Hiroo Kamimura: Visuelle Poesie in Japan

Visuelle Poesie wird in Japan "Shikakushi" (Text fürs Sehorgan) oder "Shishi" (Sehtext) genannt. Es war Anfang der 50er Jahre, daß man diesen Typ der Arbeiten, wie sie in dieser Ausstellung gezeigt werden, zu schaffen begann. Denkt man retrospektiv an die damalige Zeit zurück, weiß man, daß innovative
Bewegungen, die Visuelle Poesie heute fortsetzt, im Gebiet avantgardistischer Poesie und Kunst damals schon angefangen haben. Ihre gemeinsamen Eigentümlichkeiten waren Auflösung der Tradition oder Kunsterneuerung, die Abschied von der Tradition als künstlerisches Zündmittel stark betonte.

Hieraus darf man aber nicht voreilig den Schluß ziehen, daß diese Erneuerungsbewegungen damals plötzlich entstanden. Man erinnere sich beispielsweise an eine Reihe dadaistischer Arbeiten, Kalligramme von Apollinaire, noch früher an "Un Coup de Dés" von Mallarmé oder "Phantasus" von Arno Holz. Ferner geschichtlich betrachtet stellte sich dann heraus, daß es in vielen Ländern noch zahlreiche Beispiele der sogenannten Figurengedichte gegeben hatte.

Aufgrund dieser Tatsachen einerseits und der zeitgenössischen Weiterentwicklungen Visueller Poesie andererseits wurde 1984 eine von Klaus Peter Dencker geleitete große Bestandsaufnahme, die mehrere Ausstellungen und Diskussionen einschloß, im Saarländischen Rundfunk, in Museen und Galerien
veranstaltet. Anhand dieser erfolgreichen Ergebnisse fand ferner im Jahre 1987 ein internationales Symposium "Visuelle Poesie im historischen Wandel" von Jeremy Adler und Ulrich Ernst in Wolfenbüttel statt. Dabei hat sich gezeigt, daß in Japan "Goban no uta" und "Sugurokuban ne uta" (Abb. 1) von Minamoto no Shitagou als älteste Beispiele anzusehen sind, während diese im Westen weiter bis in die griechische Antike zurückgingen.

Unter einer historischen Perspektive betrachtet, werden die Figurengedichte in Japan in drei Typen eingeteilt. Der erste befaßt sich mit der Rolle von Schrift und Text in der Religion, z.B. wie Shuji-Mandala und ein pagodenförmiges Mandala (Abb. 2), das nur aus einem chinesischen Sutra besteht. Der zweite zeigt die figurativen Formen der Dichtung wie die erwähnten Beispiele von Minamoto no Shitagou und kombiniert zunächst akrostisch eine Reihe Waka, die charakteristischerweise hauptsächlich die Figuren von "Yudasuki" bzw. "Keii" benutzen. Wenn man in diesem Waka beispielsweise die Namen "Amidabutsu (Amida-Buddha) bzw. "Yakushibutsu (Yakushi-Buddha) als Akrostichon findet, dürfte man das kein Wontspiel mehr nennen, sondern motivisch eine Art Gebet. Im Fall von Ozawa, Roan gibt es noch ein eigentümliches Figurenqedicht, in dem 32 Waka strahlenförmig nebeneinander gesetzt sind und zwar in jedem wiederum der Name "Amidabutsu" akrostisch eingewoben. In der Edo-Zeit erscheint die Figur "Keii" des Haiku mit Palindrom und Akrostichon von neuem in dieser Gattung. Der dritte Typ entwickelt die durch ein besonderes Design entstandene Mischform von Bild und Schrift wie "Ashide" bzw. Mojie" (Schriftbild), deren Musterbeispiele sich in den Arbeiten von Katsushika, Hokusai und Kyoden Santo (Abb. 3) finden.

