Reinhard Döhl | Fred von Hoerschelmanns "Das Schiff Esperanza"

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Folgt man den Wertungen der bisherigen Hörspielgeschichtsschreibung, haben vor allem drei Hörspiele die Voraussetzungen für die Blütezeit des deutschsprachigen Hörspiels in den fünfziger Jahren geschaffen:

Die Zahl der Inszenierungen und Wiederholungen bis auf den heutigen Tag, Auflagenhöhe der Textdrucke und Verbreitung der Texte in Anthologien bestätigen ihre Popularität und machen erklärbar, daß sich gerade an ihnen wesentlich ein Vorverständnis von Hörspiel entwickelte, das sich bis in die Schulbücher hineinschrieb:

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Die Spiele Borcherts, Eichs und Hoerschelmanns hatten exemplarische Stoffe und Formen entwickelt, ihnen folgten zahlreiche Autoren der mittleren und jungen Nachkriegsgeneration nach. Gemeinsam war ihnen der zeitkritische Moralismus der Hörspielfabeln, verschieden die Formalstruktur von allegorischen oder symbolischen Spielhandlungen im Stile Borcherts über parabelhaft-phantastische Traumspiele nach Eich oder realistische Zeitstücke, wie sie Fred von Hoerschelmann schrieb. (Werner Klose, 40).

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Was Werner Klose hier "realistisches Zeitstück" nennt, bezeichnet Heinz Schwitzke als "realistisches Problemhörspiel". Anders als Klose gilt Schwitzke aber Borcherts "Draußen vor der Tür" mit Recht als hörspielgeschichtlich folgenlos, so daß sich seine Namenliste der für die fünfziger Jahre konstitutiven Hörspielautoren entsprechend anders liest:

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Es sind vor allem drei Namen, ohne die das deutsche Hörspiel des letzten Jahrzehnts nicht zu denken wäre: Günter Eich, Wolfgang Hildesheimer, Fred von Hoerschelmann. Die drei haben wenig miteinander gemeinsam - außer, daß keiner von ihnen ein genau geeignetes Modell abgibt, an dem man schulmäßig literarische "Moderne" demonstrieren könnte. Jeder der drei widerlegt eines der "modernen" Theoreme: Hoerschelmann, daß es im Grunde nur auf das Wie, nicht auf das Was ankäme, indem er, wie die alten Novellisten, "Stoffe" erfindet, die schon an sich einzigartig, unentbehrlich, geradezu klassisch sind; Eich, indem er mit seinen Stücken die Meinung Lügen straft, daß es niemals um "Aussagen" gehe, denn jedes Eich-Stück "will etwas von dir", will ungeheuer Anspruchsvolles von dir; und Hildesheimer, indem er durch alles, was er schreibt, beweist, daß sich das Komplizierte und Absurde auch einfach darstellen läßt, sozusagen in einem Haydenschen Dur. (Schwitzke, 332).

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Wie auch bei Eich fallen die ersten Hörspielversuche und -beiträge Fred von Hoerschelmanns noch in die letzten Jahre des Weimarer, die ersten Jahre des nationalsozialistischen Rundfunks. Folgt man den Angaben der Programmzeitschriften und persönlichen Hinweisen Hoerschelmanns - die Hörspieltexte selbst müssen wenigstens für den Augenblick mit Ausnahme einer problematischen Schallaufzeichnung als verloren gelten - hat Hoerschelmann Anfang der dreißiger Jahre mindestens sieben Hörspiele, Hörspieladaptionen und Hörfolgen geschrieben, und zwar die Hörspiele "Flucht vor der Freiheit", "Urwald" und "Die wirkliche Unschuld", die Hörfolgen "Verwitterte Tafeln" und "Kaiserkron und Päonien rot" und die Adaptionen "Abenteuer in Maulbronn" nach Jean Pauls "Dr. Katzenbergers Badereise" und "Der fremde Matrose" nach Theodor Storms "Hans und Heinz Kirch".

Mit Ausnahme von "Die wirkliche Unschuld", die nach Angaben Hoerschelmanns 1932 von Ernst Hardt angekauft, im Westdeutschen Rundfunk aber nicht mehr inszeniert wurde, sind die Hörspiele zunächst in Königsberg, die Hörfolgen und Adaptionen in Berlin uraufgeführt worden, wobei die Uraufführung der "Flucht vor der Freiheit" mit dem 14.8.1931 wesentlich später datiert, als die Hörspielliteratur in der Regel angibt.

