Hiroo Kamimura (Fukuoka): Über das japanische Kindertheater.

Geschichte des japanischen Kindertheaters | Repertoire [und Theatertruppen] | Todo | Kazenoko | Koffertheater | Handspiel | Seil- oder Schnurspiel | Origami-Spiel | Exkurs: Origami | Hanagatana |  Kyogen [und Noh-Spiel]

Mein Vortrag bezieht sich hauptsächlich aus die beiden japanischen Theaterstücke, die Ende September 1975 in Hamburg aufgeführt wurden. Ihre Titel sind "Das Koffertheater" und "Kirschblütenschwert" (Hanagatana). Gespielt wurden sie von den Gruppe "Kazenoko", einer der bedeutendsten Kindertheatertruppen Japans.

Bevor ich auf diese Frage näher eingehe, möchte ich einen kurzen Abriß der Geschichte des japanischen Kindertheaters geben. Im März 1973 erschien bei der Gesellschaft für Kindertheater Japans eine "Geschichte des japanischen Kindertheaters". Danach wurde der erste Schritt für das Kindertheater von der Theatertruppe Kawakami Otojiro in Tokio im Oktober 1903 getan. Aufgeführt wurden die beiden Stücke "Das Gericht über den Fuchs" und "Die lustige Fidel". Sie waren von dem damals gerade von Deutschland zurückgekehrten Schriftsteller Iwaya Sazanami nach Goethe und einem anderen Dichter bearbeitet und "Otogishibai" (Feenmärchen) genannt worden.

Vor dieser Aufführung waren jedoch schon andere Versuche zum Kindertheater unternommen worden. Im Jahre 1888 erschien in Tokio ein erster Bühnentext für Kinder unter dem Titel "Das neueste Kindertheater in Deutschland. Das Neujahrsbrot". Eine Bearbeitung desselben Stückes würde 1889 noch von einem anderen Schriftsteller, Hakagawa Kasuminojo, veröffentlicht. Den Originaltitel weiß ich leider nicht. Die Handlung ist folgende:

Ein armer Junge, der keine Eltern mehr hat, wohnt bei seiner alten Großmutter. Ein Mädchen, seine Mutter ist Lehrerin, hat Mitleid mit ihm und schenkt ihm am Silvesterabend Brot und ihr gespartes Geld. Dafür danken ihr der Junge und seine Großmutter herzlich und glauben, alles sei Gottes Gnade.
Derselbe Nakagawa übersetzte 1889 nicht nur den "Wilhelm Tell" ins Japanische, sondern schrieb 1892 noch eine komische Satire für Kinder, "Tarokaja", in der Sitte der Zeit und Belehrung für Kinder in Form und Stil des "Kyogen" eingewoben waren.

Auf der anderen Seite veröffentlichte Iwaja Sazanami im Februar 1903, also kurz vor der Erstaufführung von "Otogishibai", ein umfängliches Theaterstück "Haruwakamaru", die Bearbeitung eines deutschen Jugendromans "Heinrich von Eichenberg". Obwohl es nie aufgeführt wurde, zählt es nach wie vor zu seinen Meisterwerken und gilt als großartiges historisches Drama. In den folgenden zehn Jahren schrieb er nicht nur zahlreiche Stücke für Kindertheater, sondern trug auch zur Verbreitung des Schultheaters wesentlich mit bei. In der Zeitschrift "Kabuki", Bd. 32, 1903, begründete er sein Interesse mit den Worten:

In Deutschland führen Kinder unter Leitung des Lehrers zum Spaß ein Schauspiel auf. Es wäre gut, dies auch in japanischen Schulen zu versuchen.
In diesem Sinne gilt Iwaya Sazanami bei uns als Vater des japanischen Kindertheaters. (In Paranthese: Die Gründung der modernen Volksschule in Japan datiert mit Juli 1870).

Es ist interessant, aber keinesfalls verwunderlich, daß unser Kindertheater mit der Nachdichtung deutscher Literatur beginnt. Denn seit der sog. Meiji-Restauration, der Geburt des modernen Japans 1868, haben wir sehr viel von Europa und Amerika aufgenommen, um möglichst schnell einen modernen Staat zu bilden. Besonders Deutschland war dabei unser Vorbild. Das Stichwort Erneuerung begegnete damals in fast allen Bereichen, so auch im Bereich des Theaters.

