Reinhard Döhl | Von Cannstadt nach Shavej Zion - Der Dichter Leopold Marx

Einige Gedichte vorab | BioBibliographie und Spurensuche | Der frühe Tod des Vaters | Begegnung mit dem "welschen Schwabenmädel" | Erster Weltkrieg | Gefangenschaft | Erste Lyrik | Epos | Dramatisches | Erste Klärung des jüdischen Bewußtseins | Volksstaat Württemberg | 1933 | Leben in Gedichten | Zusammenfassung

Einige Gedichte vorab

Mein bescheidener Beitrag zum heutigen Laupheimer Gespräch ist "Von Cannstadt nach Shavej Zion" -  Der Dichter Leopold Marx" überschrieben. Und ich möchte mit der ersten Strophe eines Gedichts beginnen, das Leopold Marx "In Deinen Tälern" getitelt und mit "1918 (Gefangenschaft)" datiert hat.

Leiderfahrner, was weckst du? Der fern entrückten, der Heimat
liebes lockendes Bild schüttest du aus in mein Herz.
Danken kann ich dir's nicht, denn schmerzlich brennt das Erinnern,
wen ungastliche Fremde mit bleiernen Fesseln zurückhält.
Aber die aufrief dein Wort, die Schatten kann ich nicht abtun,
schon mit schmerzvoller Lust hüllen sie wirbelnd mich ein...

[Gedichte, 141 ff.]

Als Motto vorangestellt ist den insgesamt 39 elegischen Distichen ein Zitat, dem auch die Überschrift entnommen ist: In deinen Tälern wachte das Herz mir auf, der Anfang der bekannteren "Nekar"-Ode Friedrich Hölderlins:

In deinen Thälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich
Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

Es ist der Landsmann Hölderlin, der gleich zu Beginn angesprochen wird - Leiderfahrner, was weckst du?

Es ist der Dichter Hölderlin, dessen Distichen, so die bekanntere "Stutgard"-Elegie, "Der Gang aufs Land", "Brod und Wein",  in Leopold Marx' erinnernden Langversen nachklingen, in den lockenden Bildern der fernentrückten Heimat, im schmerzlich brenn[enden] Erinnern an den Schwarzwald, die Alb, den Bodensee, an württembergische Städte und  den Neckar.

40 Jahre später, im Oktober 1958, wird Leopold Marx noch einmal Hölderlins "Nekar"-Ode zitieren, in Kontrafaktur:

"In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
zum Leben"... Deine Täler erfüllten sich
mit Todesgrauen. Uns spien sie aus.
Zauber der Heimat ward giftiger Pesthauch.

Zu deinen Tälern kehrte noch einmal sich
der späte Schritt. Doch Fremdlinge kamen wir
und sind's geblieben:
                                Auslöscht nimmer
all deine Schönheit das nie zu Sühnende.

[Gedichte, 144]

Rückerinnerung an die schwäbische Heimat zieht sich - freilich immer belasteter - wie ein roter Faden durch das literarische Werk Leopold Marx', ist noch der posthum veröffentlichen Erzählprosa "Franz und Elisabeth", deren erstes Kapitel "Schwäbischer Frühling" überschrieben ist, abzulesen:

Dahinter aber, weiter draußen, dem berühmten Seitental wie einem vornehmen Gast in einem weiten Bogen froh entgegenstrebend, von blühenden Vorstädten stattlich umrahmt, von südlich weichen, stufig schwellenden Weinhügeln festlich begleitet, ein glitzerndes Silberband: - der Neckar, Hölderlins Neckar, der Schwabenfluß...

[Franz und Elisabeth, 17]

Aber Vergangenheit, Geschichte trübt den Blick des Erzählers, wenn der Text fortfährt:

Das ist Stuttgart, unter Deutschlands großen Städten - damals, als es noch etwas Herzvertrautes gab, das Deutschland hieß - die schönste, gesegnetste.

Das Herzvertraute, die Liebe zur heimatlichen Landschaft wird von Leopold Marx schon 1941 in einem "Hachscharah" überschriebenen Gedicht sogar als Flucht erkannt:

Herz hing an Seen und Auen, Hochwald, Gipfel und Schlucht,
Glück war im Steigen und Schauen, aber - es war nur Flucht.

[Gedichte, 180 f.]

Der aufgezwungene Verlust der schwäbischen wird jetzt als Heimkehr verstanden in die eigentliche Heimat Israel, für die das bisherige Schreiben (nur) Vorbereitung gewesen war:

All mein Dichten und Stammeln - Schrift an des Lebens Rand -
Sichten war es und Sammeln für die Heimkehr ins Land

Und wie zuvor die schwäbische Landschaft und zugleich ganz anders wird 1939 Shavej Zion für Leopold Marx der Ort, an dem sich Heimat [...] erneuen, sich Israel in uns [wieder] erbauen werde:

Kleines weißes Nest am großen Meer,
blauer Kranz von Bergen um dich her,
blauer Himmel, Wolkenspiel und Wogen,
Feld und Strand, Mond, Sterne, Regenbogen
und die Sonne, wenn sie aufglüht, taucht,
goldnen Hauchs die Wolken überhaucht -
   in das bunte Farbenspiel der Welt
   bist, ein Tüpflein, du hineingestellt.

Halt ihn fest, den Platz, der dir gebührt!
Wie der Meister, der den Pinsel führt,
dich geträumt, so werde, wachse, blühe!

   Dich zu bauen unsre Hand sich mühe,
   dich zu schützen unser Herz sich freue,
   daß die Heimat sich in dir erneue,
   daß wir, wachsend selbst an deinem Werden,
   Friede findend an beschützten Herden,

wieder Israel in uns erbauen,
und, in dir geborgne, einst erschauen
Zions lang ersehnte Wiederkehr!

Kleines junges Nest am ewigen Meer.

[Gedichte, 183 f.]

BioBibliographie und Spurensuche

Wer sich über das Leben von Leopold Marx' informieren will, wird in den gängigen Nachschlagewerken nicht fündig werden, muß auf

zurückgreifen mit  z.T. widersprüchlichen, z.T. überholten Angaben. Er kann sich zuverlässiger kundig machen in den Nachworten und Materialanhängen des seit Ende der 70er Jahre zögerlich erschienenen literarischen Werks, und hier vor allem in den von Leopold Marx selbst verfaßten Diese "Notizen" und andere Selbstäußerungen und Hinweise im Werk, u.a. in dem auch autobiographisch zu lesenden "Lebensbild" "Jehoshua, mein Sohn" (1979) und der schon erwähnten "Erzählung" "Franz und Elisabeth" (1989) liegen meiner folgenden Skizze zugrunde.

