Reinhard Döhl | Nachwort Die alte Dichtkunst ist mir untergesunken; ich gehöre nicht zu ihr, denn ich war ihr Schüler, aber ich gehöre auch nicht zur neuen, sondern ich stehe und bleibe allein.
Jean Paul, März 1819
Mit "Zeitsprünge" legt Claus Henneberg den vierten und mutmaßlich letzten Band von Pauls Geschichten vor, mit deren Veröffentlichung er 1995 ("Jugend-Geschichten") begann. Berücksichtigt man das Quasi-Autobiographische der Geschichten Pauls, klammern die "Zeitsprünge" praktisch das gesamte literarische Werk und Wirken ihres 1928 in Hof geborenen Autors. Denn sie bündeln weit Auseinanderliegendes, die bereits in "Kinder und Narren" (1996, S. 67 ff.) genannten authentischen Erinnerungen des Großvaters ("Albert Augusts Bekenntnisse"), die an die Geschehnisse in der "Rabenpost" (1998) anschließenden Nachkriegsjahre ("Nach dem Kriege") und eine Fußreise des inzwischen 71jährigen von Hof nach Potsdam ("Spaziergang nach Sanssouci").

Ihr Autor hat allerdings Sorge getragen, daß sich Pauls Geschichten nicht einfach lückenlos in diesen Rahmen fügen, in Folge lesen lassen. Dreimal beginnt er praktisch von vorn - "Ein kleines Kind liegt auf einer Wiese hinter dem Haus" ("Jugend-Geschichten"), "Paul war noch klein und lief an der Hand seiner Mutter" ("Kinder und Narren"), "Eines Tages, vor langer langer Zeit, als Paul noch Fips oder General Mannerheim hieß" ("Rabenpost") - um dann die Stationen von Kindheit und Jugend wie Bilder aneinander zu reihen, die sich von Band zu Band weniger chronologisch addieren als wechselseitig ergänzen. Daß und in welcher Form sie dennoch in ihrer ungeordneten Ordnung mit den "Zeitsprünge[n]" ein Ganzes bilden, sollen zwei zunächst kommentarlos gegebene Zitate belegen:

"Und damit wandte er sich ab und begab sich auf eine lange, abenteuerliche Reise, von der er - zu einem Dichter geworden - erst als alter Mann in die Stadt seiner Jugend zurückkehren würde..." ("Jugend-Geschichten", S. 100).

"Das Buch sank ihm in den Schoß, die Augen fielen ihm zu und er erreichte den Ausgangspunkt seiner Wanderung - wie weiland Odysseus nach seinen Irrfahrten - im Schlaf" ("Spaziergang nach Sanssouci", S. 155).

Zwischen diesem Aufbruch zu einer "langen, abenteuerlichen Reise" und der Heimkehr liegen mehr als 30 Jahre, die in der äußeren Biographie ihres Autors als eher abenteuerarm anzusprechen sind: Abitur am humanistischen Gymnasium in Hof, Jurastudium in München, Parisaufenthalt 1954, zeitweilige Rückkehr nach Hof, noch einmal München und Anfang der 60er Jahre endgültiges Niederlassen in Hof, wo Claus Henneberg 1966-1970 die "Tage für neue Literatur" veranstaltete, 1970 den "Verlag für neue Literatur" gründete, 1972-1993 selbständiger Buchhändler war, seither als freier Schriftsteller mit einer freilich weitreichenden Korrespondenz lebt und an einem literarischen Lebenswerk arbeitet, das zwar nicht sehr umfangreich aber äußerst komplex ist. Reale Reisen, die Claus Henneberg in diesen langen Jahren unternimmt, gleichen, von wenigen Ausnahmen (Ägypten) abgesehen, eher den Reisen Jean Pauls zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Wenn Claus Henneberg rückblickend, denn die "Jugend-Geschichten" erscheinen, obschon bereits 1954 in Paris begonnen, was wiederum eine Klammer bildet, ja erst 1995, der "Spaziergang nach Sanssouci" fand realiter 1999 statt, -

