Reinhard Döhl | Was wäre, wenn...

Axel Eggebrechts "Hörspiel" bzw. Feature "Was wäre, wenn..." wurde am 9. März 1947, am Vorabend der Moskauer Konferenz, der vierten einer Reihe die Nachkriegsgeschichte bestimmender Außenministerkonferenzen, gesendet. Thema dieser Moskauer Außenministerkonferenz war wesentlich die Deutsche Frage. In diesem Kontext stellt Eggebrechts Feature, das aus fiktiver Retrospektive über diese Konferenz berichtet, so etwas wie einen deutschen Beitrag zu dieser Konferenz dar.

Peter von Zahn berichtet in einem Vorwort zur Druckfassung, daß "der Arbeitskreis, in dem die Idee zu dem [...] Hörspiel gefaßt wurde, [...] von Illusionen über den Ausgang der Moskauer Konferenz weit entfernt" war. Und er vermutet, daß bei einer Umfrage unter den Deutschen am 9. März, "Was erwarten Sie von der Moskauer Konferenz?", die Antwort wahrscheinlich gelautet hätte:
"Nichts. Jedenfalls nicht Gutes." Viele hätten diese Antwort mit einem verzweifelten Achselzucken begleitet. Nicht ganz zu Unrecht. Die Londoner Vorverhandlungen ließen auf eines schließen: Die Summe der Ansprüche, welche die verarmten, ausgebluteten Völker unserer Nachbarschaft an uns stellen, ist größer als die deutsche Substanz.

Daß und warum dieses Feature dennoch geschrieben wurde, warum sein Verfasser trotz allem einen Zukunftsentwurf wagt und, nach der gescheiterten Konferenz, in einem weiteren Feature, "Wenn wir wollen..." diesen Zukunftsentwurf verteidigt, wird zu fragen sein.

Da beide "Hörspiele" aus dem historischen Abstand von fast 50 Jahren ohne Kenntnis einiger Daten, Fakten und Zusammenhänge nicht mehr ganz verständlich sein dürften, seien zunächst, dem "dtv-Atlas zur Weltgeschichte" folgend, diese Daten, Fakten und Zusammenhänge skizziert.

Zu einem Grundproblem der internationalen Politik wurden nach 1944 die Deutsche bzw. die Deutschlandfrage, mit ihren Teilaspekten der Teilung, der Wiedervereinigung, der Grenzregelung, des politischen Status u.a.. Ihre Diskussion wurde nach 1945 immer mehr zum Spiegelbild eines sich verschärfenden Ost-West-Konflikts, ablesbar an einer Vielzahl von Konferenzen und ihren Ergebnissen.

1944 zieht Roosevelt auf der Konferenz von Dumbarton Oaks seine Unterschrift zurück, die er schon unter den Morgenthau-Plan gesetzt hatte, nach dem Deutschland in einen Agrarstaat verwandelt werden sollte.

1945 wird im Februar auf der Konferenz von Jalta die Nachkriegspolitik gegenüber Deutschland festgelegt: Beseitigung des Nationalsozialismus, Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen, Bildung eines Alliierten Kontrollrats, Demontage von Industrie, Reparationen, Gebietsabtretungen.

Nach Kriegsende folgt die Berliner Vier-Mächte-Erklärung, wird der Alliierte Kontrollrat gebildet, verabschiedet die Konferenz von Potsdam das Potsdamer Abkommen: Beseitigung von Nationalismus und Militarismus, bis zu einer Friedenskonferenz Aufteilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, örtliche Verwaltungen, deutsche Zentralbehörden unter Aufsicht des Kontrollrats, Kontrolle der Industrie, Auflösung von Syndikaten und Kartellen, Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit: Reparationen und Demontage von Industrieanlagen. Zwar verpflichten sich die drei an der Potsdamer Konferenz beteiligten Siegermächte zu einem Friedensvertrag mit Gesamtdeutschland, doch werden keine Vorstellungen über ein deutsches Selbstbestimmungsrecht formuliert.

Die 2. (Moskauer) Außenministerkonferenz lädt alle alliierten Staaten 1946 zur Pariser Friedenskonferenz ein.

