Reinhard Döhl | Radiokunst - Hörspiel

Gegenstand des Symposions ist die "Radiokunst". Für sie unterscheidet die Tagesordnung zwischen "Hörspiel", "Akustischer Kunst" und Formen der "Radiodokumentation". Das ist eine idealtypische Unterscheidung, die sich in den nächsten Tagen, wie ich vermute, nicht immer wird aufrecht erhalten lassen. Denn sowohl theoretisch wie praktisch, historisch wie typologisch können die Grenzen durchaus fließend sein. Ernst Schnabels "Der 29. Januar 1947" oder Alfred Andersch' "Der Tod des James Dean" sind je nachdem, wie man sie betrachtet, Feature und/oder Hörspiel. Mauricio Kagels "(Hörspiel) Ein Aufnahmezustand" oder John Cages "Roaratorio. Ein irischer Circus über Finnegans Wake" sind Hörspiel und/oder akustische Kunst. Werden sogar - im Falle des "Roaratorio" - entweder im Hörspielprogramm (so beim Westdeutschen Rundfunk) oder im Musikprogramm (so beim Süddeutschen Rundfunk) gesendet. Vergleichbares wäre für mich im Falle Luc Ferraris oder Heiner Goebbels vorstellbar.

Ich will das nicht weiter ausführen sondern wähle aus gegebenem Anlaß ein letztes Beispiel. Der gegebene Anlaß ist dabei das nahegelegene Wroclaw/Breslau, dessen "Schlesische Funkstunde" für die Genese einer "Radiokunst" eine gewichtige Rolle gespielt hat. Und das Beispiel wäre Friedrich Bischoffs "Hörspiel vom Hörspiel". Dieses "Hörspiel vom Hörspiel" aus dem Jahre 1931 wollte Bestandaufnahme des bis dahin historisch Erreichten, Querschnitt durch das damals Mögliche sein. Und es umfaßte, in der Terminologie Bischoffs, Ausschnitte aus einer "Hörfolge", aus einem "Hörspiel für Musik, Wort und Ton", aus einem "Lehrstück", einem als "Hörspiel" ausgewiesenen Sensations- und Katastrophenspektakel, einem dokumentarischen Spiel und einer "Hörfolge
(. . .) in gesteigerter Form", die man heute Feature nennen würde.

Innerhalb der Typenvielfalt, die eine "Radiokunst" hervorgebracht hat, scheinen also die Grenzen nicht in jedem Fall eindeutig zu ziehen. Das erklärt sich zum einen aus der Mediengebundenheit dieser Radiokunst und ihrer Entwicklung, aus ihren nichtliterarischen Bedingungen. Andererseits entsprechen diese unscharfen Grenzen einer für das 20. Jahrhundert allgemein festzuhaltenden Tendenz der Grenzverwischung zwischen den einzelnen Künsten, zwischen Literatur und bildender Kunst ebenso wie zwischen Literatur und Musik wie zwischen bildender Kunst und Musik. So daß es nur konsequent war, auf der 8. Documenta 1987 auch eine Audiothek zu installieren, die übrigens von den Besuchern intensiv frequentiert wurde. Drittens ist es, auch das hat diese Audiothek auf der 8. Documenta durch ihre historische Anlage gezeigt, drittens scheint es bei jeder ernsthaften Auseinandersetzung mit Radiokunst angezeigt, sich nicht nur ihrer medialen Bedingungen, sondern auch ihrer historischen Entwicklung zu erinnern.

Dies alles vorausgesetzt, will ich im folgenden versuchen, zum Gegenstand des heutigen Tages, dem Hörspiel, historisch und typologisch hinzuleiten. Das wird zum Teil stichwortartig geschehen müssen und soll vor allem einige Thesen zur Diskussion des aktuellen Hörspielangebots aufstellen. Denn in einer intensiveren Diskussion dessen, was hier von den einzelnen Dramaturgien an Beispielmaterial mitgebracht wurde, sähe ich vor allem den Sinn dieses Symposions.

Die Hörspielgeschichte - um mit diesem Paradox anzufangen - beginnt ohne Hörspiel. Sein Medium, der Rundfunk war nicht entwickelt worden, weil eine Notwendigkeit dazu bestand, es war vielmehr ein Nebenprodukt innerhalb der "Entwicklung der elektronischen Nachrichtenmittel". Da die Industrie auch dieses Nebenprodukt gewinnbringend vermarkten wollte, mußte sie, da kein notwendiges Bedürfnis bestand, den Markt erst einmal schaffen und erschließen.

Das geschah einmal, indem man die Bastelleidenschaft potentieller Hörer ansprach, also den Reiz eines neuen technischen Spielzeugs nutzte. zum anderen, indem man Programme erstellen und senden ließ, die dem Rundfunk immer mehr Hörer und neue Hörerschichten zuführen sollten. Dieser Reflex auf den Hörer hat auch die spätere Hörspielgeschichte bis auf den heutigen Tag begleitet, sei es theoretisch, sei es als fiktive Stimme, sei es in Versuchen, ihn in die Hörspielproduktion einzubinden. Hörerumfragen haben die Geschichte des Rundfunks und seiner Programme von Anfang an begleitet und registrieren für das erste Hörspieljahr 1924 als Hörerwünsche die Operette mit 83,3%, Tagesneuigkeiten mit 72,8%, die Zeitansage mit 71,3%, Kammermusik mit 63,8%. An 8. Stelle folgt dann die Oper mit immerhin noch 48,2% und an 24. Stelle das Schauspiel mit nurmehr 15%, unterboten lediglich durch den Wunsch nach Predigten, die nur 9% der Hörer wünschten.

Wenn in der Frühgeschichte des Hörspiels zunächst Operette, Oper und Schauspiel vom Rundfunk adaptiert werden, ist dies unter anderem als Konsequenz aus dieser Umfrage zu bewerten. Diese Sendespiele, die auch Hörspiele genannt wurden, sind nichts weiter als die Fortsetzung des Theaters mit anderen Mitteln. Die Hörspielgeschichte verdankt ihnen lediglich einige wichtige Regieerfahrungen. Anders die Theatergeschichte. Sie verdankt dem Rundfunk zum Beispiel die Möglichkeit, Theaterstücke außerhalb der großen Häuser und ihrer Spielpläne einem größeren Publikum wenigstens in Form eines "Theaters für Blinde" bekannt zu machen, was ein besonderes Gewicht bekam, als nach dem 2. Weltkrieg fast alle Theaterhäuser zerstört waren.