Wenn Claus Henneberg sein Alter Ego Paul in einem bezeichnenderweise "Jahrmarkt der Träume" überschriebenen Kapitel eine Passage nach Rio de Janeiro buchen läßt ("Jugend-Geschichten", S. 95), gleicht diese Brasilianische Reise mehr einer Reise durch die eigene Gegenwelt, dem unbekannten inneren Afrika in Wilhelm Raabes "Abu Telfan", dessen weiterer Titel bezeichnenderweise "[...] oder die Heimkehr vom Mondgebirge" lautet, ein Roman, der an zentraler Stelle auf Jean Pauls "Über das Immergrün unserer Gefühle" rekurriert, einen Aufsatz, in dem Jean Pauls einzige große Liebe zu Sophie Paulus nachklingt. Was also hat es mit diesen Brasilianischen Jahren Pauls wirklich auf sich, deren literarische Produktion nicht notwendig den wirklichen Reiseerlebnissen und -eindrücken entsprechen muß, die auf eine merkwürdige Weise eher verschwiegen werden.

Geht man von den Veröffentlichungen aus, kommt dem "Hauptbuch" (1983) bei dieser Frage eine Schlüsselrolle zu. In ihm spielen die "Lieder des Osiris" (S. 111 ff.) und der Schluß der "Ägyptischen Notizen" (S. 175 ff.) mit dem Mythos von der Geburt des Lebens aus dem Tod. Im ursprünglichen Mythos ist Osiris einer der im Mittelmeerraum häufigeren Gottheiten, die, als Hirt von wilden Tieren zerrissen, durch die Klage einer Frau aber ins Leben zurückgerufen werden, was in Verbindung zu sterbender und neu erwachsender Vegetation gebracht wurde. In einer späteren Ausformung (von der Claus Henneberg ausgeht), wird Osiris, der Gott des fruchtbaren Landes, von Seth, dem Gott der Wüste erschlagen und zerstückelt, durch die Liebe der Isis aber wieder zusammen gesetzt und auferweckt. Mit dem gemeinsamen Sohn, dem Sonnengott Horus, beginnt ein neuer Lebenszyklus.

Die "Ägyptischen Notizen" sind in Fortsetzung im September 1978 (Nr.n 1-73) und Juli 1980 (Nr.n 74-101) in der "Kulturwarte. Monatsschrift für Kunst und Kultur" veröffentlicht worden. Die letzten vier ebenso wie die "Lieder des Osiris" erst im "Hauptbuch" dazu gekommen. In ihnen benutzt Claus Henneberg Osiris gleichsam als eine Maske: "Zusammengefügt sind die Teile / vierzehn sind es / und eins, / keines fehlt mehr, wiedergefunden ist alles, was sonst zerstreut war / aufsproßt aus meinem Körper das Glied, / die Binse im Strom, / [du] nimmst die Masken mir ab, / viele sinds an der Zahl / und öffnest den Mund mir" ("Hauptbuch", S. 120). Ja, er nimmt sich in diesem Maskenspiel als Osiris und Horus in eins: "Und als ich aus deinem Schoß kam, lag ich nackt auf der Erde und streckte die Gliedmaßen von mir und jeder hätte mich verletzen können, der Lust dazu gehabt hätte; aber du schütztest mich" ("Hauptbuch", S. 191). Die letzte Notiz macht dann allerdings deutlich, wie hier doppelte Buchführung betrieben wird: "Mein Ägypten, versunken im Schnee. Nur Güterzüge verkehren noch. Der Nil ist zu einem vogtländischen Flüßchen geworden, das sich rauschend über ein Wehr stürzt. Die Pyramiden zugeschneit bis zur Spitze. Wenn wir aus dem Fenster blicken, werden Palmenhaine von Lawinen verschüttet. Im Weißen ein Obelisk" ("Hauptbuch", S. 191).

Auf das literarische Werk, aber auch auf die Vita Claus Hennebergs bezogen, stehen die "Lieder des Osiris", zusammen mit den "Ägyptischen Notizen", für eine, wenn man so will, Wiedergeburt, der dann nach einigen Jahren konsequenterweise die Kinder- und Jugend-Geschichten folgen. Und die sind - im Paradox gesprochen - nicht nur ein Rückblick in die Kindheit sondern zugleich ein Blick nach vorne oder - im Sinne meiner Ausgangsüberlegung - der Wendepunkt, mit dem jetzt die lange Heimkehr beginnt.