Nach der 3. Außenministerkonferenz in New York werden im Februar die Pariser Friedensverträge mit Finnland, Italien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien geschlossen.

Zu einer Einigung über Deutschland kommt es auf der 4. Außenministerkonferenz, der Moskauer Konferenz, um die es in Eggebrechts "Hörspiel" geht, nicht. Stattdessen vertiefen die Truman-Doktrin (Zusage von militärischer und Wirtschaftshilfe an alle Länder zur Wahrung ihrer Unabhängigkeit) und der Marshall-Plan (Lieferung von Rohstoffen, Waren, Kapital als Kredit oder Zuschuß, von der UdSSR als "Instrument des Dollar-Imperialismus" abgelehnt) die Ost-West-Spannung. (Es ist hier zu ergänzen, daß die Wirtschaftshilfe des Mashall-Plans von der Bevölkerung weniger wirtschaftspolitisch gesehen, vielmehr "als primär humanitäre Hilfe" empfunden wurde, als eine Chance, nach zwei Hungerwintern zu überleben.)

Nachdem auch die 5. Außenministerkonferenz in London die Deutsche Frage vertagt, beschließt 1948 die Londoner Sechs-Mächte-Konferenz den wirtschaftlichen Anschluß der Westzonen an Westeuropa. Der Ostblock protestiert auf der Warschauer Außenministerkonferenz.

Während der Berliner Blockade wird 1949 auf der Washingtoner Außenministerkonferenz von den Westmächten das Besatzungsstatut für Westdeutschland unterzeichnet.

Dieser Aufriß macht hinreichend den historischen Stellenwert der Moskauer Konferenz deutlich. In einem zunehmend gespannteren Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR war sie so etwas wie eine letzte Chance, über die Klärung der Deutschen Frage hinaus eine Entwicklung aufzuhalten, die - nach Scheitern der Konferenz - konsequent in die Ost-West-Konfrontation des Kalten Krieges münden mußte.

Wieweit man sich in Deutschland, selbst bei verhaltenem Optimismus, schon vor der Moskauer Konferenz in diesen Konflikt hoffnungslos verstrickt sah, läßt sich ebenfalls dem Vorwort von Zahns ablesen:

"Man wird mit sanftem Lächeln einwenden, das gespannte Verhältnis zwischen der Sowjet-Union und den Vereinigten Staaten von Amerika überschatte alle anderen Probleme und mache die zwergenhaften Bemühungen des deutschen guten Willens zunichte.

Die Folge war eine weitgehende Lethargie, jener Zustand einer 'fatalen Gleichgültigkeit', den viele Beobachter des westlichen Nachkriegsdeutschland beschrieben haben, ein Zustand, der Hand in Hand ging mit einem 'bedenklichen Prozeß' der Verdrängung."

Nur vor diesem Hintergrund lassen sich die hier zur Diskussion stehenden Hörspiele Borcherts, Schnabels und Eggebrechts letztlich verstehen: als Versuch einer Bestandsaufnahme des "uferlosen Selbstgesprächs einer Notlage" (Schnabel), als dichterisch überhöhtes, ohnmächtiges sich Aufbäumen, als Frage (Borchert) und als Versuch, mit einem "politischen Gebrauchsstück" jene "fatale Gleichgültigkeit" zu durchbrechen (Eggebrecht). "Ich meine", pointierte Eggebrecht in einem Brief an den Verfasser seine Position gegenüber Borchert,
"Ich meine, daß ich - anders als Borchert - eine "Dichtung" niemals schreiben wollte, sondern durchaus ein politisches Gebrauchsstück. Borchert aber, wenn zugleich selber bewußt politisch, war zuallererst eben Poet."
Eggebrecht hat über sich als Schriftsteller, der bei dem meisten, was er nach dem Kriege schrieb, "auf politische Wirkung zielte", in einer Autobiographie, Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche", gewissenhaft und detailliert Auskunft gegeben. Er erinnert sich dort, wie ihm bereits 1945 als politischem Kabarettisten der "bedenkliche Prozeß" der Verdrängung, die "fatale Gleichgültigkeit" begegneten.
"Wir forderten im Anschluß an unsere Darbietungen zur Diskussion auf. Die meisten schwiegen, sie hatten verlernt oder, wenn sie jung waren, nie gelernt, ihre Meinung offen heraus zu sagen. Zudem schien es mir, als wollten sie am liebsten alles vergessen.

