Reinhard Döhl | Zu Hermann Kasacks "Ballwechsel" ("Stimmen im Kampf")

Zitat

"Dichter improvisieren", so kündigte die Berliner Funkstunde wenige Wochen nach unserer Tagung eine zensurfreie Sendung an. Nach einer kurzen Conférence von mir erzählten Arnold Zweig, Alfred Döblin, Rudolf Amheim und Walther von Hollander jeweils nach einer Zeitungsnotiz eine Kurzgeschichte aus dem Stegreif. Das Experiment gelang.

Autor

erinnert sich Hermann Kasack in einem "Rückblick auf mein Leben" an eine Konsequenz jener nun schon mehrfach genannten Kasseler Arbeitstagung "Dichtung und Rundfunk", genauer: an einen Versuch mit dem dort von Arnold Zweig für eine rundfunkspezifische Epik geforderten, von Ernst Hardt so leidenschaftlich bestrittenen "improvisierenden Erzählen".

Diese 'Erinnerung' macht aber zugleich eine der Rollen sichtbar, die Hermann Kasack als experimentierfreudiger Veranstalter literarischer Programme in der "Berliner Funkstunde" in der Geschichte des Rundfunks bis 1933 selbst gespielt hat.

Zitat

Die Sensibilität des Lyrikers für das gesprochene Wort brachte Kasack dazu, als einer der ersten Autoren das damals erst ein Jahr in Deutschland bestehende Instrument des Hörrundfunks der Darbietung von Literatur dienstbar zu machen,

Autor

begründet Karl Schwedhelm 1966 diese Vermittlertätigkeit. Und er notiert als anfängliche Schwierigkeiten und sich bald einstellende Erfolge Kasacks:

Zitat

Er hatte bei den bisher lediglich an Buchveröffentlichungen und Autorenlesungen in Vortragssälen gewöhnten Schriftstellern zunächst manches an Scheu und in vielen Fällen sogar hochmütige Ablehnung zu überwinden gegenüber einem Medium, das zu jener Zeit technisch noch in den Kinderschuhen steckte. Doch der Erfolg gab ihm recht. So konnte er wagen, damals neue Formen akustischer Darbietung einzuführen: freie Diskussionen, improvisierte Erzählungen mehrerer Autoren auf Grund eines vorgegebenen Themas, Interviews in Form eines Selbstportraits.

Autor

Aber Kasacks Interesse an neuen "Instrument des Hörrundfunks" war damit nicht erschöpft. 1929 trat er in Kassel als Berichterstatter zusammen mit Ernst Hardt in Sachen "Drama" auf und stellte in seinem Co-Referat einige für unseren Zusammenhang recht bemerkenswerte Thesen zur Diskussion. So warnte er nachdrücklich vor der Funkwiedergabe von Dramenliteratur aus Bildungsgründen:

Zitat

So sehr ich davon überzeugt bin, daß der Rundfunk eine Kulturinstanz sein soll, so sehr glaube ich auch, daß er, abgesehen vom reinen Unterrichtsfunk, kein Apparat für sogenannte Bildungsvermittlung sein darf. Gerade in Hinsicht auf die Funkwiedergabe von Dramen wäre es ganz verkehrt, in den alten Fehler zu verfallen und Kunstwerke, Dichtungen, zu Bildungswerten zu mißbrauchen.

Autor

Bei dem Versuch, die Frage zu beantworten, inwieweit ein Drama, "das ursprünglich für die Lektüre oder für die Theateraufführung geschrieben" sei, "für eine Funkwiedergabe bearbeitet werden" solle oder müsse, traf er die aufschlußreiche Unterscheidung

Zitat

zwischen Stücken, die ihrem Wesen nach dramatische Dichtungen bedeuten, und Stücken, die ihrer Art nach Unterhaltungs-, besser Gesellschaftsliteratur, Konversationsstücke sind. (...) Die Forderung nämlich, am Drama keine gattungsändernde Funkbearbeitung vorzunehmen, erstreckt sich nur auf die Gruppe der dramatischen Dichtung, während im Gegensatz dazu das ausgesprochene Konversations-, das Gesellschafts- und Zeitstück der Schaubühne nur als eine Textunterlage gelten darf, die, mit aller nur möglichen Freiheit und Konsequenz, in eine funkgemäße, hörspielgemäße Montage einzurichten ist.