Am 8. Dezember 1889 wird Leopold Marx als Sohn des Fabrikanten Eduard Marx und seiner Ehefrau Babette, geb. Rothschild in schwäbischen Cannstatt geboren, in einem "Mileu", das er selbst charakterisiert als ein "dem Judendorf seit zwei, drei Generationen entwachsene[s] Bürgertum, das sich, ohne über den Begriff viel nachzudenken, liberal oder freisinnig zu nennen pflegte" (Gedichte, 19).

Gedenkstein Waiblingerstrasse 12: "Hier stand das 1944 im Krieg zerstörte Geburtshaus des Dichters und Fabrikanten Leopold Marx (1889 - 1983). Der Gedenkstein wurde 1985 auf Initiative von Pro-Alt-Cannstatt von Jürgen Elser geschaffen. Marx war mit dem Dichter Hermann Hesse befreundet und gründete 1926 unter Mitwirkung des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber zusammen mit anderen das Jüdische Lehrhaus in Stuttgart. 1938 Einlieferung ins KZ Dachau. 1939 nach Shavei Zion (Israel) emigriert, wo er 1983 starb. Leopold Marx schrieb zeitlebens in deutscher Sprache." Als Sohn einer akkulturierten Familie erhielt Leopold Marx eine humanistische Schulbildung, waren Abitur und ein anschließendes schöngeistiges Studium vorgesehen. Aber es sollte anders kommen.

Der erste Bruch in Leopold Marx' Leben: Der frühe Tod des Vaters am 16. Februar 1904.

 "Sein Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Cannstatt", schreibt Leopold Marx 1972, "berichtet das typische Schicksal einer jüdischen Familie in Deutschland: Die Mutter und zwei ihrer Brüder ließen ihr Leben 1942/43 in Theresienstadt, ein Enkel, Fritz Adler, wurde im gleichen Jahr auf Überfahrt von England nach Amerika ein Opfer des Meeres, ein zweiter, Erich Josua Marx, fiel im Kampf für Israel Anfang 1948 bei Kfar Ezion."

Autopsie: Die Inschrift auf der Rückseite [!] des Grabsteins: Unsere Mutter / Babette Marx 1.XII.1865 - 14.X.1942 / geb. Rothschild / und ihre Brüder / Martin Rothschild 12.X.1876 - 8.VII.1943 / Rechtsanwalt / Max Rothschild 20.IV.1872 - 4.IX.1942 / endeten ihr Leben in Theresienstadt / Ihre Asche wurde verstreut. / Ihre Enkel / Fritz Adler 7.VI.1927 - 22.I.1945 / wurde bei der Fahrt nach Amerika / ein Opfer des Ozeans / Erich Josua Marx 14.VI.1921 - 14.I.1948 / fiel im Kampf für Jsrael // Auf der [nachträglich erneuerten] Vorderseite eingetragen ist Eduard Marx / 26.11.1854 / 16.02.1904 und sein jüngster Sohn Alfred Marx / 15.01.1899 / 28.07.1988 sowie dessen Frau Johanna Marx nur mit den Jahreszahlen 1905-1996.
Als  Ältester von vier Geschwistern mußte Leopold Marx nach dem Tode des Vaters 1904 das Gymnasium verlassen, um sich auf die Übernahme der verwaisten Fabrik vorzubereiten.1904-08 erhält er eine kaufmännische und technische Ausbildung mit den Stationen: Lehre, Textilschule und Aufenthalten in London und Paris. 1909 übernimmt er den Betrieb, die Gurten- und Bandweberei Gutmann & Marx in Cannstatt und Neuffen (deren Anfänge bei Bernhard Gutmanns "Mechanische[r] Gurten- und  Bandweberei" in Göppingen, Am Wilhelms-Platz zu suchen wären).

Der zweite Bruch in Leopold Marx' Leben: Begegnung mit dem "welschen Schwabenmädel".

Diese Begegnung ist in der "Erzählung" "Franz und Elisabeth" Literatur geworden, wenn auch erst zum 100. Geburtstag von Leopold Marx, am 8. Dezember 1989, also sechs Jahre nach dem Tod des Dichters erschienen. Leopold Marx erwähnt die Begegnung in seinen "Biographischen Notizen" nicht, hat aber das in den sechziger Jahren geschriebene Manuskript nicht nur mit seinen anderen literarischen Arbeiten in das Deutsche Literaturarchiv nach Marbach a. N., sondern, mit Maßgabe einer späteren Veröffentlichung, auch seinem Verleger Heinz M. Bleicher gegeben, der die Publikation u.a. damit begründet, daß an dieser autobiographischen Erzählung "der Zeitgeist deutlich gemacht werde, das Spannungsfeld zwischen einer - zwar säkularisierten - jüdischen Familie und einem - gleichfalls verweltlichten - katholischen Mädchen; man spürt die tiefen Hemmungen des Juden, den letzten Schritt zur Vereinigung gegen den Willen der Familie und die eigene innere Stimme zu unternehmen - so werden kleine Charakterschatten als überdimensionale Trennungsschranken aufgebaut. Da erscheint uns Franz in keinem guten Licht, seine Härte wirkt unmenschlich; aber um so liebenswerter erscheint die duldende, tragische Elisabeth - auch in der Bejahung der neuen Bindung ihres geliebten Franz an die ihm gemäße Partnerin Ruth." (Franz und Elisabeth, 7)

Der dritte Bruch in Leopold Marx' Leben: der Erste Weltkrieg.

1914 zunächst als Leiter eines heereswichtigen Betriebs zurückgestellt, wird Leopold Marx 1916 dann aber doch im Tausch gegen den jüngeren Bruder einberufen. Im April 1916 Kriegs-Heirat mit Ida (Judith) geb. Hartog aus Mannheim, im Mai Felddienst in Nordfrankreich, im Oktober kommt Leopold Marx an der Somme in französischer Gefangenschaft.

Der vierte Bruch in Leopold Marx's Leben: die Gefangenschaft.

Dieser Bruch erweist sich im Rückblick als Anfang in mehrfacher Hinsicht.

Tagwerden
Vom Kriegsgefangenen Nr. 3515

So frostdurchbebt war diese Nebelfrühe.
Daß alle Wärme aus den Gliedern schwand.
Kaum noch gehorchte die erstarrte Hand;
Gewohntes Tun war Pein und bittre Mühe.

Schon aber hat in jubelhellem Ringen
die Sonne Dunst und Kälte überwunden
und strahlend ihren Erdenweg gefunden. -
So läßt sich eine keusche Braut bezwingen,

wenn sie dem Liebsten zitternd sich verschenkt.
Nun ist ein so beglänzter Tag entstanden,
aus kühlem Blau, von heißem Gold durchtränkt,

aß fließend alle Nebelgeister schwanden,
und daß mein Herz kaum an mein Heimweh denkt
und klopft und klingt, als sei es frei von Banden.