Wenn Hoerschelmann heute in der Literatur neben Max Gundermann als "der Meisterbearbeiter fremder Stoff" apostrophier wird, dessen Stücke "eigentlich Lehrbeispiele dramaturgischer Schulen sein müßten", "wenn es so etwas bei uns gäbe", dann lassen die genannten Titel der frühen dreißiger Jahre diese Fähigkeit für das dramaturgische Handwerk bereits von Anfang an erkennen. Daß dies zunächst nicht immer erkannt wurde, scheint rückblickend ein wenig verwunderlich und könnte einer der Gründe sein, die Arnolt Bronnen 1933 zu einer die Intentionen Hoerschelmanns völlig verkehrenden Umschrift der "Flucht vor der Freiheit" in eine "Flucht in die Freiheit" führte, die als Schallplattenaufzeichnung vorhanden, vorerst der wenn auch fragwürdige, immerhin einzige Textbeleg für die frühen Hörspielarbeiten Hoerschelmanns darstellt. Wenn sich Bronnens Umschrift ins 'happy end' sicherlich auch aus dem zeitgeschichtlichen Kontext erklären läßt, in dem positive Schlüsse bevorzugt wurden, dürfte ihm andererseits die Kritik nicht unbekannt geblieben sein, die Hoerschelmanns "Flucht vor der Freiheit" als konstruiert, zeitfern, mit schiefer Problemstellung und herbeigezogener Lösung" empfand.

Mit Recht hat Horst-Günther Funke eine solche Kritik als "Fehlinterpretation" erkannt,

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weil sie den Scharfblick des Dichters für hörspieldramaturgische Gefüge überging. Hoerschelmann erarbeitet psychologische Konstellationen, stellt Menschen in abenteuerliche Zusammenhänge und brint sie zu seltsamer Kontamination mit Schicksalhaftem. Schon früh nutzte er die Erkenntnis, das innere Handlung und Konflikte, nicht aber äußerer, bunter Spielablauf mit zahlreichen Personen, dem magischen Schauplatz der Hörbühne entsprechen, für die Entwicklung eines stiltypischen Formgefüges. (...) Der lyrische Wortgestus fehlt bei Hoerschelmann. Seine Spiele sind auf dramatische Höhepunkte hin konzipiert und die Spannung in die Präzision straffer Dialogpartien gelegt (...)

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So gesehen besetzt Hoerschelmann im Hörspielspektrum des Weimarer Rundfunks vielleicht am markantesten den Typ des dramatischen Hörspiels, rücken seine Hörspiele am weitesten in die Nähe des Dramas und seine dialogischen Voraussetzungen. Weitab von einem Hörspiel in der Nähe zur Lyrik, wie es Günter Eich u.a. repräsentierte, erreichen die Hörspiele Hoerschelmanns von Anfang an ihre dramatische "Unmittelbarkeit".

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In knapper dialogischer Exposition der Handlungsträger, und indem der Augenblick des Sprechens sich sekundenschnell zur Szene dichter auffüllt, ist das allein die Leistung des Dialogs. Nur durch ihn entsteht Handlung, Schauplatz und Entwicklung".

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Was Funke als "Scharfblick des Dichters für hörspieldramaturgisches Gefüge" lobt, nennt Schwitzke "bewundernswerten Scharfblick für dramaturgische Notwendigkeiten" und führt dazu anläßlich des Drucks einer von Hoerschelmann rekonstruierten Fassung seines Hörspielerstlings aus:

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Hoerschelmann, der einen bewundernswerten Scharfblick für dramaturgische Notwendigkeiten besitzt, hatte in der Exposition sehr geschickt (die beiden Kontrahenten, R.D.) Rauk und Wegel erst einmal allein vorgestellt. Es ging ihm offensichtlich darum, sogleich die wichtigste und komplizierteste Voraussetzung aller späteren Handlungsvorgänge spürbar werden zu lassen: das eigentümliche Haß-Liebe-Verhältnis der zwei Männer. Sie werden einerseits durch ihre Kontaktschwierigkeiten, andererseits dadurch bestimmt, daß jeder von beiden etwas auf dem Kerbholz hat. Der primitive Rauk, ursprünglich der Herr des Leuchtturms, auf dem das Stück spielt, hat ein auf dem Leuchtturmfelsen gestrandetes Schiff ausgeplündert. (...) Wegel dagegen ist als Bergwerksingenieur, als der er früher einmal fungierte, (...) in eine tragische Situation gekommen, der er nicht gewachsen war. (Schwitzke, 91)