Daneben verdankt die Theatergeschichte dem Rundfunk die Sendung von Stücken, die zunächst kein Theater zu spielen bereit war, wie zum Beispiel Bertolt Brechts "Heilige Johanna der Schlachthöfe" 1932 in der Berliner Funk-Stunde. Die Möglichkeit, Theaterstücke außerhalb der großen Häuser zu spielen, dabei auch auf vergessene, wenig gespielte Theater-Klassiker aufmerksam zu machen, wurde in exemplarischen Inszenierungen von Bischoff in Breslau und von Ernst Hardt in Köln genutzt, wobei in den 20er Jahren zum Beispiel die Woyzeck-Inzenierungen Bischoffs und Hardts die damalige Büchner-Renaissance wesentlich multiplizierten, die Horvath-Renaissance nach dem 2. Weltkrieg im Rundfunk ihren Anfang nahm.

Gehören diese Adaptionen mehr der Theater- als der Hörspielgeschichte an, hat sich die Adaption epischer Vorlagen durchaus einen Platz in der Hörspielgeschichte gesichert. Allerdings wird man auch hier genauer differenzieren müssen, als dies bisher geschehen ist.

Daß man, in Ermanglung originärer Hörspiele, neben der Adaption von Theaterstücken auch auf die Adaption geeigneter epischer Vorlagen verfiel, war naheliegend. Meist blieb und bleibt dies Literaturvermittlung durch den Rundfunk, Literatur als Hörspiel. Ich beschränke mich auf die Nennung weniger Belege, zu denen ich Heinrich von Kleists "Michael Kohlhaas" in der Bearbeitung durch Arnolt Bronnen, Theodor Fontanes "Unterm Birnbaum" in der Bearbeitung durch Günter Eich ebenso zähle wie Hörspielfassungen der Monolognovellen "Leutnant Gustl" von Arthur Schnitzler und "Schwester Henriette" von Hermann Kesser. Solche Novellen- sowie die zumeist mehrteiligen Romanadaptionen sind notdürftiger Leseersatz und interessant nur dort, wo sie - nach dem 2. Weltkrieg zum Beispiel - lange Zeit nicht oder nur schwer zugängliche (Welt)Literatur vermitteln.

Von diesen Adaptionen deutlich zu unterscheiden sind vom Autor selbst vorgenommene Hörspielbearbeitungen, wie Alfred Döblins "Geschichte vom Franz Biberkopf" nach dem Roman "Berlin Alexanderplatz", wo bereits der Titel zeigt, unter welchem Aspekt Döblin seinen komplexen Roman vereinfacht hat. (Wobei der Fall Döblin insgesamt mediengeschichtlich bedeutsam ist, weil es neben der Hörspieladaption ferner eine Filmfassung gibt und der Roman zunächst als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung erschienen war - ein Unternehmen also in allen Medien).

Innerhalb dieses Adaptionstypus, den ich als literarisches Hörspiel kennzeichnen möchte, hat sich als Sonderform ein Hörspiel entwickelt, das in seiner Realisation die adaptierte Vorlage gewissermaßen subjektiviert, wobei es vor allem zwei Regisseure sind, die hier zu nennen wären: Max Ophüls mit seinen Adaptionen von Goethes "Novelle" und Schnitzlers "Berta Garlan". Sowie Heinz von Cramer, von dessen inzwischen zahlreichen Adaptionen ich "Maldoror, den alten Ozean grüßend", nach Lautreamont, herausgreife. Gerade Max Ophüls oder Heinz von Cramers Adaptionen, und noch mehr André Almuros "Nadja Etoile" (nach Breton) oder Paul Pörtners "Alea , in seiner Umsetzung von Stéphane Mallarmés "Un coup de des" demonstrieren vorzüglich, in welcher Formenvielfalt und Mediengerechtigkeit literarische Hörspiele heute möglich sind.

Neben dieser Position des Literatur adaptierenden Hörspiels wird bereits in den frühen theoretischen Auseinandersetzungen die Position des Hörspiels als eines Sprach- oder Wortkunstwerks besetzt, des Hörspiels als Literatur. "Der Weg des Hörspiels im Rundfunk weist auf die intensivste Verinnerlichung des Wortes, der Sprache und ihres Inhalts", bringt dies 1925 Julius Witte vom Mitteldeutschen Rundfunk auf die Formel. Und Hardt sekundiert ihm noch 1929, wenn er schreibt: "Das Urelement der dramatischen Partitur scheint mir das Wort, scheint mir die Sprache zu sein, und der Rundfunk bedeutet die Re-inthronierung ihrer ursprünglichen Macht, die wir fast vergessen hatten. Der Hörspieler (. . .) ist für seine Wirkung einzig und allein gestellt auf die seelische und gedankliche Erfülltheit seines Innern, das sich nicht anders als in den tausendfachen Tönungen des gemeisterten Wortklanges offenbaren kann, Vertiefung in die Dichtung heißt für ihn also Leben und Sterben."

Diese Auffassung vom Wortkunstwerk, dieses Verständnis vom Hörspiel als Literatur (einen dahinter sich verbergenden fraglichen Literaturbegriff einmal außen vor gelassen) konnte sich zunächst durchsetzen und die Geschichte der Gattung bis Ende der 60er Jahre bestimmen. Sie erfuhr ihre erste theoretische Ausformung in Aufsätzen Richard Kolbs, die er 1932 zum "Horoskop des Hörspiels" zusammenfaßte. Und sie hatte ihren ersten Höhepunkt in Eduard Reinachers laienspielnahem "Der Narr mit der Hacke", der in einer für diese Hörspielposition modellhaften Inszenierung durch Hardt als Tondokument erhalten blieb.

"Man war sich damals schon einig", versichert noch 1964 Heinz Schwitzkes "Dramaturgie und Geschichte" des Hörspiels ihren
Lesern, "daß dieser Dichter der Idee des Hörspiels näher gekommen war als irgendein anderer bis dahin, und wir können dem heute nur beipflichten." Schon zwei Jahre vorher hatte sich Schwitzke festgelegt, daß erst "eigentlich mit Reinacher und diesem Stück (. .) die Geschichte des modernen Hörspiels" anfange, zur Erfüllung zu gelangen ". Denn Reinacher habe "in diesem Werk zum erstenmal verwirklicht, was später Günter Eich in seinen Stücken zu voller Reife entwickelt hat: ein lyrisches Sprachwerk, bei dem alle Sichtbarkeit irrelevant ist, das vor uns heruntermusiziert wird wie ein Musikwerk aus Sprache, und das direkt (. . .) in die Seele des Lauschers aufgenommen werden kann."