In diesen historischen Zusammenhang ist auch die erste Aufführung 1903 einzuordnen.

In den ersten Jahren hatte die Theatertruppe Kawakami ausschließlich die beiden genannten Stücken im Repertoire. Sie fanden günstige Aufnahme. Allgemein kann man sagen, daß in den ersten zehn Jahren eine Tendenz zum Feenmärchen, in den folgenden zehn Jahren eine Tendenz zum Märchendrama bei uns vorherrschte. Ein Musterbeispiel für letzteres wäre Maurice Maeterlincks "Der blaue Vogel", der im Januar 1920 von der Theatertruppe "Minshuza" zum ersten Mal aufgeführt wurde, einer Theatertruppe, die nicht zum Kawakami Otojiro, sondern zum "Shengeki" (=Neuen Theater) gehörte. Später wurde dieses Stück noch von mehreren Theatertruppen wiederholt aufgeführt. Gab es zum Beginn der Zwanziger Jahre noch keine spezielle Theatertruppe für Kinder, so bildeten sich Ende der Zwanziger Jahre deren gleich mehrere. Eine der größten und besten war die 1927 gegründete Gesellschaft für Märchendrama Tokio, abgekürzt: Todo. Bis zu ihrer Auflösung Ende der 50er Jahre entwickelte sich mit ihr und um sie das japanische Kindertheater. Nach der obengenannten "Geschichte des japanischen Kindertheaters" führten im Jahre 1940 14 Kindertheatertruppen an insgesamt 54 Tagen 25 Stücke (aus ihrem Repertoire) auf. Davon entfielen 5 Stücke und 40 Aufführungen allein auf die Todo, deren Programm damals die Stücke "Wildente ist Wildente", "Das Leben von Guskow Bodori", Peter Pan", "Kinder bei Tagesanbruch" und die "Vorlesung von Kriegsgedichten" umfaßte, also neben Originalbühnentexten die Bearbeitung eines europäischen Kinderbuches und eine Gedichtlesung, einen Niederschlag des Krieges.

1950 gab es bereits 19 Kindertheatertruppen, die an 116 Tagen spielten. 32 Tage davon besetzte die Todo. Im Repertoire fanden sich die "Hikoichi-Geschichten" eines bekannten japanischen Dramatikers. Perraults "Der gestiefelte Kater", Schillers "Wilhelm Tell", "Doktor Faustus und der Teufel" sowie "Das Gericht über den Fuchs" nach Goethe. Im selben Jahr wurde die "Kazenoko" gegründet.

Es ist bemerkenswert, daß etwa um diese Zeit eine Auseinandersetzung der Kindertheatertruppen mit der Todo beginnt, die schnell zur Diskussion des Grundproblems führte, was denn Kindertheater eigentlich und in seiner wirklichen Form sei. Ein japanischer Regisseur meinte:

Es ist zu fragen, ob die Kinderwelt von der Welt der Erwachsenen isoliert vorhanden ist, ob das Kind sein Glück selbst bestimmen kann, wenn es sich ernst und fleißig bemüht, wie es die Todo schematisierte, ob man das Kind immer als naiv, unschuldig und rein auffassen muß.
Nein, es gibt keine von der Welt der Erwachsenen isolierte Kinderwelt. Die Kinder leben mit den Erwachsenen zusammen und können nur mit diesen gemeinsam gegen ein soziales Übel ankämpfen, um eine bessere Zukunft zu erringen.
Der Vorsitzende, Dramatiker und Regisseur der Kazenoko, Tada Toru, vertritt dieselbe Meinung:
Wichtig ist, daß wir solch ein Drama schreiben müssen, das zum Herzen der Kinder dringt und in dem die Erwachsenen mit den Kindern gemeinsam kämpfen und sich den Weg in eine neue Zukunft bahnen. Es ist dabei fast einerlei, ob es sich um ein rein realistisches, phantastisches, historisches oder exotisches Stück handelt.
Es wäre sicherlich falsch, die Frage nur auf eine solche Gegensätzlichkeit zu beschränken. Denn alle sind in der Grundhaltung einig, daß das Gefühls- und Geistesleben der Kinder in reichem Maße weiter zu entwickeln, ihre Fähigkeit zur Phantasie und zum (kreativen) Schaffen zu erziehen und ihre Tatkraft zu fördern sei. Jedenfalls hat die neue Phase des Kindertheaters mit dem Ende der Todo begonnen, an deren Stelle die Kazenoko nach und nach eine wichtige Rolle spielt. Heute gibt es mehr als 50 Kindertheatertruppen in Japan, denen ca. 200 Kindertheater, Kinder-Eltern-Theater und Kinderkunsttheater in ganz Japan zur Verfügung stehen. Mit anderen Worten, man kann heute jeden Tag irgendwo eine Aufführung von ihnen sehen.