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Aber nicht nur im expositionellen Einarbeiten dieser Vorgeschichte erweist Hoerschelmann seinen "Scharfblick für dramaturgische Notwendigkeiten", auch in der Technik des gleichzeitigen Vorausweisens zeigt er sein dramaturgisches Geschick, wenn Rauk in seinen Quälereien Wegel vom Selbstmord seines Vorgängers erzählt und damit dem Hörer bereits die Stelle schildert, an der Wegel am Schluß des Hörspiels Selbstmord begehen wird:

Einspielung

(Nebelhorn)
Rauk: Eigentlich müßten jetzt die Lampen angezündet werden. Heute müßte das früher geschehen, es wird schon dunkel. Da muß man immer hinterher sein. Wenn ich nicht aufpasse, geschieht nichts. Oder wenn es geschieht, was anderes: er hängt sich irgendwo auf. Haken gibt es ja genug. Bei Nebel, da ist er immer so. Da ist er wie ein Hund, der in die Nacht rausheult. Da wird er sich zu schade. Als ob einer, der so gemacht ist wie der, anderswo leben könnte, als hier. -
Jetzt müßten die Lampen doch schon brennen. Aber er denkt natürlich nicht daran. Er heult in die Nacht und hat Angst dabei. Wenn ich nicht aufpasse, dann weiß man nicht, was er tut. -
Wegel! Wegel! Wo ist er denn wieder? Wegel! Wo sind... Ach, da steht er am Geländer.
Sie sind so durchsichtig geworden. Sie sind ja schon ein Gespenst, Menschenskind. - Aber jetzt frage ich Sie: Werden Sie nun das Lichter anmachen, oder glauben Sie, daß das nicht nötig ist?
Wegel: Es ist noch nicht neun.
Rauk: So, Sie heulen wohl wieder, was? Ihr Vorgänger, vor vier Jahren, der war anders wie Sie. Ja, der heulte auch manchmal, aber vor lauter Besoffenheit. Und gerade da, wo Sie jetzt stehen, an derselben Stelle, da ist er dann über das Geländer gestiegen. Es wurde ihm zu traurig hier. Da wollte er fliegen lernen Er flog aber nur vierzig Meter nach unten. Ihr Vorgänger war das ein freundlicher Mensch sonst. Aber Sie - Und jetzt sollten Sie trotzdem die Lampen anzünden.
Wegel: Um neun. Es sind noch ein paar Minuten.
Rauk: Na, das ist ja Ihre Sache. - Aber Sie machten da vorhin solche Andeutungen oder Anspielungen. Wissen Sie, das sollten Sie lieber lassen. Stellen Sie sich mal vor, wenn ein Mann wie Sie etwas anzeigen wollte, womöglich bei der Polizei - ah, da ist es wieder. Immer wenn man dies Wort ausspricht, dann läuft Ihnen ein Schauer über den Rücken. Das macht mir jedesmal Spaß.
(Gelächter).

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Diese Sequenz der erhaltenen Schallaufzeichnung, in der der unvergeßliche Heinrich George Rauk seine Stimme gab, mag einen ausreichenden Eindruck von Hoerschelmanns Hörspielerstling vermitteln. Sie vermag - wobei wir bei ihr keine Texteingriffem Bronnens annehmen - zugleich belegen, was mit "Scharfblick des Dichters für hörspieldramaturgische Notwendigkeiten" bezeichnet wurde.

Als von Anfang an dramatisches Dialog- und Handlungsspiel, als "auf dramaturgische Höhepunkte hin konzipiert", repräsentiert Hoerschelmanns Hörspielerstling im Spektrum des Hörspielangebots der dreißiger Jahre fast exemplarisch den Typ des dramurgischen Hörspiels, an den nach 1950 das sogenannte "realistische Zeitstück", bzw. "realistische Problemspiel" nicht nur Hoerschelmanns (typologisch gesehen) fast nahtlos wieder anschließen konnte.

Anders als Eich, der hier oberflächlich-typologisch gesehen, Repräsentant eines Lyrik-nahen Hörspiels wäre, hat Hoerschelmann allerdings keine bemerkenswerte Werkentwicklung durchgemacht, bringt er mit seiner Tendenz zur "konzentriertesten Form", mit seinen eingesetzten "Ausdrucksmitteln"' bereits "sein erstes Spiel" (...) auf eine literarische Höhe (...)