Als Schwitzke Günter Eich derart der Tradition des Wortkunstwerks einordnete und auf das Hörspiel der Innerlichkeit festschrieb, hatte sich Eich längst dieser Festlegung und Fehldeutung zu entziehen versucht, unter anderem dadurch, daß er begann, frühere Hörspiele ins Unsinnige umzuschreiben, darunter "Blick auf Venedig" (1952; Neufassung 1960) und "Die Gäste des Herrn Birowski" (1952; Neufassung u.d.T. "Meine sieben jungen Freunde", 1960). Auf Zweierlei ist bei diesen Neufassungen zu achten: in "Blick auf Venedig" auf die Forderung einer Blindensprache, da sie der Sprache der Sehenden überlegen sei; in "Meine sieben jungen Freunde" auf die Sprache und Grammatik des Hesperidischen, die erst gebraucht und verstanden werden, wenn die Raumfahrt den Planeten Hesperus, die Venus und den Abendstern erreicht haben werden.

Aus dem heutigen Abstand ist es relativ leicht, zu erkennen, daß Eich diese Änderungen vornimmt, als sich eine konkrete
Literatur zu etablieren beginnt und etwa gleichzeitig auch ein zunehmendes Interesse an der Literaturrevolution einsetzt. Eich hat dies 1967 in einem Interview indirekt bestätigt, als er seine Entwicklung seit dieser Zeit "wirklich im dadaistischen Sinne" gesehen wissen wollte. "Gerade weil ich finde", sagt er es im Gespräch, "gerade weil ich finde, daß Sprache unbenutzbar sein sollte, halte ich diese ganz extremen Dichtungsformen, die mit Buchstaben und sonstwas arbeiten, heute für ungeheuer wichtig und komischerweise auch für politisch wichtig" (IV, 408 f.).

Damit entfernt sich Eich aber nicht nur radikal vom Wortkunstwerkverständnis seiner damaligen Interpreten, sondern er rückt zugleich ins Vorfeld einer Hörspielentwicklung, die seit Ende der 60er Jahre unter dem umstrittenen Stichwort eines Neuen Hörspiels subsumiert wird.

Daß Kolbs Hörspielhoroskop hörspielgeschichtlich bis in die 50er Jahre und sogar noch darüber hinaus so folgenreich werden konnte, hat aber noch einen besonderen Grund. Es wurde nämlich konkurrenzlos, nachdem weitere und wichtigere Hörspielansätze mit Machtübernahme durch die Nationalsozialisten praktisch nicht mehr zugänglich waren und alsbald in Vergessenheit gerieten. Überlegungen Bertolt Brechts zum Beispiel zum "Rundfunk als Kommunikationsapparat", Walter Benjamins zum Beispiel zu "Zweierlei Volkstümlichkeit", zum Problem eines heute sogenannten Feedback. Auch die Döblinsche These des Hörspiels als einer Mischform wurde erst 1950, und selbst da noch an abseitiger Stelle, gedruckt und blieb derart für das Nachkriegshörspiel ebenso unberücksichtigt wie Arno Schirokauers Vorstellung eines Hörspiels der offenen Form, die sich sämtlicher Bestandteile des Rundfunkprogramms assimilierend bedienen dürfe: "Der Begriff des Hörspiels gestattet jedem, alles, was er will oder kann, darunter zu verstehen."

Als Helmut Heißenbüttel 1968 dem Hörspiel erneut das "Horoskop" stellte, war dies eine längst fällige Auseinandersetzung mit
Kolbs Hörspielvorstellungen der Innerlichkeit, des "Immateriellen", des "überpersönlichen", des "Seelischem im Menschen" als den eigentlichen Inhalten des Hörspiels.

Wenn Heißenbüttel in seinem "Horoskop", das für das Neue Hörspiel eine ähnliche Bedeutung gewann wie Kolbs "Horoskop" für das Hörspiel der Innerlichkeit, wenn Heißenbüttel in seinem "Horoskop" abschließend konstatiert: "Alles ist möglich. Alles ist erlaubt", dann zitiert er indirekt und ohne es zu wissen Arno Schirokauer, gewinnt er theoretisch - wenn auch auf dem neuen Stand seiner technischen Möglichkeiten - für das Hörspiel eine Position zurück, die in Vergessenheit geraten war. Dieser Rückgewinn vergessener Ansätze ist für das, Heißenbüttels "Horoskop" folgende theoretische und praktische Bemühen um das Hörspiel charakteristisch und forderte dazu auf, auch eine historische Neuorientierung zu versuchen. Damit ließen sich das Hörspiel und seine Theorie noch einmal auf eine Position ein, die hörspielgeschichtlich neben der Position des Sendespiels, der Adaption epischer Vorlagen und der Position des Hörspiels als Literatur, als Wortkunstwerk von Anfang an besetzt war als Position des akustischen Spiels, des Hörspiels als Gattung des akustischen Mediums, als Radiokunst.

Ein Jahr nach Erstsendung des Reinacherschen "Der Narr mit der Hacke", 1931, stellte Friedrich Bischoff für die Funkausstellung und Phonoschau in Berlin sein schon genanntes "Hörspiel vom Hörspiel" zur Diskussion, überzeugt, daß "beinahe alles noch zu tun" sei. Diese Überzeugung ist ebenso auffällig wie die Tatsache, daß Bischoffs "Hörspiel vom Hörspiel" den Typus des Hörspiels als Literatur, des Wortkunstwerks gar nicht enthält. Diese Abstinenz ist umso bemerkenswerter, weil Bischoff (wie auch Hardt in Köln) von Haus aus Schriftsteller war und sich als künstlerischer Leiter, dann Intendant der Breslauer Funkstunde durchaus um die Vermittlung von Literatur durch den Rundfunk bemühte, sei es auf der Suche nach geeigneten Präsentationsformen, sei es im Bemühen um das Sendespiel. Eine Erklärung für diese auffällige Abstinenz fällt nicht leicht, bedingt auch durch Unkenntnis hier einschlägigen Materials. Doch die Vermutung liegt nahe, daß Bischoff die Vermittlung von Literatur durch das Rundfunkprogramm schätzte und förderte, daß er aber einem Hörspiel als Literatur mißtraute. Anders als bei Hardt war sein Problem nämlich nicht, von der Literatur zum Rundfunk und Hörspiel zu kommen, sondern umgekehrt vom Rundfunk und seinen sich entwickelnden technischen Möglichkeiten zum Hörspiel. Bischoff ging es also nicht darum, eine für den Rundfunk geeignete oder geschriebene Literatur mit den Mitteln des Mediums zu adaptieren und umzusetzen, sondern darum, mit und aus den Mitteln des Mediums ein künftiges Hörspiel zu entwickeln, dessen künftige Form und Spielbreite er 1931 erst im Ansatz sah. Wo Kolb bereits von einem scheinbar gesicherten Hörspielbegriff und -verständnis ausging, war für Bischoff "beinahe alles noch zu tun". Wo der vom Theater und Sendespiel herkommende Hardt mit seiner Inszenierung des "Narr mit der Hacke" ein Musterbeispiel einer neuen literarischen Gattung (Gattung der Literatur) schuf, spricht Bischoff von einer vielfältigen Arbeit am Hörspiel", von work in progress.