Autor

Und schließlich forderte Kasack, ähnlich wie zwei Jahre zuvor Bertolt Brecht in seinen "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks", wenn auch mit anderer Intention, die Einrichtung einer "Versuchsbühne für akustische Experimente".

Zitat

Das bedeutet im einzelnen weiter: Einrichtung einer Hörbühne für die konsumierende Jugend und einer Studiobühne von der produzierenden Jugend und zwar eines Studios, das unabhängig von der notwendigen Versuchsbühne für akustische Experimente auf dem Gebiete der werdenden Hörspielkunst besteht, sich also jener jungen Dramenliteratur annimmt, die, als Experiment wichtig, nicht in ausschließlicher Absicht auf die Funkbühne geschrieben ist. Der Rundfunk ist nicht nur der durch ihn geschaffenen Hörspielgattung etwas schuldig, sondern er ist auch der Dichtung vieles schuldig.

Autor

Noch im selben Jahr entstand in Zusammenarbeit mit der Übersetzerin eine Reihe von Hörspieladaptionen des 1928 erstmals in deutscher Sprache erschienenen "Dr. Dolittle und seine Tiere" H. Loftings für den Jugendfunk, der 1932 zehn Hörspiele um eine von Kasack erfundene, bald sehr beliebte Funkfigur, "Tull der Meisterspringer", folgten.

Zitat:

Einmal Eins ist Eins,

Nullmal Eins ist Keins,

Nullmal Null ist Null,

Und ich bin Tull.

Autor

Diesen Hörspielen für die Jugend, die 1931 auch als Oper aufgeführt wurden ("Dr. Dolittle's Abenteuer"), bzw. trotz Rundfunkverbots noch 1935 als Jugendbuch erscheinen konnten ("Tull der Meisterspringer"), war 1930 mit "Stimmen im Kampf" Kasacks erstes Originalhörspiel vorausgegangen. Ihm folgten unter der Redaktion Edlef Koeppens 1932 zwei sozial engagierte Hörspiele, bei denen man vielleicht besser von "Aufrissen" und damit spezifischen Frühformen des Features sprechen sollte: "Eine Stimme von Tausend" und "Der Ruf".

Zitat

In meiner Funkdichtung "Der Ruf" geht es nicht um eine wirtschafts-theoretische Lösung der Arbeitslosigkeit. Sondern um das Menschliche. Es ist der Ruf nach Arbeit, der zum Klingen gebracht werden soll. Nicht eine Stimme von Tausend spricht mehr, sondern Millionen Stimmen werden zu einer. Das Schicksal des Einzelnen wird zum Schicksal der Gemeinschaft und der

Allgemeinheit. - Es ist der Ruf zum Lebenswillen. Wird man ihn hören?

Autor

formulierte Kasack am 9.12.1932 in der Berliner Funkstunde seine Absichten, die fraglos zunächst als zeitgebunden verstanden werden müssen. Allerdings möchte ich mich hier der Meinung Schwitzkes nicht anschließen und aus dieser Tatsache folgern:

Zitat

Eben wegen dieser direkten Zeitbezogenheit halte ich beide Stücke heute nicht mehr für aufführbar.

Autor

Aus einem mißlungenen Wiederbelebungsversuch des übrigens in einer historischen Aufzeichnung erhaltenen "Rufs" im Jahre 1959, also zu einem Zeitpunkt, wo sich der wirtschaftswunderliche Hörer für alles andere als eine solche Thematik interessierte, ein Hörer überdies, dessen Vor-Urteil von Hörspiel wesentlich durch die Hamburger Hörspieldramaturgie mit geprägt war, - aus einem derart mißlungenen Wiederholungsversuch zu folgern, "Kasacks Arbeitslosenhörspiel" sei "vermutlich unwiederbringlich dahin", halte ich jedenfalls für nicht genug begründet. Zumindest einer literatur-soziologischen Fragestellung gelten die fragwürdige Wertung der Zeitgebundenheit, oder die noch fragwürdigere einer "literarischen Qualität" zunächst wenig.

