Reinhard Döhl | Am laufenden Tonband. Erprobte Mittelmäßigkeit im "Hörspielbuch 1961"

Hörspielbuch 1961. Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main |  Marie Luise Kaschnitz: Hörspiele; Claassen-Verlag, Hamburg

Regelmäßig und pünktlich auf die Minute senden die deutschen Rundfunkanstalten Woche für Woche ihr Hörspiel, und regelmäßig erscheint jedes Jahr in der Europäischen Verlagsanstalt das vom Süddeutschen Rundfunk herausgegebene "Hörspielbuch", 1950 (anläßlich seines ersten Erscheinens) noch ein Wagnis, 1961 bereits in Gefahr, in einer Fülle von Hörspielliteratur unterzugehen.

Wie seine Vorgänger erhebt auch das "Hörspielbuch 1961" den Anspruch, "sechs der besten deutschen Hörspiele des Jahres" vorzustellen und damit "einen repräsentativen Querschnitt durch das für den Hörfunk geschriebene Spiel" zu geben. In unserem Falle werden als "sechs der besten" und als "repräsentativ" vorgestellt: "Tobias oder Das Ende der Angst" (Kaschnitz), "Dichter Nebel" (von Hoerschelmann), "Die Toten dürfen nicht sterben" (Rys), "Ausnahmezustand" (Becker), "Am ungenauen Ort" (Wellershoff) und "Das Schildkrötenspiel (von der Vring).

Trotz einer Menge gedruckter Hörspiele, die deutlich ein Bedürfnis des Hörers nach anschließender Lektüre zeigt, trotz des vielerorts propagierten Anspruchs einer eigenständigen literarischen Gattung ist das deutsche Hörspiel der Gegenwart immer noch problematisch, gelten die Probleme zum Beispiel der "reduzierten oder eliminierten Handlung", der "Verwortung" etc. als noch nicht geklärt. Auch das "Hörpielbuch 1961" erscheint in diesem Zusammenhang problematisch.

Die dem "Schildkrötenspiel" (Vring) zugrunde liegende Fabel würde kaum den schlichtesten Ansprüchen einer Kurzgeschichte genügen, die vorgeführten Dialoge sind beispielhaft für schlechten Dialog überhaupt. Der "Ausnahmezustand" (Becker) ist zunächst nichts weiter als die Verdialogisierung und Aufblähung einer bereits unter der Überschrift "Die weiße Fahne" in der Anthologie "Auf den Spuren der Zeit" (München 1959) abgedruckten Kurzgeschichte, die dort einen wenn auch nicht überragenden so doch berechtigten Platz einnimmt in einer Reihe mittelmäßiger Prosa, wie sie bei uns als Literatur gepflegt wird. Und was der Kurzgeschichte recht ist, ist dem Hörspiel noch lange nicht billig. Beide Hörspiele behandeln übrigens aktuelle Themen: den von einem Partisanen nicht ausgeführt Mord (Vring), das Auseinanderbrechen der Ehe eines deutschen mit einer Jüdin beim Einmarsch der Amerikaner (Becker). Daß und wie aktuelle Thematik auch tendenziös sinnvoll in einem Hörspiel abgehandelt werden kann, zeigt dagegen ein Beitrag "Die Toten dürfen nicht sterben" (Rys), der in den Dialogen eines Revolutionärs, eines Siegers, eines Überlebendden, eines Parteibeauftragten Budapest einen Monat nach der verlorenen Revolution im Oktober 1956 schildert. Hier wird in einer dem Thema gerechten dialektischen Handhabung des Dialoges (nicht der Sieger, sondern der Verlierer und Revolutionär ist Sieger) eine Möglichkeit des Sprachhörpiels sehr schön Demonstriert, ohne daß der Autor der Gefahr der "letzten Sätze, der summarischen Weisheiten, der Eindeutigkeit" verfällt, einer Gefahr, der sich die Beiträge der anderen Autoren nicht immer ganz entziehen können.

In der Fülle der Hörspielliteratur tauchen neben dem periodischen- "Hörspielbuch", neben meist willkürlichen Hörspielanthologien neuerdings auch Hörspielbände einzelner Autoren auf, darunter die sympathischen "Hörspiele" der Marie Luise Kaschnitz, die mit Geschick bekannte Stoffe (die Geschichten des Tobias, des Zöllners Matthäus, des Tobias, der Alkestis) einem guten Hörspielgeschmack entsprechend zuzubereiten weiß, holzschnittartig, ohne Raffinements und funktionslose Mätzchen auch dort, wo sie allgemeine Themen aufgreift, so zum Beispiel das Thema des Rufmordes ("Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?"). Manches Überflüssige (so die regelmäßigen Angaben eines Sprechers, in welchem Stockwerk man sich gerade befindet) mag für hartleibige Hörer, die es ganz genau wissen wollen, vielleicht notwendig sein, liegt aber, wie ein Vergleich mit dem Erstdruck in den "Akzenten" zeigt, nicht in der ursprünglichen Absicht der Autorin, könnte aber sehr wohl die Folge einer manchmal den Hörergeschmack zu sehr einkalkulierenden Regiearbeit sein.

Eine gewisse Rücksichtnahme der Rundfunkanstalten auf breiten Hörergeschmack, auf Hörerpost etc. zeichnet vielleicht für die Mittelmäßigkeit der gegenwärtigen deutschen Hörspiele mit verantwortlich; aber es ist schließlich Sache der Autoren, ob sie sich darauf einlassen wollen oder nicht. Uns jedenfalls scheinen auch die Hörspiele 1961/62 mit geringen bemerkenswerten Ausnahmen kaum geeignet, einen Fortschritt innerhalb einer behaupteten eigenständigen literarischen Gattung erkennen zu lassen. Das Sympathische, das Gängige, das Erprobte werden routiniert immer wiederholt. Die auf der Ulmer Hörspieltagung 1960 konstatierte Krise dauert an. Und es ist zu argwöhnen, daß das so laut propagierte "literarische Hörspiel" heute als Modell schon erschöpft ist, wenn man dem Experiment (wie es im "Club d'Essai" in Paris und anderen Orts längst gepflegt wird) nicht mehr Raum gibt und den Autoren damit eine Möglichkeit, den Patienten wieder zum Leben zu erwecken.

Vorwärts, 12. Dezember 1962, S. 18