Ein derartiges work-in-progress-Verständnis findet sich damals wiederholt, u.a. bei Alfred Döblin, der 1929 in seiner schon genannten Rede über "Literatur und Rundfunk" die negative Bestimmung des Hörspiels durch Hans Flesch, daß ein künftiges "Hörspiel weder Theaterstück, noch Novelle, noch Epos, noch Lyrik sein werde, durch den Prospekt ersetzt, das künftige Hörspiel müsse sich - als Mischform - "lyrischer", "epischer", "auch essayistischer Elemente" bedienen, sich zugleich aber auch "die anderen Möglichkeiten des Rundfunks, Musik und Geräusche, für (seine) Zwecke nutzbar machen". Um dies zu erreichen, gelte es, sich von den Adaptionen epischer und dramatischer Literatur frei zu machen, da sie nicht Kunst, sondern nur Abklatsch oder Kunsttorso oder Bericht von Kunst" seien. Wolle der Rundfunk sich Literatur "auf eigene Weise assimilieren", habe er sich "wie Antäus auf seinen eigenen Boden" zurückzubewegen.

Dieser "eigene Boden" war der Sendesaal, später das Studio, Orte, auf die sich die Hörspieldiskussion auffallend häufig bezieht. Vordergründig, wenn neue technische Errungenschaften, zum Beispiel die Einrichtung eines Echoraums, die Entwicklung eines Klangreglers mitgeteilt werden. Indirekt, wenn Bischoff, bezogen auf das akustische Spiel oder, wie er es auch nennt, das "phonetisch-akustische Gesamtkunstwerk" betont, "daß akustische Dramaturgie ohne technische Dramaturgie nicht zu denken" sei.

Als "Werkstatt des Funkdichters, des Funkregisseurs und des Funkspielers" versteht 1929 der Intendant des Nordddeutschen
Rundfunks, Hans Bodenstedt, das Studio, überzeugt, das "jeder Sendevorgang im Studio, sofern es sich nicht um einen Vortrag oder ein Musikstück" handle, "die Grundelemente" des Hörspiels in sich trage. Dabei könne letztlich jeder Raum, "in dem ein Mikrophon aufgebaut" werde, Studio sein. "Ein Zimmer oder Saal im Funkhaus, das Theater, die Musikhalle, der Sportplatz, die Rednertribüne, der Hörsaal, das Maschinenhaus, die Straße, das Motorschiff, der Zoo (. ..), die ganze Welt bietet sich als Studio dar." Für das Hörspiel sei dies neben der selbstverständlichen dramatischen eine zweite, wichtigere, weil noch unbekannte "akustische" Herausforderung, für die der "künstlerische Experimentalfunk (. . .) die Voraussetzungen überhaupt erst schaffen" müsse.

Nicht viel anders erklärt Hans Flesch anläßlich der Eröffnung des Studios der Berliner Funk-Stunde: "Für den Rundfunk, diese wundervolle Synthese von Technik und Kunst auf dem Wege der Übermittlung, gilt der Satz: im Anfang war das Experiment". Und Flesch ergänzt an anderer Stelle für den "bildenden und künstlerischen Teil des Rundfunks, soweit er sich im Senderaum" abspiele, daß man "sich noch mehr als bisher der Technik anpassen und zu seiner höchsten Vollkommenheit sich aller technischen Mittel bedienen" müsse.

Die hörspielgeschichtliche These, die ich hier vortragen und, soweit dies in einem Vortrag möglich ist, belegen möchte, lautet nun, daß sich - bedingt durch die geschichtliche Entwicklung und die Literaturvorstellungen bzw. -mißverständnisse der Verantwortlichen - nach Sendespiel und Adaption literarischer Vorlagen zunächst die Position des Hörspiels als Literatur durchsetzen konnte und die Hörspielgeschichte bis in die 60er Jahre wesentlich konturierte. Daß dagegen die Position des akustischen Spiels von einigen Ausnahmen abgesehen - eigentlich erst mit dem Neuen Hörspiel zu breiterer Entfaltung kam. Daß erst infolge des Neuen Hörspiels bis heute in größerer Breite eingelöst wird, was als eine dritte Tendenz der Hörspielgeschichte genetisch eingeschrieben war. Man kann dies ein wenig verkürzen und sagen, daß die drei Ausgangspositionen, die dem Hörspiel synchron eigen war, seine Entwicklung auch diachron bestimmt haben.

Daß diese Einlösung der hörspieltheoretischen und hörspielpraktischen Ansätze zunächst weitgehend in Unkenntnis der Vorgaben erfolgte, habe ich bereits angedeutet. Auf derselben Hörspieltagung, auf der Heißenbüttel mit seinem Diktum, alles sei möglich, alles sei erlaubt, ohne es zu wissen Arno Schirokauer zitiert, greift Paul Pörtner, ohne dies zu wissen, einen Gedanken Hans Fleschs wieder auf. Sagte dieser anläßlich der Eröffnung des Studios der Berliner Funk-Stunde (1929): "Das Programm kann nicht am Schreibtisch gemacht werden", pointiert Pörtner 1968 in einem Vortrag über "Schallspiele und elektronische Verfahren im Hörspiel": "Ich vertausche den Schreibtisch des Autors mit dem Sitz am Mischpult der Toningenieurs."

Wo vorher der Autor sein Manuskript ablieferte, das dann auf dem Wege durch die Dramaturgie in den Regieraum oft zahlreichen, zum Teil sogar entstellenden Eingriffen ausgesetzt war - in Parenthese: Günter Eichs spätere Hörspielumschriften sind nicht nur Ausdruck seiner sich verschärfenden literarischen Ansichten, sondern auch Reaktion des Autors auf seinen Intentionen zuwiderlaufende, dramaturgische Eingriffe - wo vorher der Autor sein Manuskript zur Weiterverarbeitung ablieferte, nimmt jetzt der Autor-Regisseur die Realisation in die eigene Verantwortung, tritt an die Stelle des ausformulierten Manuskripts oft nur eine Arbeitsvorlage, eine Partitur.

Diese Aufhebung der Arbeitsteilung zwischen Autor, Dramaturg und Regisseur ist weniger überraschend, blickt man in die
Frühgeschichte des Hörspiels zurück. Hatte Alfred Braun seine Experimente mit dem "akustischen Film" noch als Experimente mit der Form des Hörspiels entschuldigt, teilen Bischoff und der Filmemacher Walter Ruttmann diese Skrupel nicht, gehen vielmehr mit ihren Konzepten und Partituren ins Studio, um dort ihre Hörspielvorstellungen zu realisieren. Man könnte sie, zusammen mit Braun, durchaus als frühe Hörspielmacher bezeichnen, und ihre "akustischen Filme", die Hörspiele "Hallo! Hier Welle Erdball!!", "Menschheitsdämmerung" und "Weekend" als entscheidende Stationen auf dem Wege zum akustischen Spiel werten.