Die Kazenoko beging 1975 die 25. Gründungsfeier. Sie war zunächst eine Amateurtheatertruppe, deren Mitglieder hauptsächlich Angestellte und Studenten waren. Erst 1959 begann sie als Fachtheatertruppe ihre Tätigkeit. Zunächst trat sie in Turnhallen für Volksschüler auf, ab 1963 auch vor Schülern der Mittel- und Höheren Schule, seit 1966 spielt sie auch in Kindergärten. Seit 1964 bereist sie - in zwei oder drei Gruppen aufgeteilt - mit ihren Stücken ganz Japan und kommt zu jährlich etwa 160 - 180 Aufführungstagen. Sie zählt heute 56 Mitglieder. 1970 wurde die Ausbildungsanstalt für Kindertheater neu eingerichtet. Außerdem veröffentlicht sie jährlich einmal eine Zeitschrift.

Seit der Gründung 1950 hat die Kazenoko insgesamt 59 Stücke aufgeführt, seit 1960 fast jährlich einen Preis gewonnen. Für ihr Repertoire ist kennzeichnend, daß sich in ihm neben der Dramatisierung von Sagen und Kunstmärchen zahlreiche Originalbühnenstücke befinden mit zumeist sozialer Thematik. Über die Bearbeitungen nach dem Kyogen wird später noch zu sprechen sein. An Bearbeitungen nach ausländischen Verlagen wären z.B. "Die Regentrude" nach Storm, Hauptmanns "Versunkene Glocke", "Die goldene und silberne Axt" nach Grimms Märchen, Sergej Michalskows "Drei Ferkel", Prokofjevs "Peter und der Wolf", "Vor dem Sturm" von Drad Jong und andere zu nennen. Die relativ zahlreichen Bearbeitungen ausländischer Vorlagen und Volksmärchen haben die Funktion, den Kindern einen Traum zu geben, ihnen zu zeigen, daß es außerhalb Japans weitere Länder und Leute gibt.

Nun möchte ich von den beiden Stücken in Hamburg sprechen.

Das "Koffertheater" ist ein neuer Versuch der Truppe und erst 1975 ins Programm aufgenommen. Der Name besagt, daß die Schauspieler mit einigen Koffern, in denen sich die Requisiten wie Seile, Schnüre, Papiere befinden, überall hinfahren und überall spielen können. Das "Koffertheater" beginnt mit dem Handspiel. Das Handspiel war früher bei uns sehr populär. Als wir noch weniger Spielzeug hatten und unsere Wohnungen noch in typisch japanischen Stil gebaut waren, spiegelten wir verschiedene Schattenspiele mit den Händen, bei denen verschiedene Handformen auf die Papier-Schiebetüren zwischen Zimmer und Korridor projiziert wurden.

Auf dieser traditionellen Basis entwickelten die Kazenoko-Schauspieler weitere Formen, den sechshändigen Kwannon-Buddha, Teufel (unser Teufel hat zwei Hörner), Blume, Biene, Krabbe, Hase, Schildkröte, Schwan, Frosch usw. Der Titel dieses Vorspiels heißt "Ote-to-te-to-te-to-te-te-to-te-to". te bezeichnet im Japanischen die Hand.