[Gedichte, 32 f. unter dem späteren Titel "Herbstmorgen"]

Veröffentlicht ist das Sonett am 25. Juli 1918 in der Frankfurter Zeitung und am 27. Juli 1918 in der Deutschen Interniertenzeitung. und es weist wie die einleitend zitierten, ebenfalls mit 1918 zu datierenden elegischen Distichen die 'lyrischen' Anfänge als formsicher und zugleich als konventionell aus, was auch für die Bildlichkeit gilt. Eine Erklärung dafür wäre vor dem kulturellen Hintergrund, im kulturellen Klima des Hauses Marx zu finden, das Leopold Marx später in "Jehoshua, mein Sohn" mit folgenden Namen umreißt: Hesse, Goethe, Schiller, Hölderlin, Bach, Mozart, Hofmannsthal, Rilke usw.

Man kann diesen kulturellen Hintergrund für das ganze literarische Werk Leopold Marx belegen,

darunter die immer wiederkehrende Sonettform z.B. noch in dem Austausch von Neujahrs-Sonetten mit dem Freunde Martin Riekert [Gedichte, 343 f. u. 435] , aber auch wenn das "Dem Vater meines Freundes Otto Hirsch zum 80. Geburtstag" gewidmete "Abend-Wissen", ohne Hervorhebung und wie selbstverständlich, mit einem Vers aus Hugo von Hofmannsthals "Ballade des äußeren Lebens" einsetzt, im Vertrauen darauf, daß der Empfänger das Zitat (er)kennt und um den Kontext weiß:

Und dennoch sagt der viel, der Abend sagt...
Wer soviel Jahre sah, kennt sein Jahrhundert
und sieht verwundert, daß sich niemand wundert,
wie ein Jahrtausend jetzt das andre jagt.
Wer Abend sagt, dem ist ein Maß gegeben
für sich und alle Dinge um ihn her [...]

[Gedichte, 328]

Im Winter 1918/19 schrieb nämlich, wie eine Notiz auf einem späteren Typoskript datiert, im Kriegsgefangenenlager Fort du Mûrier bei Grenoble Leopold Marx seine und seiner Freundin J. W. Begegnung in Versen auf. Anders als die spätere Erzählung steht diese erste Niederschrift noch unter dem Eindruck des Erlebten. Das Geschehene ist noch Gegenwart; keine historische Distanz nimmt der Darstellung die Unmittelbarkeit.

Die Wahl der Form einer Verserzählung ist so fraglos auch der Versuch der Objektivierung von allzu Subjektivem durch die Form. Siebenundzwanzig Gesänge waren es zunächst. Zwei weitere fügte Leopold Marx nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft noch an. Heute befindet sich das Manuskript in Marbach. Ein gründlicher Vergleich mit der späteren Erzählung, der in einem konkreten Fall Einblick in das spezifisch Autobiographische und seine Anverwandlungen durch die Marxsche Dichtung geben könnte, steht noch aus. 

Ahasver

Hier bin ich wieder, seht! Der Ruhelose.
Ahasver nennt ihr mich, den Ewigen Juden.
Ihr seht mich oft in euren Theaterbuden,
mit krummer Nase, schmierig Rock und Hose.

Kein Laster gibt's, um das man mich nicht schilt:
"Der widerlichste der Geschäftemacher,
er lebt von nichts als Wucher, Trug und Schacher."
Ihr kennt nicht mich, nur eures Wahns Gebild.

Wohl jedem Wesen liefert die Natur,
daß es sich schütze, Waffen mit ins Leben.
Mir hat sie nichts als den Verstand gegeben,
als ich des Wanderns bitteres Los erfuhr.

Wo es mich hinstieß, war ich vogelfrei,
der Heimatlose ohne Herd und Halt.
Ein Trostgestirn nur hat den Weg bestrahlt -
mein Gottvertraun. Der Welt war's einerlei.

[...]

Von diesen Brettern höret heute sagen
ein Wort von Menschenbruderschaft.
Laßt's ein in euer Herz. Schöpft aus ihm Kraft,
das eigene Los gelassen zu ertragen!

St. Quentin, Herbst 1919

[Gedichte, 74 f.]

[Drei Verse einer offensichtlich anderen Fassung teilt Volke mit: Soll heute ich auf diese Bretter steigen, an euer Herz geht meines Herzens Ruf ihr, denen gleiches Los das Schicksal schuf. Franz und Elisabeth, 319]

Nur hinweisen möchte ich darauf, daß der Vers: als ich des Wanderns bitteres Los erfuhr ein neben "Heimweh" weiteres, für Leopold Marx' literarisches Werk zentrales Stichwort und Motiv benennt: Wandern, Wanderschaft. Was einmal wörtlich genommen werden kann - Leopold Marx war leidenschaftlicher Wanderer - aber auch im übertragenen Sinne bis hin zum "Juden auf Wanderschaft" zu verstehen ist. "Wanderseele" (Zelser), "Wanderschritte" (Heyd) nannte Leopold Marx bis kurz vor seinem Tode die Sammlung seiner im Deutschen Literaturarchiv aufbewahrten Gedicht-Manuskripte. "Wanderseele" sind zwei zentrale Gedichte aus dem Jahren 1921 und 1958 überschrieben, deren erstes die Geschichte des jüdischen Volkes als "Wanderweg(e)" skizziert:

Wo zwei Ströme unter heißen Sonnen
Fließen, hat dein Wanderweg begonnen:
"Wanderhirt aus Aram war dein Ahn". (V. Mos. 26,5)
Auf und nieder - Wunder Wetterschläge
Erdweit gingen deine Wanderwege
Schau-geleitet, irrgelenkt von Wahn.

[Straße, 73; nicht Gedichte]

Gerade auch darum ist mir rätselhaft, warum "der Dichter", wie Werner P. Heyd 1985 anläßlich der Ausgabe der "Gedichte" [421] mitteilt, "in den letzten Tagen seines Lebens [...] offensichtlich" von dem Titel "Wanderschritte" für die Sammlung seiner Gedichte "absehen" wollte, wie auch das Nebeneinander von "Wanderschritte" und "Wanderseele" für den Moment unerklärt bleiben muß.