Aber selbst wenn man Schwitzke zustimmen würde, was die direkte Zeitbezogenheit betrifft, müßte man einer möglicherweise kritisch kommentierten Wiederholungssendung das Wort reden, einmal, um ein weiteres Urteil Schwitzkes als Frage zu stellen, nämlich, ob mit Kasacks "Der Ruf" innerhalb der Geschichte des Hörspiels ein Grenzpunkt erreicht sei,

Zitat

wo die Sprache aufhört, Sprache des Hörspiels zu sein, wo sie Proklamation wird?

Autor

Zum anderen, um zu fragen, ob es neben der Thematik möglicherweise die gelegentlich noch expressionistisch angetönte, gelegentlich pathetisch überhöhte Sprache gewesen ist, die es den Nazis kurze Zeit später erleichterte, den "Ruf" für ihre Zwecke propagandistisch umzufunktionieren und zu mißbrauchen, wogegen Kasack damals vergeblich protestierte.

Einspielung

Es geschieht ja nichts .. Es muß einmal irgend etwas geschehen, ganz gleich was, nur damit wir überhaupt spüren, daß wir leben: Wenn einer aufsteht und erklärt: Wir machen das nicht länger mit, dann müssen doch alle mit ihm rufen: Wir wollen keine Unterstützung, wir wollen eine Existenz haben: Du Staat, Du Vaterland, glaube an uns, damit wir wieder an Dich glauben können!

(Musik, Glocken ähnlich)

Dein Leben gehört nicht Dir. Dein Leben gehört der Gemeinschaft. Hörst Du die Stimmen, das Stöhnen und Klagen und Geschlagensein der Massen? Denke an Deine Heimat! Glaube an die Zukunft... Fühle die Erde... das Wachstum! Und wenn Du dann immer noch meinst, alles sei sinnlos - dann geh unter. Dann gehen wir eben alle unter! Wir sind ein Schicksal! Wir sind ein Wille. Durch Gemeinschaft zur Arbeit.

Autor

Ich muß mich aus zeitlichen Gründen auf diesen kurzen Ausschnitt beschränken, den auch Schwitzke in seinem Kapitel "Gebrauchshörspiel und Zeithörspiel. An den Grenzen des Mißbrauchs" zitiert, der aber, so aus dem Zusammenhang gerissen, höchstens ein Hinweis sein kann.

Nicht an der Grenze, "wo Sprache aufhört, Sprache des Hörspiels zu sein", befindet sich Kasacks erstes Originalhörspiel, von dem leider kein historisches Tondokument erhalten ist. Denn wie bei "Berlin Alexanderplatz", bzw. Döblins "Geschichte von Franz Biberkopf" hätte sicher auch hier der Vergleich der Neuproduktion unter dem Titel "Ballwechsel" von 1959 mit der historischen Aufnahme der "Stimmen im Kampf" von 1930 mehr als nur den Reiz der Antiquität, schon wegen der fraglos unterschiedlichen Artikulation der gleichsam rhythmisch-spielerisch gegliederten und verschränkten Gedankengänge und

-sprünge der beiden Tennisspieler Red und Green.

Möglicherweise in Bezug auf Zweigs "improvisierenden Erzähler" verlangt Kasacks

Vorbemerkung von den beiden Sprechern ausdrücklich:

Zitat

Red und Green müssen alle Partien deutlich im Schlagrhythmus sprechen. Die Querstriche geben die Intervalle. Hin und wieder soll man aus dem Rhythmus der Worte auch den Bewegungsablauf des Spiels hörbar erkennen können. Keine Grammatiksätze sprechen: Eher stockend, gleichsam improvisierend, ohne Anfang und Ende im einzelnen. Den imaginären

Schläger in der Hand.

Autor

Mag man das Fehlen einer historischen Aufnahme bedauern, für den an einer Typologie und Geschichte des Hörspiels Interessierten ist es zusätzlich anstößig, daß bei Drucklegung des Textes 1962 durch Heinz Schwitzke "statt einer ursprünglichen theoretischen Einführung - der Textanfang (...) durch ein paar Sätze erweitert" wurde, mit der Begründung:

Zitat

Heutige Hörer brauchen keine Erklärungen mehr, um den Inneren Monolog zu verstehen.