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die sich später nur noch durch eine immanente Hintergündigkeit vom Realismus dieser Jahre ablösen und formal steigern konnte.

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Über die "immanente Hintergründigkeit" der Hoerschelmannschen Hörspiele, vor allem von "Die verschlossene Tür" (1952) und "Das Schiff Esperanza" (1953) ist so ausführlich in Hörspielgeschichten, Hörspieldidaktiken, in Nach- und Vorworten geschrieben worden, daß wir uns hier eine Erörterung im einzelnen ersparen und uns auf ein paar beispielhafte Stichproben beschränken dürfen. Danach schildern eigentlich alle Hoerschelmann-Hörspiele den

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Kampf des Menschen gegen die Übermacht einer unheimlichen, undurchschaubaren Wirklichkeit,

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ist die motivische Verwandschaft der meisten Hörspiele leicht zu erkennen. Sind es in "Die verschlossene "Tür"

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ein paar redliche Männer innerhalb einer feindlichen Welt, die sie umzingelt und erdrückt, ist es in "Das Schiff Esperanza"

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eine kleine, in sich geschlossene Gemeinschaft des Bösen, ein Schiff voller gescheiterter Existenzen, eine Gesellschaft von Hehlern und Mördern, zu denen ein Parzival (sic, R.D.) kommt. Und siehe da: er bewirkt um ein Haar, daß alles sich ändert. Wenn er nicht der Retter hätte sein wollen, so wäre er der Retter gewesen; er war nicht genug Parzival, um das Böse zu überwinden, aber auch nicht bewußt genug, um es zu durchschauen.

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Finden sich derartige Interpretationshilfen noch in größerer Menge, tun sich jene Interpreten recht schwer, denen es um Nachweis von "Zeithintergrund" und "zeitkritischer Absicht des Autors" geht. Da wird vielleicht am deutlichsten in Werner Kloses "Didaktik des Hörspiels", in der Vermittlung auf der Schule.

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Besonders älteren Lehrern, die NS-Diktatur und zweiten Weltkrieg ebenso wie das trübe Milieu der Nachkriegsjahre als Augenzeugen miterlebt und miterlitten haben, fällt es manchmal schwer, in der politischen Bildung oder bei der Erarbeitung von Texten, die wie dieses Hörspiel politisch und ideologiekritisch interpretiert werden müssen, dran zu denken, daß Nationalsozialismus und Faschismus für heutige Schüler ferne Geschichte sind. Deshalb ist (Kapitän, R.D.) Groves Weg vom jungen, labilen Berufsoffizier, der, unehrenhaft entlassen, im Krieg wiederverwendet wird und danach doch im äußersten Verbrechen endet, nur unter Heranziehung von politischen Zusatzinformationen ganz verständlich, die den Rassismus des NS-Staates verdeutlichen.

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Als Beleg für die "zeitkritische Anklage" des Hörspiels soll dabei eine Dialogsequenz "aus der entscheidenden Auseinandersetzung zwischen Grove und seinem Sohn" dienen.

Einspielung

Axel: Das ist wohl überall gleich.
Grove: Man gewöhnt sich an alles. Man gewöhnt sich an viel dollere Sachen. An die Flieger, an die U-Boote, an die Einschläge. Was glaubst du - als das auf einmal vorbei war, und der Himmel lag über einem, harmlos wie eine Zimmerdecke, da habe ich richtig was vermißt. Ohne Feind ist das nur eine halbe Welt. Als hätte man eine Nacht lang hoch gespielt, immerzu Tausender verloren und gewonnen - und auf einmal ist Schluß - jetzt geht es nicht mehr um Geld, sondern um was weiß ich, um Haselnüsse. Und wenn man jahrelang fürs Vaterland gekämpft hat...
Axel: Welches Vaterland meinst du? Unser eigenes gab es ja bald nicht mehr.
Grove: Irgendeins - darauf kommt es im Grunde nicht an, man sagt das so - in Wirklichkeit kommt es nur darauf an, daß man weiß, wo man steht, und daß man weiß, wer die andere Seite ist. Und auf die lauert man, bis man sie jagen kann. Begreifst du, was das bedeutet?
Axel: Ich weiß nicht. Das sind ja auch Menschen.
Grove: Das ist der Feind. Menschen sagst du? Gott sei Dank sind es Menschen, sonst könnte man nicht an sie heran.