Wichtiger für den Moment ist, daß dem "Ahasver" von 1919 in den 30er Jahren weitere dramatische Versuche folgen, als erstes das im März 1935 im Gustav-Siegle-Haus (Jüdisches Lehrhaus-Programm) in Stuttgart aufgeführte "Purim in Schwabylon", dessen einleitende "Moritat von der ungehorsamen Königen Vasthi" an den Prolog des Ahasver erinnert, dessen Personal - Ahasveros, Haman, Mordechai, Esther u.a. - auf das "Buch Esther", das jüdische Purim-Fest verweist und wohl in der Tradition der jüdischen Purim-Spiele seit dem Mittelalter zu verstehen ist, wobei sich der Name des Perserkönigs Ahasveros (griech. Umschrift des hebräischen Achaschwerosch) mit der Legendenfigur des Ewigen Juden verband. Daß Leopold Marx' "Purim in Schwabylon" dabei nicht nur als "Karnevalschwank" (Zelser), sondern satirisch gedacht war, macht eine Bemerkung des Sohnes Ephraim Marx 1986 in einem Rundfunkgespräch deutlich: sein Vater habe 1935 "ein Theaterstück für die jüdische Gemeinde" geschrieben, "in dem die örtlichen Nazis persifliert" worden seien. (Zeitzeugen im Gespräch, SDR 13.6.1986). "Purim in Schwabylon" hatte übrigens einen derartigen Erfolg, daß die Aufführung wiederholt werden mußte.

Im dramatischen Marx-Nachlaß befinden sich, was hier nur erwähnt sei, noch ein "Dramatisches Gedicht", "Schaul, König in Israel", das, einer biographischen Notiz zufolge, Anfang der 60er Jahre Umänderungen erfuhr, sowie ein Hörspiel "De Profundis".

Diese dramatische Hin- bzw. Zuwendung zu jüdischer Thematik (im weiteren Sinne) in und seit der Gefangenschaft nimmt nicht Wunder, wenn man in Anschlag bringt, daß es

Auch hier ein hinführendes Beispiel. In der letzten Nacht vor seiner Flucht aus der französischen Gefangenschaft, am 26. November 1919, las Leopold Marx, wie sein Tagebuch notiert, lateinische Psalmen. Schon ein Jahr zuvor hatte er zaghaft einen ersten Ansatz sprachlicher Anverwandlung versucht. Ich zitiere den Anfang aus

Und Zion blieb / (Psalm 137):

Dies ist das Lied des Heimwehs und der Leiden -
zweitausend Jahre lebten wir davon:
   Wir sassen an der Flut zu Babylon
   um Zion weinend. Im Geäst der Weiden
   spielten die Winde mit verstummter Harfen
   zerrissnen Saiten. - "Singt, ihr Liedersänger,
   von Zion singt!", so drängten unsre Dränger,
   "singt weg das Weh, lacht doch, ihr Trauerlarven!"
   DU! Deines Namens Preisung preiszugeben
   der kalten Fremde.... Wenn ich Dein Vermächtnis
   je fremder Lust zu opfern mich vermässe,
   so bleib' am Gaumen diese Zunge kleben!
   Eh' lösche dieser rechten Hand Gedächtnis,
   Jerusalem, eh dass ich dein vergässe!

[Straße, 13, Gedichte, 86 f., dort datiert 1918/1933]

Was hier noch unbeholfen und gereimt daher kommt, wird später in der Psalmenübersetzung der 60er Jahre deutlich anders klingen:

Der hundertsiebenunddreißigste Lobgesang

An den Stromläufen Babylons,
da saßen wir, und wir weinten,
wenn wir Zions gedachten.
An die Weiden dort hingen wir
unser Saitengerät,
denn Liedersang heischten
dort von uns unsre Fänger,
unsre Peiniger Lustbarkeit:
"Von den Zionsliedern
singet uns was!"
- Wie dürften ein Lied für IHN
auf fremder Erde wir singen!
vergäß ich, Jerusalem, dein,
dann vergess' meine Rechte den Griff!
[...]

[Ende der 60er Jahre / um 1970. Die Lobgesänge, 230 f.]

Leopold Marx' erstem Versuch einer Anverwandlung eines biblischen Textes vorausgegangen war im Gefangenenlager bei Grenoble die Entdeckung eines hebräischen Lehrbuchs, und - aus der Erkenntnis heraus, daß sein Glaube ohne Hebräisch keinen rechten Ausdruck finden könne - der Entschluß, Hebräisch zu lernen. Die spätere Übersetzung des "Liedes der Lieder" und danach der "Lobgesänge" haben hier fraglos ihre Wurzeln.

Ich fasse etwas überspitzt zusammen, daß Leopold Marx in der Gefangenschaft nicht nur zum Dichter wird, sondern dies zunehmend auch aus einem sich klärenden jüdischem Bewußtsein heraus.

1919 - um jetzt wieder in der Chronologie fortzufahren - glückt Leopold Marx die Flucht aus der Gefangenschaft. Über Paris und die Pyrenäen gelangt er nach Barcelona. Weihnachten erwartet ihn seine Frau in Konstanz. (Ein Bericht über seine Flucht aus französischer Gefangenschaft befindet sich unter den in Marbach verwahrten Papieren.) Von seiner Rückkehr nach Cannstatt an bis 1938 leitet er gemeinsam mit dem Bruder Julius wieder die Fabriken in Cannstatt und Neuffen, was "für literarische Betätigung nur Ferien- und Wandertage" übrigließ.

Der fünfte Bruch in Leopold Marx' Leben: Württemberg ist Volksstaat geworden.

Als Leopold Marx 1919 nach geglückter Flucht über Spanien heimgekehrt, ist Württemberg Volksstaat geworden, erscheint dem Heimkehrer die Heimat fremd: Das Schwabenland hat viel von seinem heimlichen Zauber, seinem Eingebettetsein in Landschaft und Geschichte eingebüßt, weil ihm die Könige genommen wurden. Zugleich mit den Kronen wurde damals in Deutschland alles Bleibende, Überlieferte weggefegt, ohne daß etwas Neues da war, das seinen Platz hätte beanspruchen können. [Hervorhebung von mir]. Der Geist wurde in die Winkel getrieben, ein schlecht gefügter Mechanismus ohne Seele und Inhalt setzte sich an seine Stelle und lief leer, bis er platzte." [Autobiographische Notizen, unveröffentlicht, zit. nach Zelser, 111]

Hinzu kommt, und für Leopold Marx bedrückend, daß im Volksstaat Württemberg als Jude zu leben schwieriger als in der Monarchie, und entsprechend die Scheu, sich offen zum Judentum zu bekennen, gestiegen war.

In dieses Enttäuschtsein hinein wird am 14.6.1921 der Sohn Erich Josua geboren, dem 1923 der Bruder Ephraim folgt. Vor allem Erich Josua sind noch zu Lebzeiten, vor allem aber nach dem frühen Tod (gefallen 14.1.1948 bei Kfar Ezion) eine Vielzahl von Gedichten und das Erinnerungsbuch "Jehoshua, mein Sohn. Lebensbild eines früh Gereiften" (1979) zugeeignet, die einer genauere Betrachtung, wenigstens in Stichworten, verdienen.

