Reinhard Döhl | Hörfilm

A. Bezeichnung für Hörspiele, die eine strukturelle und/oder technische Beziehung zum älteren Medium Film betont, an dem sich das Hörspiel in seiner Geschichte neben dem Theater ("Hörbühne") wiederholt orientiert hat. Bedeutungsgleich dafür zunächst "Akustischer Film", in neuerer Zeit auch "Radiofilm", "Film-Hörspiel" u.a., und, mit Einschränkungen, "Hörbild" u.a. Eine historisch und typologisch fundierte Darstellung des H. ist immer noch Desiderat der Hörspielforschung und der rhetorischen Medienanalyse.

Anders als bei der Orientierung des Hörspiels am Theater auf der inzwischen historischen "Hörbühne", läßt sich für die Geschichte der Gattung ein durchgängiges Interesse am Film, an seinen technischen Möglichkeiten, seinen kompositorischen Strukturen, seinen Erzählweisen und seinen Experimenten verfolgen. Typologisch hat dieses Interesse vielfältige Spielmöglichkeiten entwickelt, die sich unter dem Oberbegriff "H." sinnvoll bündeln lassen. Eine systematische Bestandsaufnahme und Zuordnung dieser Spielmöglichkeiten ist bis heute nicht erfolgt. Sie würde wichtige Einsichten in intermediale Wechselwirkungen erbringen und vor allem die Hörspielgeschichtsschreibung neu konturieren.

B.I. Anfänge. Bereits 1925 spekuliert der Komponist K. Weill über eine "akustische Zeitlupe" und fordert eine "absolute Radiokunst", die einer "wirklich eigene(n) Filmkunst (ohne) Handlung, Thema oder auch nur inneren Zusammenhang" entspräche. (1) Dieser am abstrakten Film orientierten Vorstellung korrespondieren in der Programmpraxis Experimente mit dem "Akustischen Film" vor allem in Berlin, "deren Technik", anders als bei den an der Schaubühne orientierten Spielen der "Hörbühne", "dem Film nachgebildet" wurde. Sie definierten sich nach A. Braun als "Funkspiel, das in Folge traummäßig bunt und schnell vorübergleitender und springender Bilder, in Verkürzungen, in Überschneidungen - im Tempo - im Wechsel von Großaufnahmen und Gesamtbild mit Aufblendungen, Abblendungen, Überblendungen bewußt die Technik des Films auf den Funk übertrug". Inhaltlich zeichne sich der
"Akustische Film" durch "eine einfache, typisch primitive Kientopphandlung" (sic) aus, "mit Verfolgungen, mit Irrungen, Wirrungen und all den unbegrenzten Möglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten, die wir aus den ersten Filmen her kennen". (2) Braun schränkt ein, daß es bei diesen Experimenten "nur um die Form" gegangen sei, die zu füllen den Schriftstellern überlassen bleibe. Regiebücher der live gesendeten "Akustischen Filme" scheinen sich nicht erhalten zu haben.

In der kurze Zeit später einsetzenden Diskussion eventueller Aufzeichnungsmöglichkeiten erwog man u. a., "den Film als Mittler" einzuschalten, um "alle Eventualitäten, alle Störungen, alle Improvisationen" solcher Live-Übertragungen auszuschließen, da "nur der Tonfilm (...)" in der Lage" sei, dem Wunsche nach Präzision zu entsprechen. Bei einem auf Tonfilm aufgenommenen Hörspiel", so H. Flesch 1928 in einem Vortrag, känne "nach Abhören durch Schneiden, Überblenden, Ansetzen usw. ein Gebilde geschaffen werden, das der Regisseur als vollständig gelungen betrachtet und nunmehr abends dem Hörer darbietet. (...) Wie der Kinofilm, so wird auch der Hörfilm [frühester Begriffsnachweis, R. D.] ateliermäßig gedreht werden müssen". Da der Rundfunk "ein mechanisches Instrument" sei, müßten, davon war Flesch überzeugt, "seine arteigenen künstlerischen Wirkungen von der Mechanik herkom-men". (3)