So, wie Claus Henneberg zur Markierung dieses Wendepunkts aus der Maske des Osiris spricht, schlüpft er für die Heimkehr in die Rolle des irrfahrenden Odysseus, wenn er sein Alter Ego im "Spaziergang nach Sanssouci", wie zitiert, über seiner Homer-Lektüre einschlafen läßt - ausgerechnet an der Stelle, wo Athene zu ihm sagt: "Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung / Und erdichtete Worte, die du als Knabe schon liebtest. / Aber laß uns hievon nicht reden; wir kennen / Beide die Kunst ("Spaziergang nach Sanssouci", S.155).

In der ungeordneten Ordnung von Pauls Geschichten findet diese Ankunft in Ithaka bereits in der "Rabenpost" ihre Fortsetzung, wenn sich, nach Rückkehr des Luftwaffenhelfers aus dem Kriege, auch der an den "Argos" der Odyssee erinnernde "alte Jack, [...] der Wächter seiner Kindheit" herbei schleppt ("Rabenpost", S.102), oder wenn Paul dem aus dem Krieg heimgekehrten Vater auf die Frage nach der Treue seiner Frau antwortet: "So treu wie Penelope" ("Nach dem Kriege", S. 80), da ihm vor dieser Antwort eingefallen war "daß sie bei Dr. Herms die Odyssee gelesen hatten" (ebd.).

Aber nicht nur Wiedergeburt und Heimkehr laufen in doppelter Buchführung durch das quasi-autobiographische Werk Claus Hennebergs, die Geschichten Pauls sind bereits vom Namen her vor allem dem Künstler Paul Krüger und dem mit Hof verbundenen Jean Paul verpflichtet.

Claus Henneberg hat dem Freund, der eigentlich Werner mit Vornamen hieß, sich aber, überzeugt davon, daß ein Künstler auf den Vornamen Paul zu hören habe, Paul nannte, mit zwei Kapiteln aus dem "Leben Pauls" ein Denkmal gesetzt ("Kulturwarte" 1988, S. 278-293 u. S. 322-330), das jeder Leser im Vorfeld von Pauls Geschichten zur Kenntnis nehmen sollte. Und er hat als Umschlagbild für die vier Bände seiner Geschichten jeweils eine Arbeit Paul Krügers gewählt, darunter dreimal einen Fensterblick auf den Schloßplatz, wo das Jean-Paul-Haus steht. Wenn auch mit Blick auf einen anderen Platz, findet sich eine solche Fensterszene in "Der kleine Gefangene" ("Jugend-Geschichten", S. 39 ff.). Daß der Büchernarr Paul Krüger, bevor er sich entschied, Maler zu werden, "nach Art von Jean Pauls Schulmeisterlein Wuz" anfing, "selber Bücher herzustellen, indem er sie abschrieb oder ausschnitt, was ihm so Spaß machte" (Ralf Sziegoleit, "Hofer Anzeiger", 18.10.1969), hat in diesem Zusammenhang nicht nur anekdotischen Wert, sondern illustriert eine künstlerische Existenz in Armut und Bedürfnislosigkeit, die Claus Henneberg faszinierte. Wenn man so will, ist Paul Krüger also der eine Namengeber für Claus Hennebergs Alter Ego, dessen zweiter Taufpate dann Jean Paul wäre, bei dem Claus Henneberg, wie vor ihm schon Wilhelm Raabe, nicht nur die doppelte Buchführung studieren konnte. Die Besucher der ersten Literaturtage, 1966, könnten sich noch erinnern, daß Jean Paul mit vor allem auf Hof bezogenen Exponaten in einer Vitrine im Rathaus (vgl. "Hofer Anzeiger" vom 28.7.1966) gleichsam zum Schutzheiligen der "Tage für neue Literatur" erklärt wurde. Immer wieder begegnet Jean Paul im Werk Claus Hennebergs. Dreimal alleine kommt die im 22. Kapitel des "Siebenkäs" beschriebene Saaleschleife unterhalb des fröhlichen Steins vor, und zwar in den "Jugend-Geschichten" ("Auf dem Eisteich") sowie in "Albert Augusts Bekenntnisse[n]" und der "Kleine[n] Stadtbeschreibung" ("Nach dem Kriege"). Der in der "Kleine[n] Stadtbeschreibung" über der Saaleschleife aufragende "Fröhliche Stein" findet sich gleichfalls nicht nur im 22. Kapitel des "Siebenkäs" (" [...] Hof, der fröhliche Stein und Doppel-Abschied sammt Töpen"), sondern hat in seiner Schilderung durch Jean Paul 1969 Claus Henneberg als Vorlage für seinen ersten Siebtext gedient ("Hauptbuch", S, 70-74): "sondern gingen / und sahen / was jeder /sah / die berge und die erde und die / wasser auf der erde und die erde".