Dem Handspiel folgt das Seil- und Schnurspiel. Zunächst öffnet ein Schauspieler langsam einen Koffer. Die Zuschauer sehen darin ein Seil und dicke, mittlere und dünne Schnüre. Mit dem Seil spielen die Schauspieler zunächst Tauziehen, Seilspringen und -werfen. Dann folgt das Schnurspiel. Auch dieses wurzelt tief in der Tradition japanischen Kinderspiels, speziell der Mädchen.

Kazenoko hat daraus ein eigentümliches Formenspiel entwickelt. 3 bis 7 Schnurspieler zusammen formen aus einer Schnur Straße, Yacht, Fisch, Stern, Haus, viereckige Leere, Berg, Raupe, Blumen usw. Sie bilden jedoch nicht nur diese Formen, sie lassen vielmehr die Kinder aus den verschiedenen Schnurformen kurze Geschichten entwickeln.

Aus einem langen grünen Seil wird eine Wiese. Während langsam eine Raupe einherkriecht, treibt eine Knospe aus der Erde und wird zu Blüte. Es regnet, und die Raupe sucht Schutz unter der Blume. Zwei Schnecken wippen auf einem Blatt. Es dunkelt und am Himmel scheinen Sterne. Alle schlafen. Als es wieder tagt und die Sonne scheint, entpuppt sich aus der Raupe ein Schmetterling und beginnt zu flattern. Man kann sich leicht vorstellen, welche Schnurformen für dieses Spiel nacheinander gebildet worden sind.

Dann beginnen die Schauspieler ein bei uns Japanern sehr beliebtes Abzählspiel zu singen, wobei sie je nach Inhalt der Strophe mit den Schnüren singend eine Form bilden. Aus dem Gesagten ist leicht ersichtlich, welch neues originelles Leben die Kazenoko dem traditionellen Schnurspiel abgewonnen hat.

Jetzt wird ein weiterer Koffer aufgemacht, in dem sich eine Menge farbiger Papiere befinden. Die Papiere werden herausgenommen und das Origami-Spiel kann beginnen. Erst werden ein Schmetterling und eine Blume in fast gleicher Faltweise aus gelbem und rosa Papier gefaltet, dann ein Hund und ein Hündchen aus braunem und orangefarbenem Papier, schließlich flatternde Vögel aus rotem und blauem Papier. Jetzt betritt ein Zeitung lesender Schauspieler die Bühne und faltet aus ihr eine Krone, dann ein Gewehr. Danach folgt das Origami-Quiz. Von Gitarre und Flöte begleitet singen und falten die Schauspieler Papiere zu Teilen. Diese fügen sie zusammen und lassen die Kinder eine Figur nach der anderen erraten.

Schließlich spielen sie mit den gefalteten Papieren "Das häßliche Entlein" nach Christian Andersen, und zwar ohne gesprochenen Text, nur von Gesang, imitierten Geräuschen und Instrumentalmusik begleitet. Da ich die Geschichte des "häßlichen Entleins" voraussetzen kann, möchte ich Ihnen lediglich die Bilder zeigen.

Hier muß ich das japanische Origami kurz erläutern. Es ist denkbar, daß es seit der Erfindung des Papiers datiert. Da Papier zunächst sehr kostbar war, wurde von Origami nur am Hofe und in Shinto-Schreinen Gebrauch gemacht. Z. B. wurde in einen der größten Schreine "Ise-Jungu", der mit dem japanischen Kaiser (Tenno) am engsten verbunden ist, die Puppe für das Gottesbild aus Papier gefaltet und teilweise mit dem Messer eingeschnitten. Später wurde Origami im Ritus allgemein verwendet. Das Spiel-Origami entstand vor etwa 1 000 Jahren, der heutige Typ vor etwa 600 Jahren. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden etwa 70 Arten Origami erfunden, z. B. Kranich, Frosch, Schiff, Sänfte, Ballon, Lilie, Schwertlilie, usw. Das erste Buch, das man über die Faltweise des Origami schrieb, wurde erst 1797 beim Verlag Yoshinoya in Tokio veröffentlicht. Aber da damals Papier immer noch kostbar war, ist zweifelhaft, ob Origami als volkstümliches Spiel schon weit verbreitet war. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfährt das Origami seine weite Verbreitung. Das Kultusministerium erkannte es als Lehrstoff zur Handarbeit in Kindergärten und Volksschulen an. Dies dauerte etwa bis 1954. Nach einer längeren Pause, in der man wegen der mechanischen und einheitlichen Faltweise starke Zweifel am erzieherischen Spielwert des Origami hegte, wird Origami heute wieder als Lehrstoff zur kreativen Entwicklung und Ausformung des Gestaltungssinns der Kinder verwendet. Man muß deutlich zwischen einem Origami mit Hilfe von Schere, Klebstoff und Farbe und dem sogenannten reinen Origami, das nur das Falten zuläßt, unterscheiden. Kazenoko beschäftigt sich nur mit dem reinen Origami, um den Kindern die wahre Gestaltungsfreude zu vermitteln. In dieser Hinsicht verdankt es dem Original-Origami von Akira Yoshizawa viel.