Zwei Jahre nach der Geburt widmet Leopold Marx dem Erstgeborenen Erich Josua das Gedicht

Jeschua

Er war ein Kind aus jüdischem Geblüte
wie du, mein Sohn. [...]

Ich überspringe mehrere Strophen und zitiere den Schluß:

Er starb am Pfahl, von wenigen verstanden,
und blieb verkannt.
Die seines Wirkens späte Spuren fanden,
verwischten sie und trugen sie durchs Land,

verfälscht von ihres kleinem Geistes Stempel:
zum Gott geprägt
sperrten sie in Altäre ein und Tempel,
was keine Form und keinen Zwang erträgt.

Uns aber, einst am gleichen Quell Genährten,
ward er vergällt, -
und feindlich überm Grabe des Verklärten
klafft düster, unerlöst, entzweit die Welt.

Starb er umsonst? Ein Fragen irrt beklommen
von Tor zu Tor ...
Ihr, die ihn nahmt, wir, denen er genommen,
w i r  a l l e  sperren ihm den Riegel vor.

Und dennoch warten viele, daß sein Morgen
einst tagt, mein Kind, - -
tief uns im Blut sind Pforten ihm verborgen ...
Ist's Zeit, gescheh's, daß sie weit offen sind!

[Straße 24 f.; Gedichte 127 f.]

Wenn Marx dieses "Jeshua" überschriebene Gedicht seinem Sohn Erich J o s u a widmet, stellt sich zum erstenmal einen Verbindung her, die Leopold Marx 1941 in einem weiteren Gedicht, bei dem die Widmung zugleich Überschrift ist, thematisieren wird:

Meinem Sohn Jeschua Marx

Zweier jüdischer Männer Namen sind
verbunden in deinem Namen.
Du suchtest sie nicht. Du warst ein Kind,
als sie zueinander kamen: -
der eine Erbe, der andre Wahl ...
und Jahr um Jahr verstrich,
bis vor mir aufstand, mit einem Mal,
ihr Sinn wie Botschaft an dich.

Du heißt wie der Mann, der den Sieg gewann
über die Güter der Erde,
und du heißt wie der Mann, der den Krieg begann
gegen die Hüter der Erde.
Ein Künder der eine: wo Liebe wuchs,
da war sein Wort der Samen -
Entzünder der andre: des roten Tuchs
Zornflamme trägt seinen Namen.
Ein Stürmer der eine: hinstieß sein Sturm
Gesetz gleich morschen Blättern. -
Ein Türmer der andre: Gesetz sein Turm,
gefügt aus ehernen Lettern.

Was der eine gelehrt, hat der andre verkehrt,
und waren doch eines Strebens:
den Elendsscharen den Platz am Herd,
an den Freudentischen des Lebens!
"Streut Liebe aus, so baut ihr das Reich!"
der eine sprach's, noch in Banden.
"Teilt Hiebe aus! Macht weicht nur dem Streich."
Der Ruf ward besser verstanden.
Gewalt und Mord baun dem Haß das Haus,
sie schaffen das Gute nimmer.
Der Liebe Wort löscht am Haß sich aus,
und die Welt wird dunkler und schlimmer.

Erst wenn an sein Recht ein weiser Geschlecht
das Wort der Liebe bindet,
wenn nicht Seelenkälte die Flamme mehr schwächt,
wird der sein, der den Heilsweg findet.

Dein Name schreit dir ins Ohr, mein Sohn:
zwei Welten sondert ein Wahn!
Sei beiden ein offenes Tor, mein Sohn,
hilf, daß sie einander nahn!

***

Zweier jüdischer Männer Namen sind
in deinem Namen verkettet...
Die Erde harrt des Geschlechts, mein Kind,
das sie erlöst und errettet.

[Gedichte, 77 f.]

Beide Gedichte zusammengelesen, machen verständlich, warum Leopold Marx den zweiten Vornamen seines Sohnes zu Jehoshua erweitern, warum er das Erinnerungsbuch an seinen Sohn "Jehoshua, mein Sohn" titeln wird, während das "erste Kinderbuch" der Familie noch "Das Buch Josua" genannt wurde. Beide Gedichte deuten aber auch etwas von dem Prozeß "des Rückfindens ins Jüdische" an, das die Familie Marx seit spätestens Mitte der 20er Jahre "in reichem Maße" auszeichnet.

Die Stuttgarter jüdischen Mitbürger waren am Kulturleben der Stadt sehr interessiert und beteiligt. Das Schauspielhaus in der Kleinen Königstraße, das Württembergische Landestheater, die Gesellschaft "Freie Bühne", in der auch nichtjüdische Autoren, unter ihnen Hermann Hesse und Hugo von Hofmannsthal lasen, das Konservatorium für Musik unter Leitung von Karl Adler, die Rechtsanwälte Karl Lieblich und Hans Elsas ("Das Klagelied", 1927), die auch Autoren waren, die Künstler Ignaz Kaufmann und Hermann Fechenbach, der Kunsthistoriker Julius Baumann und viele andere wären als Namen für und Orte dieses kulturellen Interesses und konkreten Engagements zu nennen.

Gleichzeitig brachten Bücher Martin Bubers, wie schon Leopold Marx in der Gefangenschaft, diejenigen unter den Kulturbegeisterten, die sich dem Judentum noch verbunden fühlten, zur Einsicht, daß es ihnen an Kenntnis der eigenen Glaubenswelt fehle. Auf Einladung von Walter Gutmann, Inhaber der Neffschen Buchhandlung, kam Martin Buber zu einem Vortragsabend nach Stuttgart und war, wie auch später, Gast im Hause Marx in der Cannstatter Seelbergstraße. Eine Begegnung in Königsfeld während eines Erholungsaufenthaltes war zum Anfang eines jetzt auch persönlichem Kontakts geworden. Von Leopold Marx angeregt, lud die Stuttgart-Loge im Jahre 1925 Martin Buber ein weiteres Mal ein, sprach Martin Buber in Stuttgart über "Das prophetische Wort" und über "Religion als Wirklichkeit".

Gewissermaßen folgerichtig wurde, von Martin Buber angeregt und gefördert, nach Frankfurter Vorbild auch in Stuttgart ein Verein "Jüdisches Lehrhaus" gegründet, unter Vorsitz von Otto Hirsch und mit Leopold Marx als Schriftführer, der auf der Gründungsversammlung am 10. Februar 1926 in seiner Eröffnungsrede festhielt. "Aber wir spüren auch alle, daß wir an einem Wendepunkt stehen; daß die Zeit reif ist zu einer neuen Sklavenbefreiung."