Dies sind Beispiele bis zum Ende der Edo-Zeit. Mit der Meiji-Zeit (1868-1912) nahm man dann in Japan allerlei Kultur und Zivilisation aus dem Westen auf, was von großem Einfluß war. Betrachtet man dies in bezug auf die Visuelle Poesie, weiß man, daß der sogenannte poetische Modernismus wie Futurismus. Dadaismus etc. ausnahmslos unter westlichem Einfluß stand. Dann nach einer großen Pause, dem weiten Weltkrieg, brachen die innovativen Bewegungen auf dem Gebiet der Poesie und Kunst hervor, als wollten Poeten und Künstler die verlorene Kriegszeit aufholen. Im Zusammenhang mit der Visuellen Poesie ist in erster Linie Konkrete Poesie als wichtig anzugeben. Unabhängig davon, aber parallel damit gab es damals noch zwei Kunstbewegungen "GUTAl" und "FLUXUS", die beide in innovativer wie avantgardistischer Hinsicht der traditionellen Kunst einen großen Impuls gaben. Die Verschiedenartigkeiten dieser Ausstellung hier dürften als Erbe und Weiterentwicklung anzusehen sein. Diese Entwicklungen haben jedoch eins miteinander gemein: jede ergibt ein neues Genre, das man unter einem konventionellen Begriff nicht verstehen kann, das gar nichts mit dem bestehenden zu tun hat das auf den bisherigen Gattungsunterschied keine Rücksicht nimmt und sogar über die Medien-, Völker- und Nationengrenzen hinausgeht.

I
Konkrete Poesie ist eine der literarischen Bewegungen, die Anfang der 50er Jahre in der Schweiz und Brasilien fast zugleich entstand, und dann sich in anderen Ländern rasch verbreitete. Den Namen verdankt sie dem schweizerischen Künstler Eugen Gomringer und dem brasilianischen Décio Pignatari, Mitglied der Noigandres-Gruppe. Das war 1955. Da Gomringer damals Sekretär von Max Bill war, Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, Architekt und Vertreter der Konkreten Kunst, könnte man leicht vermuten, daß der Begriff "konkret" bei der Namensgebung dort seinen Ursprung hatte. Warum ist diese Poesie als konkret zu bezeichnen? Weil sie darauf zielt, die Sprache nicht nur als Kommunikationsmittel, sondern vor allem als "konkretes Objekt" fungieren zu lassen, sei es semantisch, visuell oder akustisch. Gomringer definiert, "konkrete dichtung ist heute der überbegriff für eine große zahl von dichterisch-linguistischen versuchen, deren merkmal ... eine bewußte beobachtung des materials und seiner struktur ist..." Und im Führungsplan der Noigandres-Gruppe steht, "Konkrete Poesie venmittelt ihre eigene Struktur: Struktur-Inhalt. Konkrete Poesie ist ein Objekt in sich und an sich, keine Interpretation von äußerlichen Objekten und/oder mehr oder weniger subjektiven Gefühlen." In beiden Bestimmungen ist kurz und bündig "Konkretheit" eines sprachlichen Materials gemeint.

Es war L.C. Vinholes, Komponist und Dichter, der die Verbindung von der Noigandres-Gruppe mit dem japanischen avantgardistischen Dichter Katue Kitasono (1902-78) herstellte, als er 1957 als Kultulattaché der brasilianischen Botschaft nach Japan gekommen war. Dies führte im April 1960 zur Veranstaltung der ersten Ausstellung Konkreter Poesie aus Brasilien in Tokyo. So wurden im Dezember 1961 in einer monatlichen Zeitschritt "Design", Nr 27, ihre Arbeiten und zwei Artikel von Yasuo Fujitomi und Katue Kitasono unter dem Titel "Brasiliansche konkrete Dichtung" veröffentlicht, und erst dadurch bekam auch das Publikum in Japan einen Begriff von der avantgardistischen Poesiebewegung des Auslands. Aufgrund dieser erfolgreichen Ausstellung kam eine noch größere Ausstellung, deren Teilnehmer aus 13 Brasilianern, 8 Deutschen, 5 Japanern, einem Franzosen und einem Schweizer bestanden, im Sogetsu-Kunstzentrum Tokyo zustande. Dabei spielten Katue Kitasoro, Seiichi Niikuni, Yasuo Fujitomi, und Toshihiko Shimizu eine große Rolle. Für sie und das Publikum war es eine epochemachende Veranstaltung, besonders in Hinsicht auf eine internationale Kooperation sowie künstlerische Wechselwirkung.