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Wie ernst, müssen wir aus dem historischen Abstand fragen, war es dem Hörspiel nach 1950 wirklich mit der politischen und ideologiekritischen Auseinandersetzung, mit historischer Aufarbeitung und Aufklärung der NS- und Nachkriegszeit. Das Ergebnis der Kloseschen "Didaktik" erscheint uns für diesen Punkt doch recht dürftig, wenn er summiert:

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Die Schüler haben erfahren, wie aus Schwäche Schuld wächst, wie diese Schuld das Gewissen nicht ruhen läßt, so daß ein Mensch langsam innerlich zerstört wird und auch dann Böses tut, wenn er sich, zu spät allerdings, noch einmal zum Guten aufraffen will. In dieser rauhen, zynischen Welt der Nachkriegszeit sucht sich das Gute tapfer zu behaupten, und wenn es hier auch untergeht - der Schluß des Spiels bleibt offen -, so ist es doch da und bleibt Vorbild.

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Um Mißverständnisse auszuschließen, es geht hier nicht darum, den herausgelesenen idealistischen Appell - das Gute auch im Untergang tapfer zu behaupten, hier nähert sich die Klosesche Interpretation der Parzival-Assoziation Schwitzkes - es geht hier nicht darum, die Interpretation den Interpreten anzukreiden. Das Dilemma liegt woanders, nämlich am Hörspiel selbst und zwar dort, wo die zeitgeschichtlichen Anspielungen nur Folie bleiben, für allgemein menschlichen Appell, für menschlich-privates Schicksal, für Einzelschicksal. Denn auf dieses bezogen, verschärft die Anspielung des (zeit)geschichtlich realen Hintergrundes - wie Burghard Dedner für die meisten Hörspiele der fünfziger Jahre nachgewiesen hat - nur

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die Widersprüche zwischen abstraktem Appell und konkret-historisch Aufzuklärendem.

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So erscheinen - ein wenig überspitzt - Kloses Bemühungen ebenso wie zahlreiche andere Interpretationsansätze dem kritischen Leser wie interpretatorische Pflichtübungen, wie Pflichttauchen nach tieferem Sinn und dichterischer Wahrheit.

Überzeugender wirken dagegen die Interpretationen von "Das Schiff Esperanza" dort, wo sie von seiner Spannung, seinem dramtischen Bau sprechen, wo sie die story mit anderer Spannungslektüre vergleichen:

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Die düstere Geschichte steht nichts hinter den großartigsten Geschichten Joseph Conrads zurück.

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Auch ein Hinweis auf Travens "Das Totenschiff", das in einer Hörspieladaption durch Ernst Schnabel in der Nachkriegszeit mehrfach inszeniert wurde, ließe sich denken. Gerade diese Spannungsträchtigkeit, die Nähe zur dramatischen Novelle, zum Drama scheinen es denn auch zu sein, die eine Behandlung des Hoerschelmann-Hörspiels nicht nur für die Schule so attraktiv machen.

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Da wir mir dem Hörspiel bekannt machen, zugleich aber auf allgemeine Gesetze dramatischer Texte hinweisen wollen, kommt uns "Das Schiff Esperanza" entgegen. Die Blende wird 'konservativ' benutzt. Das Spiel läuft ohne Rück- und Vorausblenden ab, steht ganz normal in der Zeit, und nur im gegenwärtigen Gespräch wird erinnernd das Vergangene genannt. Mit Ausnahme der beiden ersten Hafenszenen bleibt auch die Einheit des Ortes gewahrt. Die Blende wechselt nur innerhalb des Schiffes vom Versteck der Illegalen zur Kommandobrücke, ins Mannschaftslogis oder in die Kajüte des Kapitäns. Auch die Handlung bleibt auf wenige Tage zusammengedrängt. Damit ist dieses Hörspiel in der Wahrung der drei Einheiten eng nach dramatischen Vorbildern gebaut, so daß sich auch der Lehrer, der sich in die neue Form erst einarbeiten muß, noch auf vertrautem Boden bewegt. Diese Einarbeitung des Lehrers wird wesentlich dadurch erleichtert, daß seit langem eine Aufnahme dieses Hörspiels vom Institut für Film und Bild ausgeliehen werden kann, ja daß sogar ein Lehrfilm desselben Instituts, "Aufnahme eines Hörspiels - Das Schiff Esperanza" zur Verfügung steht.