Das war eine wichtige Erfahrung. Schon hatte die große Verdrängung begonnen, dieser bedenkliche Prozeß, der in den folgenden Jahren die übliche Haltung der Deutschen bestimmte. Dagegen war mit netten literarischen Spielchen wenig auszurichten. Mit dämmerte, daß es geduldiger und behutsamer Anstrengung bedürfen würde, die fatale Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Da sah ich eine Aufgabe für mich, aber noch war ich eingesperrt in einen entlegenen Winkel."

Diese Aufgabe konnte Eggebrecht in Angriff nehmen, als er, von den Engländern "aufgespürt", nach einem Umweg über Eutin auf eigenen Wunsch "fest angestellter Redakteur" des Nordwestdeutschen Rundfunks "mit erfreulich ungenau umschriebenen Aufgaben" wurde.

Die Bedeutung des Rundfunks für die direkte Nachkriegszeit, die spezielle Situation des Nordwestdeutschen Rundfunk ist einleitend bereits skizziert worden. Das letzte Kapitel der Eggebrechtschen Autobiographie bietet jetzt die Möglichkeit, diese Skizze aus der Sicht eines Beteiligten zu ergänzen und zu ihrem bedenklichen Ende zu führen.

"Der Rundfunk", lautet Eggebrechts Überzeugung, "war die letzte Stimme des untergegangenen Hitlerstaates gewesen, er mußte die erste Stimme der freigewordenen Deutschen sein." Als solche bot er die Möglichkeit, nach jahrelangem, politisch bedingtem Schweigen "endlich" zu reden, zu seinesgleichen, und, "das ist wichtiger, zu den vielen, die meinen, die Welt sei zu Ende. Dabei wird sie doch gerade neu geboren." Und hierzu sei der Rundfunk "ein ideales Instrument des Literaten, der unmittelbar auf die Umwelt Einfluß nehmen will".

Rückblickend rechnet Eggebrecht die ersten Nachkriegsjahre "zu den besten seines Lebens".

"Es waren karge Jahre, wir hatten wenig zu essen wie alle Deutschen, oft froren wir jämmerlich und trugen geflickte Anzüge. Aber wir experimentierten solange, bis wir uns aus Amateuren zu Profis gemausert hatten. Das Entscheidende aber war, daß wir unsere Meinung völlig ungehindert verbreiten konnten, auch dann, wenn wir Kritik an der Besatzungsmacht übten. Anfangs hielt man uns für beflissene Kollaborateure, bald verstanden immer mehr Mitbürger, daß wir für sie sprachen."
Wie sehr damals ein Hörspiel dem Hörer das Gefühl vermitteln konnte, es spreche für ihn, hat sich bereits im Fall Borchert
gezeigt. Sein "Draußen vor der Tür" durchbrach die Mauer der "fatalen Gleichgültigkeit", indem es ein "Identifikationsangebot zu der Stunde" machte, in der es "am meisten benötigt wurde" (Killy).

Ein solches Identifikationsangebot macht der politische Schriftsteller Eggebrecht seinen Hörern jedoch nicht, wenn er, fast gleichzeitig mit Borchert und Schnabel, nicht zeigt, wie es ist, sondern entwirft, wie es sein könnte. Daß die Hörer dies durchaus empfunden haben, läßt sich leicht an der Gegenüberstellung von Hörerreaktionen verdeutlichen. Lautete das Echo auf "Draußen vor der Tür" z.B.