Warum waren die Ausstellungen überhaupt möglich? Ich möchte nachdrücklich betonen, daß es schon damals auf unserer Seite einen künstlerischen Boden gab, der die Rezeption ermöglichte. Um einige Beispiele zu nennen: In erster Linie wäre auf die Tätigkeit des Katue Kitasono, der seit der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbandes "Album des Wie" (1929) ständig der japanischen avantgardistischen Dichtung voranging, und auf die von ihm geleitete VOU-Gruppe hinzuweisen. Schon ein Jahr vor dem Japanbesuch von L.G. Vinholes hatte sie im Februar 1958 die erste experimentelle Foto-Ausstellung mit "Figurentexten" durchgeführt. Solche wurden bis zum Tode des Kitasono wiederholt, nicht nur in Tokyo, sondern auch in Morioka, wo Shohachiro Takahashi und Motoyuki Ito wohnen. Neben einer solchen Ausstellung darf man ihre Zeitschrift "VOU" die Kitasone 1935 zum ersten Mal herausgab, nicht vergessen. Außer der zeitweiligen Einstellung in der Kriegszeit ist sie bis zu seinem Todesjahr 1978 weiter erschienen und hat zuletzt die 160. Nummer erreicht. Sie war nicht nur Veröffentlichungsraum für poetische wie theoretische Arbeiten ihrer Mitglieder, sondern bot auch die neuesten Informationen über den Avantgardismus aus Übersee.

In zweiter Linie wären die Tätigkeit des Seiichi Niikuni (1925-77) und der ASA-Gruppe anzugeben. Er gründete im April 1964 mit Yasuo Fujitomi zusammen die ASA (Abk. Associaton for study of Art), nachdem er seinen Gedichtband "Zero-On" (Null-Laut), die erste japanische Konkrete Poesie, im Septernber 1963 in Tokyo veröffentlicht hatte. Erstaunlicherweise waren seine ersten Texte sogar bereits 1955 entstanden. "Zero-On" besteht aus zwei Teilen, "Shokei-shi" (Figuren-Texte) und "Shoon-shi" (Laut-Texte). Wie Niikuni definiert, ist "Shokei-shi" derjenige Text, in dem er "aus der visuellen Perspektive den symbolhaften Charakter des Kanji als minimale Einheit thematisch wie motivisch entwickelte und damit über Raum und Zeit in der Poesie hinausgehen wollte" (Abb. 4), und "Shoon-shi" derjenige, in dem er sowohl "Kettenreakion der Klänge und Rhythmen der Wörter, wie sie sind, (vor allem als Laut) zum Motiv machte, als auch Zufälligkeit, in der Wörter als Objekt an und für sich anfingen, sich von selbst zu bewegen." Dabei haue er ferner "Interesse weniger für Sein als für Geschehen".

Auf seine Weise produzierte Niikuni schon vor dem Kontakt mit der nternationalen avantgardistischen Bewegung in seiner Heimatstadt Sendal wunderschöne Seh- und Hörtexte. Es war deshalb kein Wunder, daß mehrere Avantgardisten wie Pierre Garnier und die brasilianische Gruppe ihre Auftmerksamkeit auf ihn und "Zero-On" richteten. Gleich nach der Gründung der ASA begann er auf verschiedenen Gebieten sehr eifrig zu arbeiten, d.h. er gab die gleichnamige Zeitschrift heraus, veranstaltete die ebenfalls gleichnamige Ausstellung, leitete regelmäßig eine Mitgliedersitzung, sandte seine Arbeiten und die der Mitglieder zu Ausstellungen oder Veröffentlichungen ins Ausland und nahm umgekehrt die Arbeiten aus Übersee auf usw. Nach seinem plötzlichen Tod wurde die Zeitschrift ASA mit der siebten Nummer eingestellt, und die Gruppenausstellung fand nur sechsmal statt. Dennoch förderte und entwickelte er, vom internationalen oder übernationalen Standpunkt aus betrachtet, diese avantgardistische Bewegung sehr. Vor allem mit Pierre Garnier hatte Niikuni die engste Beziehung, deren Ergebnisse waren: "3eme Manifeste du Spatialisme" (1965), "Poèmes Franco-Japonais (1966, Abb. 5) und Disque: Poèms Phonetiques sur Spatialisme (1971). Um diese Schallplatte zu machen, arbeitete Niikuni übrigens auch mit Ilse Garnier zusammen.

