf dem tisch
rote pfützen in drei gläsern
etwas achtlos zerstreute asche auf dem boden
die geleerte rotweinflasche auf dem fensterbrett
und das zufällig angestellte radio

du hörst kaum hin und bedenkst noch
die worte mit denen sich verabschiedeten
die da gingen
einzeln nach ihrer wohnung
jeder in seine richtung.
 

gegenstrophen

oder du singst ein lied:

gestern fiel ein kind hin und schrie
über ihm fast verdeckt im faulbaum
sang eine amsel hinter der wand
eine vase drei weiße nelken
auf das polierte holz
tropft das zeitzeichen

du siehst auf den zeiger
der zu weit steht
du stehst am fenster
das auf ist
du bist zu weit für dein kind
für den vogel ihn zu scheuchen

oder du singst ein lied.


< zurück