Ein solches Hin und Her der Bezüge zwischen dem Hörspiel seit den endsechziger Jahren und Hörspielvorstellungen und
-ansätzen des Weimarer Rundfunks wartet bislang noch auf seine genauere Untersuchung, zu der ich im letzten Teil meines Referats einige Stichworte geben möchte, undzwar die Stichworte Schallspiel, Spiel im Studio, Stereophonie, Schnitt und Montage, Musik als Hörspiel/Hörspiel als Musik - Stichworte, die sich vermehren lassen.

Wenn Paul Pörtner einige seiner Rundfunkarbeiten "Schallspiele" nennt, verwendet er eine Bezeichnung, die schon 1924 in der Programmzeitschrift "Der deutsche Rundfunk" vorgeschlagen wurde für ein künftiges Rundfunkspiel, "dessen Zustandekommen wesentlich auf der Wirkung eines akustisch-elektrischen Vorgangs" beruhe. Frühe Versuche solcher Schallspiele haben sich nicht erhalten, doch gibt es einige wenige Kritiken und Diskussionsbeiträge, die indirekt den Schluß zulassen, daß es Realisationen gegeben haben muß, in denen "Ton gegen Ton, Schall gegen Schall" gesetzt wurde, die das "nur Akustische" anstrebten. Er könne sich "sehr gut vorstellen", notierte damals Kurt Weill, "daß zu den Tönen und Rhythmen der Musik neue Klänge hinzutreten (. . .), Klänge aus anderen Sphären: Rufe menschlicher und tierischer Stimmen, Naturstimmen, Rauschen von Winden, Wasser, Bäumen und dann ein Meer neuer, unerhörter Geräusche, die das Mikrophon auf künstlichem Wege erzeugen könnte, wenn Klangwellen übereinandergeschichtet oder ineinanderverwoben, verweht und neugeboren werden würden."

Was Weill hier vorschwebte, war eine musikalische "absolute Radiokunst". Von "absoluter Funkkunst" sprach vier Jahre später auch Bischoff, von einem "Kunstprodukt", das "Wort und Musik" zusammenfüge "und in letzter endgültiger Totalität sich als akustisches Kunstwerk, als reines Hörspiel" darstelle.

Diese Überlegungen und die ihnen zugehörenden Experimente waren Friedrich Knilli weitgehend unbekannt, als er 1961 das "totale Schallspiel" proklamierte. Was ihn von seinen Vordenkern trennt, sind jedoch lediglich die inzwischen verbesserten und entwickelten technischen Mittel und Möglichkeiten sowie das Epitheton "total", das neben seiner geschichtlichen Belastung einen Absolutheitsanspruch erhebt, der ebenso unhaltbar ist wie der spätere ideologische Irrtum Knillis, man könne aus dem Distributionsapparat Rundfunk einen Kommunikationsapparat machen. Paul Pörtner, für den das Schallspiel nur eine Möglichkeit unter anderem war, hat deshalb zurecht in seinem Frankfurter Vortrag differenziert:

"Es ist müßig, ein 'totales Schallspiel' gegen das Hörspiel zu setzen: jede Totalisierung führt ad absurdum. Bloßes Schallspiel ist ebenso abstrakt wie bloßes Wortspiel. Aber mittels Schall den Gehörsinn zu mobilisieren, mittels kalkulierter Impulse Inspiration zu erzielen: mit einen ausgestrahlten Hörspiel das Selbstbewußtsein des Hörers zu bewegen, das bedeutet eine Steigerung der Wirkung, die aus dem Literarischen stammt, aber über die reine Vermittlung des Sprachlichen ins Unmittelbar-Sinnliche des Hörens vordringt."

Den ärgerlichen Eindruck einer unterbrochenen Tradition gewinnt man auch, wenn man Bodenstedts Überzeugung, "jeder Sendevorgang im Studio" trage mit Ausnahme von Vortrag oder Musikstück, "die Grundelemente des Sendespiels (= Hörspiels, R.D.) in sich: dramatische Spannung und akustischen Ausdruck" - wenn man diese Überzeugung Bodenstedts mit Mauricio Kagels Vorüberlegungen zu "(Hörspiel) Ein Aufnahmezustand" vergleicht:

"Jeder der sieben Mitwirkenden, der zu einer Studioaufnahme eingeladen ist, wird erst a posterion erfahren, daß nebensächliche Fragen und Antworten, spontane Äußerungen, ungezwungene Bemerkungen und Nebengeräusche Hauptinteresse dieser Produktion sind. Die von ihm kunstvoll artikulierten Klänge und Worte werden dagegen als notwendiger Abfall bestimmt."

Sieht man von der implizit enthaltenen Parodie des perfektionistischen Handlungshörspiel und der im Grunde musikalischen Absicht Kagels ab, besteht der Unterschied zu Bodenstedt eigentlich nur darin, daß Bodenstedt jeden Sendevorgang, Kagel bereits den Aufnahmezustand zum Hörspiel erklärt, ein Unterschied, der sich auch aus der verbesserten Studiotechnik, vor allem der Möglichkeit der Bandaufnahme begründet.

Als 1968 auf der Frankfurter Hörspieltagung die Möglichkeiten der damals noch neuen Stereophonie diskutiert wurden, reklamierte der damalige Hörspielleiter des Saarländischen Rundfunks, Heinz Hostnig, die stereophone Technik für die Realisationen experimenteller Literatur, da "die Stereophonie das Theatralische" des traditonellen Handlungshörspiels "zu seinem Nachteil" betone.

"Das Chaos an vorgefundener, vorgeformter Sprache, in spielerische Ordnung gebracht, das heißt mit Absicht filtriert, kombiniert und auf ein bestimmtes Ziel hin komponiert - ist das nicht ebenso gut ein Spiel wie das andere mit Figuren und kombinierten Handlungszügen? Und läßt sich mit derartigen Sprach- und Sprechspielen der stereophonische Hörraum nicht viel besser ausnützen als mit den herkömmlichen Figurenstücken, indem ich zu räumlichen Bewegungsabläufen komme, die etwa den sprachlichen entsprechen?"