Wie schon betrachtet, arbeiteten Katue Kitasono und Seiichi Niikuni von Anfang an an einer gemeinsamen internationalen Idee, jeder in seiner Weise, ohne von den großen Kunstwellen mitgerissen zu werden, und leisteten einen wichtigen Beitrag, japanische avantgardistische Dichtung international bekannt zu machen. Aber zwischen beiden Dichtern gab es eigentlich einen großen Meinungsunterschied, was dann zu unterschiedlichen Richtungen führte. Von Anfang an hatte Kitasono keine große Sympathie für Konkrete Poesie. In einer Bemerkung über die 9. VOU-Ausstellung (1957) sprach er dies deutlich aus: "Es ist nur ein Zufall, der entscheidet, ob man eine Sprache benutzt, oder eine Linse, um der Poesie einen Ort im Raum zu geben. Aber dieser Zufall bestimmt mechanisoh die Bedingung zur poetischen Gestaltung." Hiermit kündigte Kitasono an, daß die Schöpfung eines dichterischen Raums durch die Kamera doch den Horizont erweitern kann. Seine Arbeit nannte er "Visual Poemn" bzw "Plastic Poem" (Abb. 6,7) und bemerkte an einer anderen Stelle weiter: "Ich stelle eine Poesie dar, im Sucher meiner Kamera und durch eine Handvoll Papierabfälle, Pappe, Glasscherben." ("VOU", Nr.105, 1966). Und auf der anderen Seite meinte er über konkrete Poesie so spöttisch: "Der Fluß der experimentellen Dichtung, der aus Quellen des Futurismus, Dadaismus, Kubismus floß, machte hie und da kleine Pfützen der konkreten Poesie, die mich aber nur an einen flüchtigen Blitz erinnern" (ebd.).

Niikuni war hingegen ein Poet, der konsequent mit der Sprache umging und sich um poetische Schönheit bemühte (Abb. 8). Er vernachlässigte nie, sich mit Theorie zur innovativen poetischen Bewegung zu befassen, verfaßte "tokyo manifesto for the spatialism: 1968" und äußerte da auch seine Sprachästhetik und -philosophie. Seine dichterische Vorstellung, die als kompromißloser Sprachrigorismus zu bezeichnen ist, findet ihre endgültige Fassung im "ASA manifesto: 1973". Das Manifest, dessen Haupidee Niikuni entworfen hatte, entstand nach Diskussionen in einem umfangreichen Briefwechsel zwischen ihm und mir und bestand aus 15 Artikeln. Am bedeutendsten sind:

1. Ein Gedicht ist an und für sich ein Ding.
3. Ein Gedicht soll eine Betonung aufs Design legen.
4. Ein Gedicht soll auf Schöpfung der spracheigenen Schönheit gerichtet sein.
6. Poesie soll auf eine organische Beziehung zwischen Struktur und Funktion der Sprache gerichtet sein.
7. Ein Gedicht soll ein visuell-akusisch-semantisches Wesen sein.
8. Ein Gedicht soll durch Wörter oder Wort-Elemente einen Kern visueller oder akustischer Energie enthalten.
9. Ein Gedicht entsteht aus Phonemen oder Wortklängen.
10. Ein Gedicht ist eine Kommunikationsweise des augenblicklichen Verstehens. 11. Ein Gedicht soll der Natur einer ideographischen oder hieroglyphischen Schrift entsprechen.
12. Poesie ist keine hybride Kunst.
14 Das Weltbild, das jedes Gedicht erzeugt, wird von der Sprache, die wir benutzen, kontrolliert.
("ASA", 7, 1974). Genauer betrachtet, sind hier mehrere Hauptgedanken von der NoigandresGruppe, Eugen Gomnnger, Pierre Garnier und Max Bense deutlich zu erkennen, aber im 12. Artikel erkennt man unumstritten seine Lieblingsidee und stolze Haltung gegenüber Kitasono.