"Daß ich plötzlich erschrak und wußte - Du bist nicht allein, da ist ein Mensch. Ein Mensch, der spricht wie Du. Der denkt wie Du. Der leidet wie Du. Ein Mensch. das hat mich froh gemacht, das hat mir Kraft gegeben,"
schrieben die Hörer von "Was wäre, wenn..." z.B.:
"Ich habe wieder Mut zum Weiterleben bekommen. Ihre Ideen haben nur den einen Fehler, daß sie zu logisch sind, zu einfach. Nun sagen Sie um Himmels willen: Was können wir tun, um weiterzukommen auf dem vorgeschlagenen Wege?"
Leider sind auch im Falle Eggebrechts die Belege für eine umfangreiche Hörerpost äusserst spärlich. Auf die Bitte um Auswahl einiger instruktiver Hörerreaktionen antwortete Eggebrecht dem Verfasser mit:
"Leider nein. Nach 29 Jahren unmöglich. Es sei denn, der der NDR hätte dergleichen in seinen Archiven aufbewahrt - was ich bezweifle."
Eggebrechts Zweifel waren nur zu berechtigt, so daß man auch in seinem Fall auf Zufallsfunde angewiesen ist. So ist es gut, daß Eggebrecht in seinem zweiten Hörspiel zur Moskauer Konferenz, "Wenn wir wollen...", einige dieser Hörerbriefe nebst einer Zusammenfassung publizistischer Reaktionen zitiert. Sie als repräsentativ für die "fast zweieinhalbtausend" Hörerbriefe, die auf die Sendung hin eintrafen, zu nehmen, wäre zu gewagt. Aber sie haben einen gemeinsamen Grundton, deuten an, daß zumindest ein Teil der Hörer Eggebrechts utopischen Entwurf nicht als "Hirngespinst" aufgefaßt, sondern als "Forderung", als Entwurf eines "praktischen Programms" gehört hat, als 'Utopie Hoffnung'.
"Wenngleich Ihr Hörspiel das Kleid einer Utopie trägt, so weiß jeder aufmerksame Hörer: Hinter dieser Ausführung steckt nicht weniger, als ein Appell an die Weltvernunft, an das Weltgewissen",
schreibt ein Ingenieur, während ein tschechischer Grubenarbeiter aus dem Ruhrgebiet sekundiert:
"Seit zwanzig Jahren bin ich konfessionslos. Diesmal sagte ich unwillkürlich am Schluß: Gebe Gott, daß es keine Utopie ist."
Die Hoffnung der Hörer täuschte. Die politische Entwicklung, gegen die Eggebrecht ebenso anschrieb wie gegen die "fatale
Gleichgültigkeit", verlief anders. Politische Wirklichkeit ist jedoch kein Gegenbeweis für Utopie. Die Tatsache, daß Eggebrechts utopischer Entwurf trotz zahlreicher Schwächen - das Stalinbild des Hörspiels war schon kurze Zeit später nicht mehr aufrecht zu halten - die Tatsache, daß Eggebrechts Hörspiel trotz seiner Schwächen auch beim heutigen Abhören eine gewisse Frische sich bewahrt hat, spricht gegen diese politische Entwicklung. Sie spricht, um nicht mißverstanden zu werden, mehr gegen diese politische Entwicklung als für den utopischen Entwurf, der aus dem historischen Abstand ein wenig naiv anmutet. Doch hat diese Naivität Gründe, die man auch sehen muß.

Es wurde bereits gesagt, daß Eggebrecht in dem der Moskauer Konferenz folgenden Hörspiel, "Wenn wir wollen...", die Thesen des ersten Hörspiels verteidigt hat. Er wiederholt sie sogar noch einmal und zeigt damit an, wie ernst und politisch wichtig sie ihm waren.

Da ist zunächst - unter dem Eindruck der Atombombe - die Forderung: "Keinen dritten Weltkrieg!" Konkreter als Borcherts Manifest "Dann gibt es nur eins" -