Jetzt möchte ich vom zweiten Dramenstück, "Hanagatana" (Kirschblütenschwert) sprechen. Es besteht aus drei Szenen. Seine Personen sind ein Fürst, sein Diener und ein Junge. Zeit und Ort sind Frühling im Berg Higashiyana in Kyoto.

Die erste Szene: Der dicke Fürst geht mit einem schweren Schwert an der Seite schwitzend und keuchend mit seinem dummen Diener bergauf. Auf dem Gipfel angekommen will er einen wohlgeformten, blütenreichen Zweig des Kirschbaums für den Kirschblütenwettbewerb vor dem Kaiser haben. Der Diener weist ihn darauf hin, daß eben darum schwitzt und keucht, weil er das Schwert an der Seite trägt.

Daraufhin befiehlt ihm der Fürst, das Schwert in der Hand zu halten. Der Diener bereut alsbald seine voreilige Bemerkung. Nun befiehlt der Fürst, einen der schönsten Zweige sofort abzubrechen. Da dieser für den Diener zu hoch hängt, bittet er den Fürsten, er möge für ihn Fußbank spielen. Darüber empört sich der Fürst, beschließt, den Zweig selber abzubrechen, und macht den Diener zur Fußbank. Da der Fürst zu dick und zu schwer ist, bricht der Diener zusammen. Dies geschieht mehrere Male. Als beide völlig erschöpft sind, kommt ein Junge mit einem schönen blütenreichen Zweig vorbei. Der Junge ißt Reisbrot. Er ist auf dem Heimweg und der Kirschblütenzweig ist für seine kranke Mutter bestimmt. Der Fürst will den Zweig haben, der Diener das Reisbrot. Sie sagen gleichzeitig: "Recht wunderschön!", meinen jedoch etwas Verschiedenes. Nach komischen Wortwechseln befiehlt der Fürst dem Diener, er solle dem Jungen den Zweig rauben.

Die zweite Szene: Der Diener, der sich nach dem Reisbrot sehnt, verlangt vom Jungen einen Reiskuchen. Dieser gibt ihm einen. Da er ausgezeichnet schmeckt, verlangt der Diener einen zweiten. Der Junge gehorcht. Aber beim dritten Reiskuchen folgt er nicht mehr, denn der ist für seine kranke Mutter. Trotzdem fordert der Diener auch diesen dritten, letzten Reiskuchen und darüber hinaus den Kirschblütenzweig. Es kommt zum Krach. Schließlich nimmt ihm der Diener beides weg. Der Junge weint. Aber in seiner Hand bleibt unerwartet das Schwert zurück und er entschließt sich, mit seiner Hilfe einen neuen Zweig abzuhauen.