Sehtexte, die zur Konkreten Poesie gehören, haben jedoch um 1970 international in verschiedenen Ausformungen neue Wege beschritten. Da gab es über die genannte gegensätzliche Beziehung zwischen Kitasono und Niikuni hinaus weitere Strömungen. Ein Beispiel dafür ist eine internationale Ausstellung "? Konkrete Poesie", die vom November 1970 bis Januar 1971 im Stedelijk Museum Amsterdam durchgeführt wurde. Das Gesamtthema hieß "akustische texte, ? konkrete poesie, visuelle texte", wobei ein Fragezeichen vor dem Titel "konkrete poesie" gegeben wurde. Dies sollte offensichtlich bedeuten, daß Konkrete Poesie von den Organisatoren wegen ihrer allzu verschiedenartigen Varianten nicht mehr eindeutig begriffen wurde und sie eben deswegen in große Verlegenheit gebracht wurden. In der Tat wurde fast zur gleichen Zeit schon "der Tod der konkreten Poesie" in der Zeitschrift "Stereo Headphones" (1970) verkündet! Wenn man diese Verläufe vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, könnte man sagen, daß das "ASA Manifest 1973" in gewissem Sinne einerseits eine Art kämpferisches Programm des Niikuni und andererseits zugleich seine Ungeduld zeigte. In den späten 70er Jahren starben Niikuni und Kitasono hintereinander; und damit lösten sich ASA und VOU auf.

Merkwürdigerweise zeigten Autoren im Ausland nach dem Tod der beiden führenden Künstler oder trotz ihres Todes immer größenes Interesse für japanische Künstler, z.B. in Bielefeld und Gelsenkirchen (1978/79), Siegen (1986) und Stuttgart (1993). Diese Ergebnisse kann man beispielsweise in einem Sonderheft des Kunstvereins Gelsenkirchen (1978), und in den Heften DELFIN, 4 (1984) und "experimentelle texte, 6" (1986) sehen, das ich herausgegeben und zu dem ich ein Nachwort geschrieben habe.

Hinzu kommt noch der Austausch zwischen einzelnen Dichtern oder Gruppen im In-und Ausland, der offensichtlich von Dichtern aus der ersten und der darauf folgenden jüngeren Generation befördert wurde. Aus ihrem und dem Vorgangerkreis stammen die meisten Teilnehmer dieser Ausstellung, d.h.: Yasuo Fujitomi, Shukuro Habara, Chisato Hamajo, Takako Hasekura, Motoyuki Ito, Noboru Izumi, Kyuyo Kajino, Hiroo Kamimura, Teruko Kunimine, Ikuo Mori, Shutaro Mukai, Chiharu Nakagawa. Chima Nakano, Toshihiko Shimizu, Shohachiro Takahashi, Hiroshi Tanabu, Misako Yarita, Shoji Yoshizawa. Dazu muß ich noch einen Künstler besonders hervorheben, der wegen Krankheit an dieser Ausstellung nicht teilnehmen konnte: Ryojiro Yamanaka. Er visualisiert seine Texte in verschiedener Weise, z.B. in Kombinationen von Drucktyen und deformierter Kalligraphie (Sho-Schrift) und nur mit einem bzw. einigen Duckvpen (Kanji oder Kana) in unterschiedlicher Größe und realisiert sie im ganzen als ideogrammatische Bilder (Abb. 9,10).