In einem Radio-Essay, "Auf der Suche nach jüdischem Wissen. Das Stuttgarter Jüdische Lehrhaus und die Lehrhausbewegung in Deutschland", faßte vor einem knappen Jahr Michael Brenner zusammen:

"Auf der Suche nach dem verlorenen Judentum" könne "man die Lehrhausbewegung in Deutschland während der Weimarer Republik charakterisieren." Hinter ihr habe "das Bedürfnis zahlreicher deutscher Juden, die ohne jüdisches Wissen groß geworden waren, gestanden, doch wieder etwas über die eigene Kultur, die ihre Vorväter bereits abgelegt hatten, zu lernen." Wobei "die verschiedenen Institutionen [eigene] Schwerpunkte gesetzt" hätten.

"So wurde im Lehrhaus Berlin zum erstenmal systematisch über das berichtet, was man heute als Soziologie oder zeitgenössisches Judentum bezeichnen könnte, und viele der späteren Professoren der Hebräischen Universität in Jerusalem hatten dort ihre erste Erfahrung gesammelt. In Breslau war die Literatur Forschungsschwerpunkt; fast alle deutsch-jüdischen Schriftsteller von Rang und Namen waren dort einmal zu Gast, und in Mannheim war ein besonderer Schwerpunkt auf den Bereich der Musik gelegt worden. Das Stuttgarter Lehrhaus, ein direkter Sproß der Frankfurter Institution, erwuchs aus der persönlichen Freundschaft zwischen dem Stuttgarter Kaufmann Leopold Marx und Martin Buber. Neben der Wiederaneignung des jüdischen Wissens gab es auch hier einen besonderen Schwerpunkt, er bestand in der Förderung des damals noch schwach ausgeprägten, institutionell erst beginnenden, christlich-jüdischen Dialogs."

[Der Rede wert. SWR 2, 19. 7. 2002]

Hatte Leopold Marx aus französischer Gefangenschaft über sein Dichten Hermann Hesse geschrieben: "Ich habe meinen bürgerlichen Beruf, ich bin Kaufmann. Was ich ihm an Zeit und Gedanken abgewinnen kann, gehört dem Lebensberuf - ein Mensch zu werden" -

ließ nach seiner Rückkehr nach Cannstatt die "Leitung der Fabrik [ihm] für literarische Betätigung nur Ferien- und Wandertage" übrig -

kam jetzt noch sein Engagement in der jüdischen Bewegung hinzu, war er u.a. Stuttgarter Berichterstatter für die Jüdischen Rundschau, schrieb er in der Stuttgarter Jüdischen Gemeindezeitung und veröffentlichte in ihr für diejenigen, die sich weniger als Angehörige des jüdischen Volkes denn des jüdischen Glaubens fühlten, 1927 einen Aufsatz unter dem Titel "Im kommenden Jahr".

In ihm spricht er vom Standpunkt des glaubenden Juden, der in den überlieferten Religionsformen, insbesondere im Gebet, in der Zwiesprache mit Gott - was auch in Gedichten Niederschlag gefunden hat - Ausdruck seines Glaubens sieht. Und er hebt hervor, worauf geachtet werden muß:

"In diesen Gebeten kehrt immer wieder die Hoffnung, die Bitte, der Wunsch, daß Gott Jerusalem bald wieder erbauen, den Tempel und seinen Dienst wieder aufrichten und uns schon im kommenden Jahre dorthin zurückführen möge. Es ist anzunehmen, daß wer das betet, sich dabei etwas denkt. Es ist wohl nicht einen Augenblick daran zu zweifeln, daß er das, was er sagt, ernst meint. Denn wo sonst im Leben soll ein Mensch es ernst meinen, wo sonst soll sein Wort Geltung haben, wenn es vor Gott nicht ernst gemeint ist, wenn es vor Gott nicht gilt? Und dennoch gibt es so viel mehr Juden, die die wirkliche Aufbauarbeit, die jetzt, in unseren Tagen, von jüdischen Menschen in Jerusalem und auf dem Lande geleistet wird, mit Gleichgültigkeit betrachten, ihr ihre Unterstützung versagen, als solche, die bereit sind, nach ihren Kräften und Mitteln mitzuwirken." [Zit. Zelser, 124]

"Im Grunde" sei, ist Leopold Marx überzeugt, dieser "Aufbau friedlich und muß und wird es bleiben. Es ist in der Weltgeschichte der erste Versuch einer Volksgemeinschaft, ohne Blutvergießen, durch Arbeit und Gemeinschaftsgeist anstatt durch Gewalt sich den verlorenen Platz wiederzugewinnen, die bedrohte Eigenart, das gefährdete Eigenleben zu erhalten."

Das klingt fast wie eine Vorahnung, wenn man sich an Leopold Marx' erstes in Shavej Zion geschriebenes Gedicht erinnert:

Dich zu bauen unsre Hand sich mühe,
   dich zu schützen unser Herz sich freue,
   daß die Heimat sich in dir erneue,
   daß wir, wachsend selbst an deinem Werden,
   Friede findend an beschützten Herden,

wieder Israel in uns erbauen,

und, in dir geborgne, einst erschauen
Zions lang ersehnte Wiederkehr!

Der sechste Bruch in Leopold Marx' Leben: 1933.

Verstärkte Arbeit in der jüdischen Gemeinde
1935 Purim in Schwabylon
1936 Besuchsreise nach Erez Jisrael.

1938 muß Leopold Marx die gemeinsam mit dem Bruder Julius geleitete Fabrik verkaufen. Nach dem 11. November, der sogenannten Reichskristallnacht, wird er verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau verbracht. Nach der Entlassung aus Dachau gelingt zunächst
1939 den beiden Söhne die Ausreise nach Jsrael.
Leopold Marx kommt im Mai noch einmal Gestapohaft.

Dann, im zweiten Kriegsmonat, gelingt auch dem Ehepaar Marx die Ausreise nach Erez Jisrael, folgen Hachscharah bei ehemaligen Stuttgarter Freunden (Dr. Cramer) in Naharia und danach Aufnahme in das landwirtschaftliche Kollektiv Shavej Zion.

Nach der ab 1. Januar 1939 rechtsgültigen sogenannten 'Namens-Verordnung' vom August 1938, wonach alle Juden mit nichtjüdischem Vornamen einen jüdischen Vornamen hinzufügen mußten, die Männer "Israel" und die Frauen "Sara", notiert Leopold Marx unter der Überschrift

Die Namen

Der du mit Gott gerungen, Jisrael,
mit deinem Ehrennamen wird dein Volk sich kleiden,
verhaltnen Stolzes, willig dem Befehl,
der lehrt, was es vergaß: sich unterscheiden.