Wiederum erfolgt ein Vorschlag ohne Kenntnis der Vorgeschichte. Kein Hinweis darauf, daß Hörspielvorstellungen und Realisationsversuche der sogenannten Stuttgarter Genietruppe, also Martin Walsers, Helmut Jedeles, Heinz Hubers, im monorauralen Rundfunk um 1950 Gedanken der Stereophonie bereits vorwegnahmen. Keine Erinnerung daran, daß Bodenstedt bereits 1929 Raumvorstellungen des Hörers nicht durch sprachliche Vermittlung, sondern "allein durch funkische Mittel (. . .) erreichen" wollte: "Als ein solches kann die Stereophonie betrachtet werden, die aber in der heute üblichen Form - Verteilung
parallel geschalteter Mikrophone im Senderaum - keineswegs genügt, vielmehr analog der Stereoskopie durch Ausbildung jedes einzelnen Mikrophons als stereophonisches Doppelmikrophon vervollkommnet werden müßte. Wie zwei Augen erst ein plastisches Sehen ermöglichen, so zwei Ohren ein räumliches Hören. Der stereophonische Funk bleibt eine Forderung der Zukunft."

Der Saarländische Rundfunk war als einer der ersten stereophon ausgerüstet. So konnte er auch, als einer der ersten, Autoren auf diese neue technische Möglichkeit hinweisen und wandte sich dabei aus den bereits zitierten Überlegungen heraus vor allem an experimentelle Autoren, die ihrerseits sehr unterschiedlich und spielfreudig auf das neue technische Angebot reagierten. Einer der Autoren, die erst über die Stereophonie zum Hörspiel gestoßen sind, war Franz Mon, der sich neben ihrer praktischen Erprobung auch Gedanken über ihre Konsequenzen für das Hörspiel gemacht hat:

"erst wenn die - sowieso beschränkte - stereophonie nicht als wahmehmungsillusion, sondern als syntaktisches mittel zur ordnung von hörereignissen verstanden wird, kann sie mit der syntax der zeitverläufe in beziehung treten, räumliche positionen und zeitliche verläufe dienen dann der ordnung und beziehung desselben materials."

Man kann die technischen. Bedingungen und Möglichkeiten des Rundfunks ganz formal als die syntaktischen Bedingungen des Hörspiels ansehen. Für Franz Mon ist die Stereophonie derart ein "syntaktisches mittel". Und Paul Pörtner hatte für sich reklamiert: "Meine Syntax ist der Schnitt".

Fraglos wurde durch die Möglichkeit des Schnitts die Syntax des Hörspiels entschieden erweitert, umso mehr, weil bei Einführung des Tonbands nach dem Kriege der Schnitt als technische Voraussetzung reizvoller Filmmontagen vielfältig erprobt war. Hörspielgeschichtlich begegnet der Schnitt ein erstes Mal in der Weimarer Republik. Auf der Suche nach geeigneten Aufzeichnungsmöglichkeiten experimentierte man damals auch mit Tonfilmstreifen, war Hans Flesch schon 1928 überzeugt, daß bei einer künftigen Entwicklung des Hörspiels "aus dem Mikrophon" heraus "nur der Tonfilm (. . .) in der Lage" sein werde, "den Willen des Regisseurs bis ins Letzte auszuführen." "Bei einem auf Tonfilm aufgenommenen Hörspiel kann nach Abhören durch Schneiden, Überblenden, Absetzen usw. ein Gebilde geschaffen werden, das der Regisseur als vollständig gelungen betrachtet und nunmehr abends dem Hörer darbietet."

Das Experimentieren mit Tonfilmstreifen war durchaus erfolgreich. Zwei Produktionen sind bekannter geworden: Bischoffs Neuinszenierung von "Hallo! Hier Welle Erdball!!" und Walter Ruttmanns "Weekend", doch ist dieser Fund besonders wichtig, da Ruttmann als Filmemacher einschlägige Erfahrungen mit Schnitt und Montage in seine Realisation und damit in die
Hörspielgeschichte einbrachte. Darf man hier ein wenig spekulieren, läßt sich vermuten, daß Bischoff und Ruttmann damals die Möglichkeiten des Schnitts durchaus verschieden genutzt haben. Bischoff vor allem zur schlackenlosen Verbindung längerer und kürzerer Spielsequenzen und damit alternativ zur Technik der Blende, die in Breslau experimentell entwickelt wurde, Ruttmann aus den Erfahrungen experimenteller Filmmontagen heraus auch und vor allem als Kompositionsmittel.

Hans Richter hat Ruttmanns Hörspielmontage in die Nähe von Kurt Weills Prospekt einer "absoluten Radiokunst" gerückt. In "Weekend", zitiert Richter zunächst das Lob Wsewolod Illarionowitsch Pudowkins, habe Ruttmann "das Problem des Tons durch assoziative Montage auf die freieste Weise und grundsätzlich gelöst. Und Richter fügt hinzu: "Dadurch, daß Ruttmann den Ton nicht wie im Sprechfilm naturalistisch behandelte (. . .) sondern schöpferisch-musikalisch", habe er "tatsächlich die künstlerische Domäne des Tonfilms bestimmt. Aus isolierten Tonimpressionen bildete er neue Einheiten: vom Drängeln und Pusten der Sonntagsausflügler auf dem Bahnhof, dem Rattern des Zuges, dem Trampeln, Singen und Schimpfen, dem Schnarren, Spielen und Zanken der Ausflügler bis zur Stille der Landschaft, nur unterbrochen vom Flüstern der Liebenden, bis zum Heimschleppen der weinenden Kinder - alles im Ton wie eine Perlenkette aneinander gereiht." (Köpfe und Hinterköpfe, 156).

Trotz seiner vielbeachteten Aufführung durch die Funk-Stunde Berlin, seiner Einschätzung als eines "Meisterwerks (. . .), das auch heute noch dem Studenten des schöpferischen Tons Anregungen und Einsicht geben sollte", blieb Ruttmanns "Weekend" hörspielgeschichtlich folgenlos, wird es in den einschlägigen Hörspielgeschichten nicht einmal dem Titel nach erwähnt. Dabei müßte sich die Hörspielforschung noch aus einem zweiten Grunde seiner annehmen, nämlich wegen seiner Affinität zum Film. Denn "Weekend" wurde ja nicht nur auf Tonfilmstreifen aufgezeichnet, geschnitten und montiert, in seine Komposition sind, wie die Erinnerung Richters belegt, auch allgemeiner Erfahrungen des Filmemachers eingegangen. Damit aber wird in einem weiteren Punkt der Vergleich mit Kurt Weill interessant, der seine Vorstellungen von einer "absoluten Radiokunst" gleichfalls auf eine "wirklich eigene Filmkunst (ohne) Handlung, Thema oder auch nur inneren Zusammenhang" bezogen hatte. Der absolute Film sei eine "'melodische' Kunst", die "nach (. . .) musikalischen Gesetzen erarbeitet sei. Die "absolute Radiokunst" sei eine Erweiterung der Musik. Aber nicht nur Weill, auch Bischoff, Flesch, Alfred Braun und andere haben sich in ihren Überlegungen zu einer rundfunkeigenen Kunst immer wieder auf den Film bezogen. Und ein weiterer "Geniestreich" (Richter) Ruttmanns, die 'Wochenschau' "Melodie der Welt" berührt die Hörspielgeschichte wenigstens am Rande.