Hilfen finden Lehrer und am Hörspiel Interessierte aber auch in fast allen Darstellungen, die sich mit den Gattungseigenschaften des Hörspiels befassen, da in ihnen immer wieder als Beleg und Illustration "Das Schiff Esperanza" herhalten muß. (Funke, 109, 113)

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Von einem "Dialog mit äußerster Sachlichkeit und Knappheit" spricht Eugen Kurt Fischer, dem Hoerschelmanns Hörspiele, speziell "Das Schiff Esperanza" in seiner "Form- und Funktion"(sbestimmung) des Hörspiels gleich zwölfmal als Beleg dienen, unter anderem auch dafür, wie in einem Hörspiel das Geräusch gliedernder, verdeutlichender oder gar intergrierender Bestandteil der Handlung sein kann. Und als einen Beleg zitiert Fischer die Exposition.

Einspielung

(Zimmer. Eine Schreibmaschine tickt. Von draußen gelegentlich das Tuten der Hafenschlepper)
Mann: Name?
Axel: Axel Grove.
Mann: Alter?
Axel: Dreiundzwanzig.
Mann: Sie suchen Heuer als -?
Axel: Leichtmatrose.

Zitat
Hier ist das Geräuschvorspiel samt der Zimmerakustik angebracht, weil der Hörer sofort weiß, wo was geschieht, zumal der Dialog mit äußerster Sachlichkeit und Knappheit einsetzt. Überleitungen werden bei diesem Autor, wo er sich der Funktion des Reporters nähert, der ein zeitnahes, milieugebundenes Ereignis schildert, nicht einfach durch die Blende und entsprechende Andeutungen im Dialog bewerkstelligt, sondern auf diese Weise:

Einspielung

(Stimmen der Kartenspieler. Gedämpft. "Drei Asse",... "Full Hand...")
Edna: Mein Stiefvater. Ich würde Ihnen übrigens raten, nicht mitzuspielen.
Megerlin: Ich spiele Karten. Aber ich möchte wissen...
Edna: Was möchten Sie wissen?
Megerlin: Wie es oben ist... Wie das Meer aussieht...
Edna: Versuchen Sie zu schlafen!
Megerlin: Aber warum hat man uns hier eingeschlossen... Warum? Warum?...
(Ausblenden. Akustikwechsel. Wind. Rauschen. Schrei einer Möve. Schiffsglocken zwei Schläge, langsam einblenden)
Grove: Hast du mich überhaupt gleich erkannt?

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Dieser verschiedenartige Einsatz des Geräusches führt uns noch einmal zu Hoerschelmanns Hörspielerstling zurück, für den Funke bereits festgehalten konnte, daß Hoerschelmann

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die Legitimität des dramatisierenden Geräusches in der Genauigkeit eines akustischen Zeichens erkannt hat und so einzusetzen verstand, daß durch seinen Wegfall der Kausalzusammenhang des dramatischen Vorgangs gestört würde. Das heißt aber nichts anderes, als die Notwendigkeit des Geräusches im Organismus des dialogischen Gefüges zu erkennen und seine Funktion im Elementarbereich hörspieldramaturgischen Prinzips anzuerkennen.

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So ist Hoerschelmanns "Das Schiff Esperanza" nicht zuletzt auch Beleg dafür, daß das Hörspiel der fünfziger Jahre zum Teil nahtlos an das Hörspiel der späten Weimarer Jahre wieder anknüpfen konnte. Doch erklärt das nur zum Teil die Popularität Hoerschelmanns, eines Hörspiels, das nicht nur zu den am meisten gesendeten, sondern auch zu den am meisten übersetzten Hörspielen des deutschsprachigen Raumes gehört und somit in Deutschland wie im Ausland die Vorstellungen vom Hörspiel wesentlich mitprägen half. Hierin aber liegt vor allem das Dilemma.

Im breiten Hörspielangebot des Weimarer Rundfunkis ein möglicher Hörspieltyp, und dies noch einmal im schmaleren Hörspielspektrum der fünfziger Jahre, muß ein derartiges Hörspiel problematisch werden, wenn in Hörspielpraxis und -vermittlung - etwa an der Schule - Hörspielpoetik so weitgehend an einem Hörspieltyp festgeschrieben wird. "Das Schiff Esperanza" wieder in die richtigen historischen Relationen einzuordnen, es wieder als das zu erkennen, was es in Wirklichkeit ist, nämlich ein allerdings gängiger Hörspieltypus unter zahlreichen anderen, wäre einer der wesentlichen Aufgaben seiner künftigen Vermittlung.

WDR III, 27.3.1978