Und du, Sarah, Urmutter, durftest wagen
vor Gott zu stehn, wie man mit Freunden spricht.
All deine Töchter werden deinen Namen tragen:
Dein Adel, Fürstin, kläre ihr Gesicht!

Wir werden, unter mancher Last Gebeugte,
auf unserm schweren Weg nicht ungeleitet sein,
denn, wie einst mancher für den Namen zeugte,
so stehen jetzt die Namen für uns ein.

[Gedichte, 158]

Im Konzentrationslager entsteht im November 1938 das "Dachauer Marschlied", dem 1939 eine zweiteilige "Kleine Dachauer Passion" folgt, deren erster Teil [Straße, 39 f,; Gedichte, 159 ff.] von Simon Bär aus Wimpfen am Neckar erzählt und damit ein jüdisches Einzelschicksal ebenso festhält wie später (1945) die "Jüdische Ballade (in Memoriam Julius Baumann)" [Gedichte, 296 ff.]. Stellvertretend zitiere ich aus dem zweiten Teil der "Kleinen Passion" den Anfang:

Kleine Dachauer Passion, II

Der Dachauer Tod ist der Tod beim Appell...
doch - es stirbt sich auch gut im Revier.
Vom Revier zum Brenn-Ofen hin und her
herrscht ein reger verläßlicher Pendelverkehr:
zweirädriger Karren - zurück fährt er leer,
hin immer besetzt, doch benützt ihn nie mehr
als ein schweigsamer Passagier. [...]

[Straße, 41 f.; Gedichte, 161 f.]

Aus der Zeit der Gestapohaft von Leopold Marx sind zwei Gedichte, "Gefängnis" und "Nimm hin...", überliefert, die beide ablesen lassen, in welcher Form Leopold Marx sich selbst Mut zugesprochen hat. In einem zweiteiligen Gedicht, "Entrinnen", kommt die Ausreise aus Deutschland zur Sprache, im ersten Teil der endgültige Abschied von Stuttgart und der ehemaligen Heimat, im zweiten Teil der Flug von Italien nach Israel.

1.

Mein Fluß noch einmal, Brücken, Türme spiegelnd
und altvertraute Bäume - Stadt um Stadt,
in Gärten, Rebengrün und Wald gebettet,
und meine Berge, keiner, den der Fuß
nicht kennt, obstschwere, weinumrankte, runde
und felsumrandet ragende - die Alb...

Vorbei, vorbei - zum letzten Mal. Was war,
das kommt nicht mehr, der Fluß fließt nicht zurück. [...]

[Gedichte, 167]

2.

Oh fliegen, Mutter, jener Welt entrinnen
mit ihrem Haß und Hader, Krieg und Schrein,
aufatmen dürfen, frei, geborgen sein,
neu hoffen können, wieder Raum gewinnen

zum sich Besinnen und zum neu Beginnen!
Tief unten blaut das Meer, wächst Öl und Wein,
ziehn Wolken, Inseln... So verklärt und rein
erscheint die Erde - - - [...]

[Gedichte, 168]

Das Schicksal der im zweiten Teil angesprochenen und in Deutschland zurückgeblieben Mutter spiegeln mehrere Gedichte, ein Pessach-Gedicht das verordnete Tragen des "Judensterns", den Tod in Theresienstadt das Gedenken:

Wenn ein Weg war wie deiner...

Siebzig Jahre und sieben
Maß das Geschick dir zu.
Zweimal verjagt und vertrieben
- endlich schläfst du in Ruh.
Endlich gingst in den Frieden du ein
- lange fand er dich nicht.
Schweigsam wirst du geschieden sein,
wie du lebtest, und schlicht. [...]

[Gedichte, 310 f.]

Aus dem "Hachscharah"-Gedicht habe ich im Verlauf des Referates bereits zitiert, gleichfalls aus den den Neuanfang in Shavej Zion thematisierenden Versen, denen im Laufe der Jahre weitere Shavej Zion betreffende Gedichte folgen werden. Damit wäre der Weg von Cannstatt nach Shavej Zion auch in Gedichten abgeschritten und ich kann die kleine Anthologie einer lyrischen Biographie mit  einigen Vierzeilern abschließen, die zugleich den ersten Besuch von Leopold Marx nach dem Kriege, 1946, in Stuttgart belegen.

Bilder kamen, Gespenster:
Stein mit Rippen von Stahl,
gähnend grinsende Fenster ---
Heimat hieß das einmal.

Platz und Straße sind reinlich,
auch der Verkehr ist intakt
aber die Trümmer sind peinlich,
und der Schutt ist vertrackt.

Liegt er nicht wie gespie'n da,
Auswurf der wunden Stadt?
Einsam steht ein Kamin da
der nichts zu rauchen hat.

Wahn, der alles zertrümmert,
ließ ein Zeichen zum Trotz:
Bauchig, nackt, unbekümmert
türmt sich ein roher Klotz;

Wo Kastanien und Flieder
blühten, macht er sich breit. -
Bomben prasselten nieder. .
aber der Bunker feit.

Drunter - ein Hohn, ein Gelächter
einst der Hort einer Bank,
gähnt leer, dem Nichts ein Wächter.
offen ein Kassenschrank.

Dein in verlorenen Tagen,
die Fabrik, ist kaputt.
Stützen, die nichts mehr tragen,
langweilen sich im Schutt.

Blind von den blinden Stufen
aus dem Betonbauch hallt
nutzlos fragendes Rufen
wildfremd wider und kalt.

Mutter - wie unvereinbar
dem urtröstenden Wort
ist dies alles! Was dein war,
keine Spur ließ es dort.

[Aus dem Zyklus "Mutter"; "Gedichte 313 f.; vgl. auch das dritte, 1954 dat. Gedicht dieses Zyklus']

Kurt Pinthus hat 1966 eine erste Sammlung der damals noch verstreuten und nur vereinzelt veröffentlichten Gedichte "mit Erschütterung" gelesen und angemerkt: "Das Ganze hat seinen Wert in der aufrichtigen Selbstdarstellung des Schicksals eines schwäbischen Juden durch fünf Jahrzehnte, der im Ersten Weltkrieg für Deutschland kämpft und in Gefangenschaft gerät, die zwanziger Jahre als bewußter Jude durchlebt, ebenso die Qualen der dreißiger Nazijahre..., schließlich nach Palästina gelangt und dort viel Schweres und viel Freude erlebt... Die besten Gedichte ausgewählt, würden ein ungewöhnliches Buch ergeben - ein langes Leben in Gedichten [Hervorhebung von mir] hier und dort."
 