Autor

Denn gerade diese theoretischen Einführungen z.B. Rudolf Leonhards zu "Wettlauf", Hermann Kessers zu "Straßenmann", Arno Schirokauers zu "Straßenronde" und viele andere mehr lassen ja aufschlußreiche Einblicke in die Hörspielwerkstatt und damit in den Prozeß der Gewinnung eines poetologischen Selbstverständnisses zu. In unserem Fall geht es um die Funktion, um das Funktionieren des Inneren Monologs im Hörspiel, wobei ich als Modell Kasacks "Stimmen im Kampf" der hier sonst zumeist bemühten "Schwester Henriette" Kessers vorziehen möchte.

Es ist zum einen Ulrich Lauterbachs Verdienst, in diesem Zusammenhang nachdrücklich auf Paul Camilles wegen "seiner dichterischen Qualitäten" 1924 mit einem ersten Preis ausgezeichneten Manuskript "Agonie" hingewiesen zu haben:

Zitat

In diesem Monolog eines Sterbenden fehlt jeder Theatereffekt, jedes Geräusch, er lebt ebenso von der Fiktion, sich unmittelbar an die Hörer zu wenden, wie das 35 Jahre später geschriebene Hörspiel "Sechs Gramm Caratillo", in dem Horst Bienek einen Sterbenden seine letzten Beobachtungen auf ein Tonband fixieren läßt. "Agonie" kann als erster Ansatz zum "inneren Monolog" gelten, den das Hörspiel - in deutlicher Beziehung zur Entwicklung der modernen Erzähltechnik - usurpiert und als eine seiner wesentlichen Möglichkeiten virtuos zu gebrauchen gelernt hat."

Autor

Zum zweiten gehört "Schwester Henriette" zu jenen Hörspielen, deren Analyse als Adaption einer epischen Vorlage durch den Autor über den Vergleich von epischer Vorlage und Hörspielfassung hinaus auch den Vergleich der epischen Vorlage mit der zeitgenössischen Prosa verlangt, an der gemessen Kessers Novelle nicht ganz zu Unrecht heute fast vergessen sind.

Im Gegensatz dazu sind Kasacks "Stimmen im Kampf" direkt für die Realisation im Funk geschrieben. Inhaltlich fraglos weniger ergiebig als Kessers psychologischer Reißer, reduziert Kasacks Hörspiel die "Fabel" auf eine spiegelverkehrte Gegenüberstellung und Verschränkung zweier Dreiecksverhältnisse des Mannes zwischen zwei Frauen (im Falle Reds) und der Frau zwischen zwei Männern (im Falle Greens), wobei Green schließlich gemäß dem Sprichwort vom Glück im Spiel und Pech in der Liebe mit dem Gewinn von Spiel, Satz und Sieg seine Frau an seinen Freund Werner verliert.

Um die "Fabel" scheint es Kasack also weniger (kaum) gegangen zu sein, stattdessen um das Erproben der funkischen Möglichkeiten des Inneren Monologs. Und da sehe ich Kasacks Hörspiel weniger als eine Abwandlung des Monologhörspiels vom Typ "Schwester Henriette", dem man überdies historisch Camilles "Agonie" vorziehen müsste, vielmehr scheint mir erst mit Kasacks "Stimmen im Kampf" in der Verschränkung, im Durch- und Gegeneinander Ausspielen zweier Innerer Monologe die endgültige Entdeckung nur im Hörspiel möglicher und damit rein funkischer Möglichkeiten des Inneren Monologs gelungen. Daß dabei ein Tennisspiel den Rhythmus des Gesprochenen zu bestimmen scheint, wo doch in Wirklichkeit das sprachlich-rhythmische Spiel, das rhythmisierte Spiel mit dem Sprechfluß, mit seinen Intervallen, Abbrüchen und Sprüngen das Tennisspiel imaginiert, erweist nicht zuletzt Kasacks Hörspiel als exemplarisches Modell für jeden Versuch einer Typologie und Geschichte des Hörspiels.

WDR III, 8.7.1971