Mit der schrittweisen Einrichtung von Aufnahmestudios (18.8.1929 Eröffnung des Studios der Berliner Funkstunde) wurden unter Benutzung von Filmtonstreifen (Tri-Ergon-Verfahren) 1930 erste Versuche unternommen, H. aufzuzeichnen. Als einziger dieser Versuche hat sich W. Ruttmanns "Weekend" als Tondokument erhalten. Ruttman brachte in diese Hörcollage, eine durchaus an Weills Forderungen erinnernde Komposition aus Geräuschen, Musikfetzen und Sprachpartikeln ohne Handlung, Montageprinzipien des russischen Dokumentarfilms (u.a. Pudowkin) ein, die er bereits in eigenen "Querschnittfilmen" ("Berlin, Symphonie einer Großstadt", 1927, "Melodie der Welt", 1929) erprobt hatte.

II. Zeit des Nationalsozialismus. Ruttmanns H. "Weekend" blieb, auch aus finanziellen Gründen, neben Friedrich W. Bischoffs als Tondokument nicht erhaltenem Hörspielexperiment "Hallo! Hier Welle Erdball!!" (live 1929; Aufnahme auf Tonfilmstreifen 1930) zunächst eine Ausnahme. Stattdessen griffen die Rundfunkanstalten auf eine neben dem "Akustischen Film" relativ früh erprobte Sendeform, das "Hörbild", zurück, indem sie Musik, Gedichte oder Kurzszenen derart mit charakterisierenden Geräuschen verbanden, daß ein akustisches Bild entstand. Vor allem im Rundfunk des Nationalsozialismus beliebt, entwickelt das "Hörbild" nach R. Kolb (1932) keine "Handlung" aus "Charakteren", sondern bezieht seinen "inneren Zusammenhang" aus dem "Schicksal des Menschen oder einer Gruppe". (4) Exemplarisch genannt sei aus den "Hörfolgen" W. Bleys "Skagerrak. l2Tonbilder [!, R.D.] aus der Skagerrak-Schlacht am 31.5.1916" (1936). "Hörbilder" dieser Art haben, ähnlich wie der im Berliner Sender entwickelte "Aufriß" (E. Koeppen), fließende Grenzen zu den Sendeformen der "Hörfolge" und des "Hörberichts", nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zur Reportage, sind mit Einschränkungen dem Dokumentarfilm vergleichbar und werden nach 1945 durch das "Feature" abgelöst. Dennoch gab es auch im Rundfunk des Nationalsozialismus vereinzelt erwähnenswerte H., vor allem in der Literarischen Abteilung des Berliner Senders, der damals vom späteren Filmregisseur H. Braun geleitet wurde. Er verpflichtete wiederholt Drehbuch- als Hörspielautoren, unter ihnen R. Reissmann, dessen "rossedurchstampfter Dschingis Khan-Hörfilm" (H. Schwitzke) (5) "Der gelbe Reiter. Ein Tatsachenspiel [!, R.D.] aus der Welt des Dschingis-Chan" (1936) sich als Tondokument erhalten hat.