II
Unabhängig von den Bewegungen der Konkreten und Visuellen Poesie, die sich mittelbar oder unmittelbar stark unter den Einwirkungen der VOU und ASA entwickelt haben, gab es in Japan die Aktionen der "GUTAI", deren Radikalität und schockierenden Avantgardismus man kunstgeschichtlich nicht vergessen darf. Die GUTAI (Abk. für Association for Concrete Art) wurde im Dezember 1954 von Jiro Yoshihara mit 14 Künstlern in Nishinomiya gegründet. Eine Charakteristik ihrer Aktionskunst ist z.B. im "Manifest der GUTAI-Kunst" (1956) von Yoshihara am deutlichsten erkennbar: "Die GUTAI-Kunst verarbeitet Materie nie. Die GUTAI-Kunst belügt Materie nie. In der GUTAI-Kunst stehen Geist und Materie zueinander und zwar geben sie sich die Hände." Mit dieser Behauptung bot die GUTAI allerlei Happenings, Events und Performances, wobei Geist und Materie wörtlich sehr konkret und nackt gegeneinander stießen, wie es Jiro Yoshihara eigentlich wollte. Solche Aktionen der GUTAl wurden sofort in alle Länder übertragen und erregten die Aufmerksamkeit der Welt. In seinem Dokument "Happening & Fluxus" (1970) beschreibt Hanns Sohm: "1955/1956/1957: UTAI/TOKYO + OSAKA/JAPAN". Für unsere Konkrete und Visuelle Poesie wären die Arbeiten von Jiro Yoshihara noch sehr interessant Um einige Beispiele zu nennen, sind sie ,"Roter Kreis auf Schwarz" (1965), "Schwarzer Kreis auf Weiß" (1967), "Weißes Viereck auf Schwarz" (1971) etc. Die Arbeiten haben alle eins mit der Konkreten Kunst und Poesie gemein, daß "ein bildnerisches Element nur sich selbst bedeutet." Aber mit dem Tod von Yoshihara löste sich 1972 die GUTAI auf.

Shozo Shimamoto, einer der frühesten GUTAI-Mitglieder, hat dann aber 1976 eine Geschäftsführerstelle der AU (Abk. für "Art unidentified") angetreten, ein AU-Blatt als Boulevardzeitung publiziert und in alle Länder geschickt. Im März 1997 erschien bereits die 142. Nummer. Im selben Jahr hat er Networking Art (Netzwerk-Kunst) mit Ray Johnson, der 1982 das erste Mal ein "Mail-Art-Manifest" verfaßte, angefangen und dann mit einer Reihe von Künstlern auf der Welt eine solche Kunst per Post produziert und herumgeschickt. Ihre ersten Ergebnisse waren internationale Sammlungen wie "AU MAILART BOOK I" (1982) und "AU MAILART BOCK II" (1983). Für Shimamoto ist es charakteristisch, daß er dabei alle Themen visualistert hat: kulturelle, soziale, politische und menschliche im allgemeinen.

Musterbeispiele dafür sind, im Jahre 1988 die Friedensbotschaften von Staatsoberhäuptern wieder philippinischen Präsidentin Aquino u.a., die man auf seinem kahlgeschorenen Kopf schrieb. Für ihn heißt Kunst nämlich dies: Der eigene Körper kann auch ein Bestandteil der Kunst sein. Kunst muß über ihren konventionellen engen Spielraum hinausgehen, kurz, "Kunst ist, eine Überraschung zu erzeugen." Es ist daher kein Wunder, daß er im März 1995 nach dem großen Erdbeben im Hanshin-Awaji-Bezirk eine Sonderboulevardzeitung als Mailart in alle Länder geschickt hat. Außer vielen chaotischen städtischen Bildern gab es auch die des AU-Büros, AU-Museums, der AU-Bibliothek, des privaten Zimmers von Shimamoto usw. Durch eine große Naturkatastrophe ist nun Kunst angeregt worden.

Um aus einer kleinen Geschichte des "AU-Netzwerks" zu zitieren, sollen sich 1995 bereits ca 20 000 Mailart-Arbeiten im Besitz der AU befinden. Ferner steht im "Lexikon der modernen Kunst": "Das älteste Dokument der Mailart ist "GUTAI" Nr. 1, die ihre Mitglieder 1954 im Atelier Shimamotos mit der Hand druckten und in alle Welt schickten." Dies würde heißen, als einer der GUTAI-Gründer hat Shimamoto mit der GUTAI seine Mailart angefangen und in ihrem Geist unter Mitwirkung von Ryosuke Cohen, Kazunori Murakami, Yoshio Takeda, Shigeru Tamaru, Reika Yamamoto u.a in noch größerem Umfang entwickelt.