"Du. Mann an der Maschine und Mann in der Werkstatt. Wenn sie dir morgen befehlen, du sollst keine Wasserrohre und keine Kochtöpfe mehr machen - sondern Stahlhelme und Maschinengewehre, dann gibt es nur eins: sag NEIN!" -
konkreter als Bochert fordert Eggebrecht den Abbau der Nationalstaaten und damit das Entschärfen der kriegsfördernden
nationalen Egoismen, schlägt er vor:
"Zum Beispiel könnten Verbände den freiwilligen Verzicht auf die jeweilige Staatsbügerschaft zugunsten der UNO propagieren."
Man mag angesichts der heutigen UNO-Wirklichkeit darüber lächeln, vielleicht auch noch angesichts der heutigen EG-Wirklichkeit über die weiteren "durchaus real gemeinten Vorschläge":
"Kein Friedensvertrag mit Deutschland. Es hört auf, Staat zu sein. Es wird Mandatsland der UNO. Dieser Zustand bleibt aber nicht auf Deutschland beschränkt. Von Mittelrußland bis zum Kanal wird ein einheitliches Welt-Notstandsgebiet errichtet unter dem vorläufigen Namen C.E., Central Europe. Das erfordert Verzicht auf viele einzelstaatliche Rechte."
Es wäre zu fragen, ob solche (naiven) Vorschläge nicht viel mehr den ursprünglichen Intentionen der UNO entsprechen, als deren heutiger Zustand, ob sie nicht den ursprünglichen Europa-Ideen, wie sie vor allem auch von Widerstandsgruppen vertreten wurden, näher sind als dem, was unter ihrem Namen an nationalen Egoismen in Brüssel und anderswo praktiziert wird.

Bliebe noch als letzter, "wichtigster Vorschlag" des Hörspiels:

"Dem Gebiet C.E. wird von der übrigen Welt der 'aktive Friede' erklärt. Er wird unter der Leitung der UNO als Feldzug geführt. Mit allen Machtmitteln. Die Kosten sind unerheblich, verglichen mit den Kosten eines Weltkrieges. Und - sie kommen zehnfach herein."
Man muß hier genau hinhören. Was Eggebrecht in seinen Hörspielen, die ja auch ein deutscher Beitrag zur Moskauer Konferenz waren, fordert, ist nicht ein Friedensvertrag mit Deutschland, es ist - in dialektischer Umkehrung der bisherigen Gepflogenheit der Kriegserklärung - die Friedenserklärung, nicht nur für Deutschland, sondern für alle an dem von Deutschland angezettelten Krieg beteiligten europäischen Nationen. Das ging nicht nur weit über das hinaus, was in den Pariser Verträgen beschlossen wurde, was auf der Moskauer Konferenz zur Diskussion stand, das verlangte von allen Beteiligten eine radikale Umkehr von einer von nationalem Denken geprägten politischen Praxis, das forderte radikales politisches Umdenken. Und genau darin steckt die Utopie, nicht in den einzelnen Vorschlägen. Sie sind Vorschläge, die durch bessere ersetzbar wären, hätte dieses Umdenken erst einmal stattgefunden.

Dieses Umdenken zielt, in "Wenn wir wollen..." in einem Gespräch des Autors mit seinem Alter ego ausdrücklich als "politisches Glaubensbekenntnis", "frei nach Hegel und Karl Marx" formuliert, auf Veränderung der Welt.

"Es kommt nicht darauf an, die Welt zu erklären, sondern sie verändern."
Ist das naiv? Ist es naiv, für eine zu verändernde Welt radikales politisches Umdenken vorauszusetzen. Wenn man hier überhaupt von Naivität reden darf, dann von einer Naivität der politischen Wirklichkeit, der politischen Praxis gegenüber. Und man müßte hinzusetzen, daß diese Naivität Voraussetzung ist für den, der beides ändern will.

Eggebrecht, der seine Position im zweiten Hörspiel als die eines Sozialisten markiert, der "auf der Seite des Lebens" stehe, hat von dieser Naivität als Voraussetzung seines "durch nichts zu erschütternden Optimismus" eigentlich nie einen Hehl gemacht, ja sich in seiner Autobiographie als "ein wenig terrible simplificateur" charakterisiert.

"Ja - ich leugne nicht eine gewisse Sympathie für die 'schrecklichen Vereinfacher'.

Die Formel stammt vom großen konservativen Kulturhistoriker Jacob Burkhardt. Er prangerte damit die flinke Plattheit mancher Epigonen der Aufklärung an. Aber er hat nie die 'Komplikation' als ewiges Daseinsgesetz proklamiert. Er lehrte das Differenzieren, um dadurch zu klaren, einfachen Resultaten zu gelangen. Man braucht nur nachzulesen, wie er die Geburt des modernen Intellektuellen in der Renaissance aus höchst verwickelten ökonomisch-politischen Voraussetzungen erklärt.