Neben diesen leicht vermehrbaren offenen Bezügen - z.B. verweist der "Luftschiffer" im Dornburg-Kapitel des "Spaziergang[s] nach Sanssouci" (S. 104) selbstverständlich auf "Des Luftschiffers Giannozzos Seebuch" (im "Komischen Anhang zum Titan") und gibt dem "Spaziergang" damit eine zusätzliche Perspektive -

Neben diesen leicht vermehrbaren offenen wird der Leser sein Augenmerk aber auf die verdeckten Bezüge zu den "Blumen-, Frucht- und Dornenstücke[n]; oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs" richten müssen, vor allem auf das von Jean Paul bereits im Titel deutlich gemachte Thema der Neu- oder Wiedergeburt. Denn man kann diesen in Hof geschriebenen Roman durchaus als eine entmythologisierte, oberfränkische Osiris-Variante lesen, in der Osiris dann Firmian und Isis Nathalie hießen. Bezeichnenderweise spielt das letzte Kapitel dieses Buches nach dem Scheintod Firmians, der "geschworen" hatte, Nathalie "nicht eher zu sehen als nach [s]einem Tode", auf einem Friedhof, wo sich beide für ein neues Leben, einen Neuanfang finden.

Ordnet man die Geschichten Pauls alles in allem, ist die Zeit von Claus Hennebergs endgültigem Rückzug nach Hof bis zum Aufbruch des alten Paul nach Potsdam, wie schon gesagt, auffällig ausgespart. Die mehrfachen Anspielungen der erzählten Geschichten auf Jean Pauls "Siebenkäs" lassen dem Leser aber die Möglichkeit, seine eigene Lesart (Firmian = Paul) zu versuchen, herauszulesen, daß die in den quasi-autobiographischen Geschichten Pauls ausgesparten Jahre bereits von Jean Paul als Jahre des Kleinstädtisch-Spießigen, der Enge und Bedrückung erzählt wurden. Und er fände dann die "lange, abenteuerliche Reise", zu der Paul am Schluß der "Jugend-Geschichten" aufbricht, in der Geschichte des Armenadvokaten Siebenkäs in ihrem Gegenteil gespiegelt: bis zu seiner Befreiung durch den Scheintod und die 'Wiederbelebung' durch Nathalie auf dem Friedhof.

Der zeitlich danach anzusetzende Aufbruch, der "Spaziergang nach Sanssouci", dessen einzelne Stationen und Reiselektüre ich hier nicht diskutieren will, dient vordergründig der Frage nach dem Satzzeichen zwischen den Wörtern "Sans" und "Souci", das Paul bei der Inschrift "über der Mitteltür der Rotunde" einst aufgefallen war (S. 82). Wenn sich am Ziel herausstellt, daß zwischen den beiden Wörtern ein Komma steht und kein Punkt, wie Paul angenommen hatte, bedeutet das für Firmian-Paul, denn der Armenadvokat ist ja auch Schriftsteller, daß sie ihre Schriftstellerei - syntaktisch gesprochen - noch nicht auf den Punkt gebracht haben, sondern daß es, wie nach einem Komma im Satz, weiter im Text geht. "So bin ich denn statt auf 1 Rätsel mit nur einer Lösung auf eines mit 7 Lösungen gestoßen, dachte er. Für meine Wanderung gibt es ja auch nicht nur einen einzigen Grund. Denn wer wird schon glauben, daß ich wegen eines Satzzeichens einen Spaziergang nach Sanssouci gemacht habe" (S.154). Das Ende bleibt also offen. Ähnlich wie der Jean Paul- und Hölderlin-Leser Ernst Bloch erst für die Zukunft das annimmt, "was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat".

Aus: Claus Henneberg. Zeitsprünge. Mit einem Nachwort von Reinhard Döhl. Hof: Hoermann Verlag 2001