"Zu Beginn des Films", zitiere ich noch einmal Hans Richter, "Zu Beginn des Films ertönen im nebligen Hafen von Hamburg (man sieht nur vage Umrisse) die Nebelsirenen der Schiffe. Einige haben hohe, andere haben tiefe Töne, manche sind kurz, manche lang, manche haben mehrere Sirenen oder benutzen die eine stoßweise, andere hingegen in langen klagenden Seufzern. Ruttmann machte daraus eine regelrechte Symphonie von Tönen, die eine neue musikalische Dimension erleben lassen, wie sie heute in der musique concrete 'wiederentdeckt' wurde."

Diese hier an einem Beispiel skizzierte Bedeutung des Films und seiner Ästhetik für die Entwicklung des Hörspiels ist von den Sachverwaltern des Hörspiels als Literatur, als Wort- und Sprachkunstwerk ebenso vergessen, wenn nicht sogar verdrängt worden, wie die konstitutive Rolle der Musik. Wobei diesem Vergessen zu Hilfe kam, daß sich das teure Verfahren der Aufzeichnung auf und Montage von Tonfilmstreifen finanziell nicht durchsetzen ließ. So blieb es zunächst bei der Praxis der Blende, an der man auch dann noch festhielt, als nach Einführung des Tonbands der kompositorische Einsatz des Schnitts leicht möglich gewesen wäre. Noch 1963 galt Heinz Schwitzke die Blende als das "modernste Kunstmittel", als "ein neues Ordnungsprinzip". Und dies in einem Maße, das für die Hörspiele der Innerlichkeit fast von einer Ideologisierung der Blende sprechen läßt. So wurden die kompositorischen Möglichkeiten des (harten) Schnitts 1965 eher zufällig wiederentdeckt während einer Produktion des Süddeutschen Rundfunks, bei der Heinz von Cramer Regie führte.

Es scheint mir kein Zufall, daß, nachdem Zunächst ein Filmemacher den Hörspielmachern die kompositorischen Möglichkeiten des Schnitts demonstrierte, es jetzt ein Regisseur und Musiker ist, der die kompositorischen Möglichkeiten des Schnitts (wieder)entdeckt. Wie es weiterhin kaum Zufall ist, wenn Heinz von Cramer in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Regisseure nicht nur des Neuen Hörspiels wird, für das der Schnitt mit seinen Möglichkeiten eine ähnliche Bedeutung bekommt, wie die Blende sie für das Hörspiel der Innerlichkeit hatte.

Das Originaltonhörspiel - auch dieses ja in den 20er Jahren unter anderem durch Bischoff im Ansatz erprobt und vorbereitet - das Originaltonhörspiel hätte sich zum Beispiel ohne Schnitt, Montage/Collage des aufgezeichneten Materials kaum in seinen Spielformen entfalten können.

Die Begriffe Montage/Collage sind in ihrem Gebrauch nicht immer deutlich zu trennen. Ohne sich hier auf eine grundsätzliche Diskussion einzulassen, läßt sich eingrenzen, daß Montage (wie beim Film) den technisch-formalen Vorgang des Zusammenfügens bezeichnet. So gesehen werden die Einzelaufnahmen jedes Hörspiels montiert. Erfolgt diese Montage, um Sprünge, Brüche, Widersprüche hörbar zu machen, Ordnungen in Frage zu stellen, wäre dagegen von Collage zu sprechen. In diesem Sinne hat Heinrich Vormweg die Collage als "das Ergebnis des Zweifels an den gewohnten Zuordnungen" zu erklären versucht. Sie hebe "die Subjekt-Objekt-Prädikat-Beziehung und ihre Überhöhung in der Gestalt auf", gehe aus "von gleichberechtigten Sprechstücken", melde aber "damit auch Zweifel an, wo diese die genannten Beziehungen enthalten. Dabei mag sie auf den ersten Blick als eine in geringerem Maße entwickelte Form erscheinen. Tatsächlich aber ist die Collage etwas anderes als Form im traditionellen Sinn. Sie artikuliert Fragen, nicht Antworten, fordert heraus, statt zu bestätigen, zu bejahen, besteht auf dem einzelnen, statt von ihm in Zusammenhänge, in Allgemeines abzulenken.

Ein solcher Collage-Begriff entspricht entfernt dem Montagebegriff der Literatur, ist aber in seinem Verständnis wohl eher durch Erfahrungen der bildenden Kunst geprägt, die diese im Spannungsfeld zwischen Collage und Decollage gemacht hat. Das Hörspiel der letzten zwanzig Jahre kennt beides und hat hier eine Fülle von Beispielen hevorgebracht, auf die ich mich in meinem Überblick nicht einlassen kann. Was mich in diesem Zusammenhang ausschließlich interessiert sind die "Schallspiele" Pörtners und die "Hörtexte" Ferdinand Kriwets, bzw. ihre technische Beschreibung, die in beiden Fällen den Terminus Montage verwendet.

Was dabei für Pörtner 1968 auf der Frankfurter Hörspieltagung noch Prospekt ist - "Meine Aufzeichnung wird über Mikrophone,
Aufnahmegeräte, Steuerungen, Filter auf Band vorgenommen, die Montage macht aus vielen hundert Partikeln das Spielwerk" -
das ist bei Kriwet 1969 bereits Arbeitsbericht, wobei noch eine letzte Arbeitsteilung aufgehoben wird, die nämlich zwischen Autor/Regisseur und Technik:

"Hörtexte verwenden theoretisch alle Möglichkeiten der menschlichen und auch künstlichen Stimmerzeugung sowie alle elektro-akustischen Möglichkeiten ihrer Analyse und Synthese mittels Aufnahme, Transformation und Montage. Neben unterschiedlichen Aufnahmepraktiken und der Verwendung spezieller Mikrophone sind vorläufig Schnitt und Mischung die in meiner Arbeit dominierenden Praktiken."

Hörtexte dieser Art ließen die Kritik fragen, ob es sich hier noch um Literatur oder schon um Musik oder um was es sich bei ihnen sonst handle, da der kompositorische Umgang mit dem vorgefundenen sprachlichen Material nach den Spielregeln der Rundfunktechnik das Material in einen akustischen Zustand überführe, der nur mehr wenig mit Sprache zu tun habe. Aber war eine solche Fragestellung überhaupt angemessen, war sie, vor allem beim akustischen Spiel, sinnvoll? Ich meine nein.