III
Mieko Shiomi hingegen ist Mailart-Künstlerin, die zu einer anderen Gruppe gehört. Als Musikerin hat sie 1961 begonnen. Aber seitdem sie 1964 Kontakt mit der FLUXUS-Gruppe in New York hatte, entwickelte sie als FLUXUS-Künstlerin ihre Arbeiten musikalisch visuell. Dabei geht sie davon aus, daß Wort, Ton, Licht, Objekt, Bild und Körper als künstlerisches Medium gleichwertig sind. Übrigens wurde "FLUXUS" ursprünglich 1961 von einem Litauer George Maciunas, der in New York wohnte, für eine avantgardistische Gruppe proklamiert und fand gleich darauf allgemeine Anerkennung. Wie Shinji Kawamoto beschreibt, ist für FLUXUS sehr charakterstisch, "keine systematische Bewegung eines einzigen Ismus zu sein, sondern Ausdruck eines Zeitgefühls." Er definiert weiter, "FLUXUS hat alltägliche Handlungen und Dinge in die Kunst aufgenommen, dann die in dieser Weise aufgenommenen Handlungen und Dinge wieder ins Alltagsleben und die Umwelt zurückgegeben. Dies war eine Art Spiel. Für FLUXUS war der Prozeß, alle Elemente minimal zu vereinfachen und verdünnen, einer seiner Wesenszüge." ("Music Today", 18,1993). Dadurch hat FLUXUS die traditionellen Kunstanschauungen mal ironisiert, mal entmachtet und mit vielerlei Happenings bzw. Events die Auflösung der Tradition beschleunigt. Betrachtet man die Arbeiten Shiomis von diesem Gesichtspunkt aus, weiß man, daß sie aus den dem FLUXUS eigenen innovativen Ideen bestanden, z.B. wie "Endless Box" (1963), "Air Event" (1965), "Spatial Poems" (1965-76) u.a.

Im Hinblick auf Visuelle Poesie und Mailart sind dann vor allen "Spatial Poems" zu erwähnen. In diesem Experiment hat Shiomi die Erde als eine Bühne angesehen und Events mit vielen Leuten in globalem Ausmaß durchgeführt Im Fall "Wort-Event" z.B. hat sie einer Reihe von Autoren und Kritikern weltweit geschrieben und von ihnen verlangt, daß jeder auf seine Weise einen Beitrag versucht. Die Antworten (Sätze, Photos, Skizzen u.a.) hat sie dann dem Event gemäß gesammelt und auf einer Weltkarte dokumentiert. Dies nannte Shiomi selbst mit Recht "ein anonymes Panoramaepos der Gegenwart".

Ihre hier ausgestellten Arbeiten sind ebenfalls eine Art Poesie-Spel in globalem Umfang. Was auf eine Bild-Waage gelegt wird, sind jedes Mal zwei unterschiedliche Karten, in welche ein Begriff, ein Image bzw. eine Botschaft eingeschrieben sind. Da trifft ganz unerwartet eine Karte (die einen Wörter) mit einer anderen Karte (den anderen Wörtern) zusammen. Es sind eben das zufällige Zusammenkommen und der unerwartete Effekt, die die Autorin eigentlich beabsichtigt. Eine neue Dichtung ist da entstanden, indem sie im Unterschied zur traditionellen Poesie kein subjektives Schaffensprodukt mehr sucht, sondern eine gemeinsame Arbeit unter Mitwirkung anderer Teilnehmer, unter Umständen auch des anonymen Publikums. Das ist ein neuer Typ Mailart und ein neuer Versuch Visueller Poesie, so könnte man meinen.

Wie schon betrachtet, ist Visuelle Poesie sehr vielgestaltig und nicht eindeutig zu bestimmen. Denn sie ist eine ständig werdende Poesie und sucht, von bestimmten Regeln befreit, immer nach einer neuen poetischen Dimension. Sie beharrt nicht auf ihrer eigenen Gattung. Dabei handelt es sich darum, ob sie sich folgerichtig nur auf Sprache konzentriert oder diese nur als ein Kunstmaterial innerhalb einer komplexen Arbeit ist. Das ist unsere Aufgabe und zugleich die der folgenden Generationen.

[Aus Katalog: Visuelle Poesie aus Japan. Hamburg 1997, S. 14-26]