Die dritte Szene: Der Diener, der völlig vergessen hat, daß er das Schwert verloren hat, zeigt dem Fürsten stolz seine Beute. Nachdem letzterer den Reiskuchen gegessen hat, fragt er nach dem Zweig. Aber der hat seine Blüten beim Handgemenge des Dieners mit dem Jungen verloren. Der Fürst gerät in Wut und will den Diener töten. Als er sein Schwert zurückfordert, merken sie, daß das Schwert in den Händen des Jungen ist. Nach einem komischen Wortwechsel beschließen sie, ihn zu fangen. Doch der entgeht den beiden ungeschickten Männern, obwohl er beinahe gefangen wird. Der Fürst schlägt statt seiner den Diener, der Diener fesselt den Fürsten mit der Schnur. Schließlich läuft der Junge, das Schwert schwingend, beiden nach. Sie bitten um ihr Leben. Der Diener sagt, er habe Reiskuchen und Zweig auf Befehl des Fürsten geraubt. Der Fürst sagt, einen solchen Befehl habe er nicht gegeben. Der Junge verachtet beide. Plötzlich springt er, das Schwert schwingend, dem Fürsten auf den Rücken, der vor Schreck in die Knie sinkt, und schlägt sich einen schönen Zweig vom Kirschbaum ab. Dann geht er singend seiner Wege. Fürst und Diener, die ihn für den leibhaftigen Teufel halten, eilen mit Mühe und Not davon, da sie sich vor seiner Rückkehr fürchten.

Dieser Komödie liegt eines der traditionellen Schauspiele Kyogen zugrunde. Das Kyogen, dessen wörtliche Übersetzung wahnsinnige Sprache lauten würde, kommt in zweifacher Weise vor, einmal selbständig und unabhängig vom Noh-Spiel, zum anderen als Zwischenspiel zwischen zwei Noh-Spielen. Personell gibt es drei Arten des Kyogen: Hitori-Kyogen, bei dem eine Person redet und spielt, Futari-Kyogen mit zwei Personen und Sannin-Kyogen mit drei Personen (wie in "Hanagatana"). Im Sannin-Kyogen treten als Personen der Daimyo (Fürst), der Tarokaja (Stümper), und eine Person auf, die an Fähigkeit und Kraft den beiden überlegen ist, z.B. ein Dieb oder Teufel. Dabei wird der Fürst, der mächtig und arrogant ist, in der Tat als ein Feigling und Ohnmächtiger (Schwächling) entlarvt und gefoppt. Der Tarokaja ist charakterlich dem europäischen Clown ähnlich: er ist schlau und dumm oder fesch und wählerisch. In "Hanagatana" werden der Fürst und sein Diener von einem kleinen Jungen besiegt und verachtet, der Fürst schließlich auch noch von seinem Diener im Stich gelassen.

Eins darf dabei nicht übersehen werden: der spaßhafte, witzige Text, in dem gelegentlich das vorhergehende Noh-Stück parodiert wird, oder die Mächtigen schlechthin in der feudalistischen Gesellschaft lächerlich gemacht werden. Auch in "Hanagatana" ist der witzige Text in Rede und Gegenrede charakteristisch, und es wird im Laufe des Spieles deutlich, wer in Wirklichkeit der Dümmste ist.

Geschichtlich soll das Kyogen ein bißchen später als das schon im 14. und 15. Jahrhundert gegründete Noh entstanden sein. Gegenüber der Feierlichkeit des Noh-Spiels ist es durch seine Komik gekennzeichnet. Die Spieler spielen ohne Masken, während für das feierliche Noh-Spiel unbedingt eine oder mehrere Masken vorgeschrieben sind.

"Hanagatana" wurde vom Dramatiker, Regisseur und Leiter der Kazenoko, Toru Tada, geschrieben und ist, wie die zahlreichen Aufführungen belegen, wegen seiner Bündigkeit und Lustigkeit sehr beliebt. Es ist klar, daß sein Zweck nicht in der Wiedergabe oder Nachahmung des Kyogen liegt. Denn in "Hanagatana" gibt es die für das eigentliche Kyogen untypische Variante des Auftritts des Jungen. Zwar nimmt der Verfasser den typisch possenhaften Charakter des Kyogen in seinen Text gut auf, aber seine Durchführung, die Rolle des Jungen entsprechen auch und zunächst dem von ihm formulierten Prinzip des Kindertheaters. Kinder und Erwachsene leben in ein und derselben Gesellschaft. Die Kinder leben mit den Erwachsenen und nicht in einer geschützten Zone unter ihnen. So müssen sie eventuell auch gegen die Erwachsenen, gegen Gewalt und Unrecht kämpfen. Das zu zeigen ist aber zugleich das Grundprinzip der Kazenoko.

[Vortrag WS 1975/76 im Seminar: Schuldrama/Kindertheater II (Von der Aufklärung zur Gegenwart)]