Schon die Liste der Hörspielpreisträger seit Ende der 60er Jahre gibt hier erste Hinweise, denn sie enthält unter anderen auch die Namen von Komponisten wie Mauricio Kagel, John Cage, Luc Ferrari, Heiner Goebbels etc. Einen weiteren Hinweis liefert die Umwidmung des Karl-Scuka-Preises, der - ursprnglich lediglich für Hörspielmusik ausgeschrieben - eingedenk der zwischen den einzelnen Kunstarten fließend gewordenen Grenzen, eingedenk des Hörspiels als einer spezifischen Mischform, seit 1970 auch für in Sprache, Geräusch und Musik nach musikalischen Formprinzipien behandelte radiophonische Produktionen verliehen wird.

Bringt man das Problem zunächst auf die Formel Hörspiel und Musik / Musik und Hörspiel, so ist dieser Aspekt so alt wie das Hörspiel selbst und nur durch das lange Zeit dominierende Worthörspiel verdeckt gewesen. Mustert man nämlich die frühen Vorstellungen eines Rundfunkkunstwerks, wird entweder - etwa bei Hans Flesch - von einem musikalischen Eigenkunstwerk und dem Hörspiel gleichgewichtig gesprochen:

"Vielleicht wird einmal aus der Eigenart der elektrischen Schwingungen, aus ihrem Umwandlungsprozeß in akustische Wellen etwas Neues geschaffen, das wohl mit Tönen, aber nichts mit Musik zu tun hat; ebenso wie wir davon überzeugt sind, daß das Hörspiel weder Theaterstück, noch Epos, noch Lyrik sein wird" -

oder man nimmt das künftige Eigenkunstwerk des Rundfunks als eine Mischung aus beidem an, wobei die Musik oft sogar voransteht. So beim Frankfurter Intendanten Ernst Schoen, für den es eine ausgemachte Sache war, daß künftige Hörspiele "im wesentlichen von rundfunkgeeignetem Stoff und - als kunstvollstem Rundfunkmaterial - möglichst von der Musik ausgehen" müßten.

Trotz intensiveren Bemühens der Musiker um das Hörspiel, wobei neben Weill hier vor allem Paul Hindemith und Ernst Toch zu nennen wären, kam es zu einem die Grenze zwischen Literatur und Musik aufhebenden Eigenkunstwerk des Rundfunks zunächst nicht. Allenfalls als Kompromiß bezeichnet werden könnte das häufiger erprobte "Hörspiel mit Musik", dessen Spielbreite durch Brecht/Hindemith/Weills "Lindberghflug" auf der einen und Erich Kästners/Edmund Nicks "Leben in dieser Zeit" auf der anderen Seite in etwa angedeutet ist. Ansonsten wirkte sich die im Weimarer Rundfunk erfolgende schrittweise Trennung von Musik und Hörspiel für beide durchaus nachteilig aus, verhinderte zunächst, daß Grenzüberschreitungen, wie sie für die Künste des 20. Jahrhunderts gang und gäbe sind, für die Mischform Hörspiel produktiv wurden. Spätere Ausnahmen, wie die Entwicklung einer musique concrète im "Club d'Essai" der ORTF, die man durchaus in der Tradition von Experimenten Hindemiths und Tochs hören kann, waren die sprichwörtlichen Ausnahmen von der Regel und für die deutsche Hörspielgeschichte zunächst folgenlos.

Aufgehoben wurde diese unsinnige Trennung von Musik und Hörspiel erst Ende der 60er Jahre, wenn man datieren will mit dem Tag, an dem Mauricio Kagel Musiker und Sprecher ins Studio des Westdeutschen Rundfunks einlud, um Aufnahmen von einer Aufnahme zu machen, und diesen 'Aufnahmezustand' als Hörspiel erklärte. Mit ähnlicher Konsequenz ersetzte er die allgemeinere Formel Hörspiel und Musik / Musik und Hörspiel durch die Hypothese "Musik als Hörspiel" und veranstaltete unter diesem Motto die VII. Kölner Kurse für Neue Musik.

"Wird Musik als Hörspiel deklariert", notierte er dazu, "dann ist man grundsätzlich vom Zwang befreit, alles Sprechbare singen zu lassen, oder die Worte so zu artikulieren, daß Verzerrungen unvermeidbar sind. Das Komponieren von Hörspielen soll kein Ersatz für alle anderen Möglichkeiten der Verwendung von Sprache in der Musik sein, sondern eine legitime Form mehr, welche allerdings eine semantische Entschärfung des Wortes vermeidet. Das musikalische Material kann im Kontakt mit dem Hörspiel bereichert werden und vice versa."

Dieses vice versa: die Bereicherung des Hörspiels hat sich in Hörspielproduktionen bis heute bewiesen, und dies nicht nur dort, wo seither immer wieder "Komponisten als Hörspielmacher" in Erscheinung traten, was entwicklungsgeschichtlich über die Acustica international 1985 zur Ars acustica und dem Thema des morgigen Tages führt. Bewiesen hat sich diese Bereicherung auch dort, wo Regisseure wie Heinz von Cramer, von der Musik herkommend, in den letzten Jahren mit zahlreichen eigenen Hörspielen nach literarischen Vorlagen inhaltlich und formal die Nachbarschaft von Musik und Hörspiel in gleichsam musikalischen Inszenierungen unter Beweis gestellt haben.

Ich breche hier ab. Die genannten Beispiele und Zitate sollten ausreichen, die These zu erhärten, daß die synchronisch in der Hörspielgeschichte angelegten Grundpositionen die Entwicklung auch diachronisch bestimmt haben, daß der Phase des Sendespiels, der Adaption literarischer Vorlagen eine Phase des Wortkunstwerks, und daß dem Hörspiel als Literatur das akustische Spiel folgte. Dabei hat die Rückbesinnung auf ein rundfunkeigenes Spiel mit und aus den Mitteln wie zu den Bedingungen des Mediums - ein auffällig starker, auch inhaltlicher Medienbezug wäre hier ein weiteres Indiz -, dabei hat die Rückbesinnung auf ein rundfunkeigenes Spiel dem Hörspiel eine Breite zurückgewonnen, die den offenen Horizonten der frühen Hörspieldiskussion entspricht, zu denen das Hörspiel der Gegenwart unter besseren technischen Bedingungen und mit einem komplexeren ästhetischen Selbstbewußtsein zurückgekehrt ist. Aber das wäre eine weitere These, die im Laufe der Tage anhand des mitgebrachten Materials zur verifizieren oder falsifizieren wäre.

Begegnung mit der deutschen Radiokunst. Hörspielcolloquium des Polnischen Rundfunks / Goethe-Institut/Warschau in Brzeg 4.3.-7.3.1993