Reaktionäre aller Schattierungen aber mißbrauchen das griffige Schlagwort, um jede Veränderung der Welt als Hirngespinst gedankenloser, denkunfähiger Utopisten zu brandmarken. Und das ist weitaus gefährlicher."

Es ist bemerkenswert, daß ein dezidiert auf "politische Wirkung" zielender Hörspielautor, der seine Hörspiele als "Mittel zur Veränderung der Welt" nicht nur auffaßte, sondern sie öffentlich auch so nannte, mit diesen Hörspielen Zustimmung oder Widerspruch - auch dafür bietet das zweite Hörspiel Beispiele - hervorrief, jedoch keinerlei politische Schwierigkeiten hatte.
"Niemals", antwortete er dem Verfasser,
"Niemals - es sei denn, daß ich beim Hereinbrechen des Proporz-Systems, also der deutschen Parteien, den Verlust der einzigartigen Freiheit der Meinungsäußerung, die wir unter der britischen Militärregierung hatten, allzu laut beklagte - was natürlich zu Konflikten führte."
Dieses Proporz-System brach über den Nordwestdeutschen Rundfunk herein, als - mit Ausscheiden Hugh Carleton Greens - Adolf Grimme am 15. November 1948 den Posten des Generaldirektors übernahm, der Nordwestdeutsche Rundfunk also in deutsche Hände überging. Was dem im Jahre 1949 folgte, brachte Erich Kuby in der Süddeutschen Zeitung am 16.6.1949 auf die Formel:
"Der Geist hat eine Schlacht verloren",
faßt Schaaf aus historischen Abstand wie folgt zusammen:
"Nach einer Massenkündigung am 13. Mai 1949 (51 Mitarbeiter wurden gekündigt, 35 von ihnen mußten jedoch auf Grund arbeitsrechtlicher Bestimmungen wieder eingestellt werden), nach dem freiwilligen oder unfreiwilligen Abgang vieler profilierter Redakteure (Schnabel, Schütz, Eggebrecht und andere), nach einer Serie von Krächen, Affären, Prozessen wurde der breiten Öffentlichkeit klar: im NWDR hat der Proporz die Macht ergriffen."
Daß dies auch hörspielgeschichtliche Konsequenzen hatte, daß Feature-Jahr 1950 darf darüber nicht hinwegtäuschen, ist abschließend noch zu skizzieren. Man muß sich dazu noch einmal in Erinnerung rufen, daß Eggebrechts heute allgemein als Feature eingestufte Arbeiten bei ihrer Sendung und bei den ersten Wiederholungen als Hörspiele ausgewiesen waren und aufgefaßt wurden. Was Machern und Hörern 1947 als Hörspiel galt, fächerte also über die ganze Skala "von der reinen Gebrauchsware der eingekleideten Information bis zum zweckfreien 'poetischen' Spiel", von der funkeigenen Spielform des Feature bis zu einem Hörspiel im engeren Sinne. Dieser Spielraum der Formenvielfalt entspricht der "einzigartigen Freiheit der Meinungsäußerung" der damaligen Zeit. Er mußte eingeschränkt werden und er schwand mit dem Hereinbrechen des Proporz-Systems, einem damit verbundenen ängstlichen Ressortdenken. Die Trennung von Hörspiel- und Featureredaktion scheint war eine Folge davon. Sie bedeutete zugleich eine Entschärfung des Features, die Hand in Hand ging mit einer immer stärker restaurativen politischen Entwicklung. Jetzt erst begann man auch in der Skala "von der reinen Gebrauchsware der eingekleideten Information zum zweckfreien 'poetischen' Spiel" jene "eigene Entwicklung und Werteskala für das Hörspiel zu erkennen", die Heißenbüttel 1969 in "Hörspielpraxis und Hörspielhypothese" als falsche Hörspielideologie entlarvt.

WDR 7.6.1976 (VGTHL 29)

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