 

Ich fasse zusammen:

... das typische Schicksal einer jüdischen Familie in Deutschland
Leopold Marx, 1889 als Sohn eines jüdischen Fabrikanten geboren, übernimmt, nach dem frühen Tod des Vaters, 1909 die Betriebe in Cannstadt und Neuffen. 1916 Heirat mit Ida (Judith), geb. Hartog. Teilnahme am ersten Weltkrieg, französische Gefangenschaft, Flucht. Wieder Fabrikant. 1938 Zwangsverkauf der väterlichen Fabrik,  kurzfristig ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert,  im Mai 1939 noch einmal Gestapo-Haft in Stuttgart. 1939 Ausreise/Emigration der beiden Söhne und am 2. Oktober auch Leopold Marx' und seiner Frau nach Erez Israel. Hachscharah und Niederlassung in dem ein Jahr zuvor von Rexinger Juden begründeten landwirtschaftlichen Kollektiv Shavej Zion, wo Leopold Marx bis 1965 als Pflanzer, danach als Gärtner tätig ist. Seine Mutter und ihre zwei Brüder werden 1942/43 in deutschen Konzentrationslagern umgebracht, der Sohn Jehoshua, während des zweiten Weltkrieges in einer jüdischen Einheit der britischen Armee, fällt 1948 bei der Verteidigung eingeschlossener jüdischer Siedlungen nahe Hebron. 1972 stirbt Judith Marx. Leopold Marx hat Shavej Zion, von wenigen Reisen vor allem in den 60er Jahren nach Amerika und Europa abgesehen, bis zu seinem Tode 1983 nicht wieder verlassen.
Ich bilde mir nicht ein, ein Dichter zu sein, noch habe ich den Ehrgeiz, es werden zu wollen. Dazu bin ich zu alt. Ich habe meinen bürgerlichen Beruf, ich bin Kaufmann. Was ich ihm an Zeit und Gedanken abgewinnen kann, gehört dem Lebensberuf - ein Mensch zu werden
Vernachlässigt man einige frühere Versuche, kommt es in französischer Gefangenschaft zu "erster Lyrik", dem "Beginn einer lebenslangen freundschaftlichen Beziehung zu Hermann Hesse, der als Leiter der Kriegsgefangenen-Fürsorge in Bern einige Gedichte" Leopold Marx' veröffentlicht, und, vor allem "durch Schriften Bubers beeinflußt", zur "Klärung des jüdischen Bewußtseins", was 1924 auch zu persönlichen Kontakten führt. Auf Martin Bubers Anregung gründet Leopold Marx zusammen mit dem Freund Otto Hirsch nach dem Muster von Frankfurt 1926 das Stuttgarter "Jüdische Lehrhaus" und nimmt an den Veranstaltungen, konkret und berichtend, regen Anteil. Neben dem "bürgerlichen Beruf" und seinem Engagement in der "jüdischen Bewegung" bleiben für eine ernsthafte "literarische Betätigung nur Ferien- und Wandertage übrig", die allerdings, wie bereits ein flüchtiger Werküberblick zeigt, recht ertragreich sind.
... die Ernte und das Echo eines bald zur Neige reifen Lebens - des Lebens eines Juden, der lange wähnte, zugleich auch Deutscher zu sein, und dem die Umstände, auch nach der Heimkehr ins Land der Väter, es nicht erlaubten, in ungehemmter Freiheit in die Sprache des eigenen Volkes hineinzuwachsen; der mit dem Herzen ein Bürger Israels, der Sprache nach deutsch geblieben ist.
"Hachscharah" überschreibt Leopold Marx progammatisch eine erste, 1942 in Jerusalem erscheinende Auswahl früher und neuer Gedichte. "Wanderseele" bzw. "Wanderschritte" will er in den 60er Jahren seine wachsende, immer wieder durchgesehene Sammlung von Gedichten überschrieben wissen. Zunächst aber stehen 1960 und 1963 eine "Schrift über Shavej Zion und den Moschav Schitufi" in deutsch, dann in englisch und 1963 "Ein Lebensbild" des von den Nationalsozialisten ermordeten Freundes Otto Hirsch auf dem Programm.

Bemerkenswerterweise erscheint als seine erste Buchveröffentlichung in Westdeutschland 1964 das von Leopold Marx übertragene und erläuterte "Lied der Lieder", dem sich 1965 die Arbeit an einer wortgetreuen und zugleich dichterischen Übertragung der Psalmen anschließt, die, 1972 abgeschlossen und für eine Buchausgabe in Deutschland vorbereitet, aber erst posthum 1987 unter dem Titel "Die Lobgesänge. Das Buch der Psalmen"  erscheinen wird. 1975/76 vermutlich entwirft Leopold Marx das Vorwort für eine Auswahl seines bisher vorliegenden Gedichtwerks, das Friedrich Nolte zum Teil wörtlich für seine Einleitung in "Es führt eine lange Straße", Berlin 1976, übernimmt. 1979 kündigt die Anthologie "Stimmen aus Israel" an, daß Leopold Marx' "reiches zu wenig bekanntes Lebenswerk [...] demnächst in einer Gesamtausgabe vorgelegt werden" solle. Doch erscheint  zu Lebzeiten, 1979, im Gerlinger Bleicher Verlag nur noch "Jehoshua, mein Sohn", das auch autobiographisch zu lesende "Lebensbild eines früh Gereiften" [2. veränd. Aufl.1996 u.d.T. "Mein Sohn Erich Jehoshua. Sein Lebensweg aus Briefen und Tagebüchern"]. Die Gedichte der "Wanderseele" bzw. die "Wanderschritte" werden erst nach dem Tode von Leopold Marx, 1985, als "Gedichte aus der Schaffenszeit von 1910 bis 1982" herausgegeben, 1989 gefolgt von der  Erzählung "Franz und Elisabeth", der eine im Kriegsgefangenenlager Fort du Mûrier bei Grenoble im Winter 1918/19 geschriebene Versfassung in siebenundzwanzig Gesängen vorausgegangen war. Ein Kreis schloß sich, aber Leopold Marx erlebte es nicht mehr.

Leopold Marx hat alle seine Manuskripte dem Deutschen Literatur-Archiv in Marbach anvertraut, wo seine Gedichte, Erzählungen, Essays, Übersetzungen und Unveröffentlichtes, Spiele, Autobiographisches und Briefe (vor allem zu den Nachdichtunge der Psalmen) heute auf den Interessierten warten. Seine im Bleicher-Verlag veröffentlichten Bücher sind, seit der Verlag seine Buchsparte geschlossen hat, im Buchhandel nicht mehr, mit einigem Suchen wenigstens antiquarisch aber noch greifbar.

[Vortrag im Rahmen der 4. Laupheimer Gespräche, "Jüdische Künstler und Kulturschaffende aus dem deutschen Südwesten", 15./16. Mai| 2003]