III. 1945 bis Gegenwart. Auch nach 1945 finden sich - bedingt durch die Dominanz des literarischen Hörspiels der Innerlichkeit - zunächst kaum H. im Programm der Rundfunksender, mit der gewichtigen Ausnahme allerdings von zwei Adaptionen des Filmregisseurs Max Ophüls, der "Novelle" nach Goethe (1954) und "Berta Garlan" (1956) nach A. Schnitzler. Mit ihnen habe, wirbt Cottas Hörbühne historisch nicht korrekt, Ophüls den Formenkatalog des Hörspiels um die bedeutende Variante des H. bereichert. Richtig ist, daß (wiederum) Erfahrungen des Films, konkret der Verfilmung literarischer Vorlagen auf die Hörspielproduktion übertragen werden, wenn Ophüls die Stimmen (Erzählung und Dialog) miteinander und mit einem weitgehend durchgängigen Soundtrack (Musik und Geräusche) so verbindet, daß seine Hörspiele, dem Film vergleichbar, sowohl erzählen wie akustisch zeigen. Ophüls H., deren Bedeutung heute anerkannt ist, blieben zu ihrer Entstehungszeit nicht ohne Kritik, wurden von Schwitzke z. B. als "Doppelpunktdramatik" abqualifiziert. (6) Erst mit dem Durchbruch des Neuen Hörspiels (1968/69) begegnen H. häufiger in den Programmen, wobei ein sich änderndes Verhältnis von Hörspiel und Musik eine nicht unbedeutende Rolle spielt und zunehmend auch "Komponisten als Hörspielmacher" (so eine Hörspielreihe 1970 ff. des von K. Schöning geleiteten Hörspielstudios des WDR) in Erscheinung treten, z.B. M. Kagel mit dem "Film-Hörspiel" "Soundtrack" (1975). Als "Hör-Film" will F. Mikesch 1984 "faito. Japanische Schritte" realisiert wissen, als "Radiofilm" ist R. Döhls "C'era una volta il west" ...)" (1986) ausgewiesen. Beides ordnet sich ein in eine Hörspieltendenz zum Epischen mit filmischen Mitteln, die in den 80er Jahren auch Hörspiele H. von Cramers und J. Beckers auszeichnet. Eine eigene Tradition bilden, in bewußtem und unbewußtem Rückgriff auf Ruttmanns "Weekend", E. Tochs "Fuge aus der Geometrie" sowie die Spekulationen Weills, eine Reihe von akustischen Städteportraits. Unter dem Einfluß der konkreten und elektronischen Musik setzt diese Tradition bereits 1954 ein mit L. Berios "Ritratto di Città", in längerem Abstand gefolgt von K. Krügers/H.-U. Minkes kunstkopf-stereophonen Inpressionen "Berlin-Hören" (1977) und P. Henrys "La Ville / Die Stadt". Diese mehrfach wiederholte und intensiv diskutierte Produktion war zugleich das Pilotprojekt für eine Reihe im Auftrag des Hörspielstudios (jetzt Studios für Akustische Kunst des Westdeutschen Rundfunks, Leitung: K. Schöning) entstandener akustischer Portraits der großen Metropolen der Welt. In der noch zu schreibenden Geschichte des H. ist es schließlich mehr als eine Pointe, daß Henry 1985 in seinem elektronischen Studio in Paris auch eine Filmmusik zu Ruttmanns "Berlin, Symphonie einer Großstadt" herstellte.

Anmerkungen:

1) K. Weill: Möglichkeiten absoluter Radiokunst, in: Der dt. Rundfunk 2 "(925) H. 26, 1627. - 2) A. Braun: Hörspiel (1929), in: H. Bredow (Hg.): Aus meinem Archiv (1950) 149f. - 3) H. Flesch: Hörspiel, Film, Schallplatte (1928), in: Rundfunkjb. 1931 (o.J.) 35. - 4) R. Kolb: Das Horoskop des Hörspiels (1932) 87. - 5) H. Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie u. Gesch. (1963) 90. - 6) ebd. 38.

Literaturhinweise:
Anon.: Der H. - eine neue Kunstform, in: Der Rundfunk-Hörer 7(1930) H. 38,2. - H. Engel: Der rettende H., in: Rundfunk-Rundschau 5 (1930) Nr.52, 2. - H. M. Cremer: Filmisches Funkhörspiel, in: Der Autor 14 (1939) Nr.12, 6. - G. Eckert: Hörspiel und Schallfilm. (1939) - R. Döhl: Neues vom Alten Hörspiel, in: Rundfunk und Fernsehen 29 (1981) H. 1, 127ff. - ders.: Musik - Radiokunst - Hörspiel, in: Inventionen '86. Sprachen der Künste III. (1986) S. 10ff.- dert.: Das Neue Hörspiel (1988). - ders.: Das Hörspiel zur NS-Zeit (1992).

In: Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen: Niemeyer 1995, S. 1570-1573.