Essays | Autoren | Helmut Heißenbüttel

Reinhard Döhl | Heißenbüttel *)


Einfache grammatische Meditationen f (partizipial)
wartend warten gewartet haben
gewartet werden
rumgekriegt nicht rumgekriegt rumgekriegt worden sein
widerrufene Widerrufe
quergespannte Geräusche
quergespannte Geräusche aus endlichen Zeitpunkten
widerrufene Widerrufe auf Widerrufe richtend auf
aufgerichtet gerichtet auf aufgerichtete Richtung
aufgerichtete Richtungen aus unendlichen Zeitpunkten


Es gibt mich (es gibt ALLES, WOVON ICH REDEN KANN), weil ich mit dem Zirkel des MIT HILFE VON heraustrete und mich über die Fiktion hinwegsetze und rede ALS OB NICHT. Ich rede ALS OB NICHT, weil die Rede, die ich rede, ALS OB redet.

Vita: Helmut Heissenbüttel wurde am 21. Juni 1921 in Rüstringen bei Wilhelmshaven geboren.

Stenogramm: Kein Beruf. Verheiratet. Amputation des linken Armes (1941 Rußland) und Lebensunterhalt durch Kriegsversehrtenrente. Studium (versucht): Architektur. Studium (durchgeführt): Deutsch und Kunstgeschichte. Erinnerungen an verschiedene Städte: Wilhelmshaven (~,1921-1532), Papenburg (ab 1933), Krefeld (als Soldat), Dresden und Leipzig (bis 1945), Hamburg (nach 1945). Schreibend seit dem fünfzehnten Lebensjahr, unregelmäßig. Frühe Einflüsse: Strindberg und George. Einfluß durch Abwehr: Rilke. Als Lehrer zu bezeichnen: Kassner, Ernst Jünger, Rudolf Borchardt, Adorno und Wittgenstein. Spätere Einflüsse: Benn, Pound, Arp, Brecht. Lieblingslektüre: Bilder vn Klee und Picasso, Tristram Shandy, Lichtenberg, Flaubert, Faulkner und Kino.

Seit 1959 leitet Helmut Heissenbüttel am Süddeutschen Rundfunk die Redaktion "Radio-Essay". Er gehört zu den wenigen deutschen Autoren der Gegenwart, dessen Texte im Ausland als echte Experimente angesehen sind. Von ihm erschienen "Kombinationen" (1954), "Topographien" (1956), "Ohne weiteres bekannt" (1958), inzwischen allesamt, z.T. nach der 2. Auflage, vergriffen. Eine Auswahl und Fortführung der "Kombinationen" und "Topographien" bildet das 1960 vom Walter Verlag (Freiburg i. Br., DM 8.80) herausgebrachte "Textbuch 1", dem zwei weitere ("Textbuch 2" und "Textbuch 3") folgen werden. Es enthält folgende Texte: "einfache Sätze". "Das Sagbare sagen". "Lehrgedicht über Geschichte 1954". "Pamphlete". "Topographien". "Achterbahn". "Cinemascope 59/60". "Einfache grammatische Meditationen". "Einsätze".

Ich rede wenn ich rede in einer Sprache die meiner Rede fremd ist. Meine Rede ist der Sprache in der ich rede UNEIGENTLICH. Redend in der Sprache die der Rede fremd geworden ist wird diese Sprache ANDERS. Redend in der SPRACHE die dessen Rede sich MACHT macht die Rede die Sprache des Redenden zur ANDEREN SPRACHE die dessen Rede nicht mehr fremd ist.


einfache Sätze
während ich stehe fällt der Schatten hin
Morgensonne entwirft die erste Zeichnung
Blühn ist ein tödliches Geschäft
ich habe mich einverstanden erklärt
ich lebe


Colonisation: Die literarische Fortsetzung der ereignisreichen Jahre seit 1900 nach Einstellung des Erscheinens der "Little Review" (1929) nannte W.H. Auden colonization. Helmut Heissenbüttels Texte sind in einem wesentlichen Maße Akt einer so verstandenen colonization, und zwar in bewußtem Aufnehmen und Fortführen der Ergebnisse. Im Gegensatz zu einem Großteil gegenwärtiger Literaten bezeichnet er dabei ausdrücklich seine Einflüsse. Einige Namen begegneten bereits im "Stenogramm". Andere Namen tauchen in anderen Texten auf. Die wichtigsten Namen sind: Wittgenstein, Arp, Gertrude Stein. Diese Einflüsse betreffen die Sprache und führen zu einer, wie Beda Allemann sagt, abstrakten Dichtung, wie wir sagen wollen: zu Texten innerhalb eines neuen ästhetischen Selbstverständnisses der Dichtkunst. Das Wörtlichnehmen der Sprache betrifft nur die Form, die logische Struktur. Noch kann eine stärkere Gegenständlichkeit des Wortes folgen, aus der die sprachlichen Figuren entwickelt werden. Sonst gilt der Satz 7 des "Tractatus", nämlich: zu schweigen. In der Nachfolge Gertrude Steins interessiert nicht Desintegretion und Neubildung von Wörtern (wie bei Joyce), sondern das Wort in seiner Einmaligkeit und Nacktheit: Mich interessieren lange und kurze Wörter. Stereotype Redewendungen und Phrasen können hineingenommen werden und führen zu ihrer Entlarvung. Das Normale ist komplizierter als das Abnorme. Etwas anderes, das über Gertrude Stein bei Helmut Heissenbüttel fortgebildet wird, ist die Verknüpfung von Wiederholung und Existenz bei einer immer statistischer werdenden Seinsthematik, bei einkalkulierter Häufigkeit und Zufall. Das erklärt (in Folge der Wittgensteinschen Überlegungen über den Elementarsatz und seine Verknüpfungsmöglichkeiten) die späteren stark syntaktischen Texte der "einfachen grammatischen Meditationen" wie auch den logischen Text der "Tautologismen".

Wenn ich von mir als von mir rede rede ich von mir mit Hilfe einer grammatikalischen Fiktion [...] Wovon ich rede rede ich MIT HILFE VON. Wenn ich lCH bin weil ich von mir reden kann kann ich nur von mir reden MIT HILFE VON. Wenn ich von mir wie von dir von ihm uns (usw) nur MIT HILFE VON reden kann, bin ich wie du wie er wie wir (usw) ein GEDANKE von mir. Wenn ICH ein GEDANKE von mir ist gibt es mich nicht.

Texte: Wir reden über Literatur (oder Dichtung), wir sollten von Texten reden. Text liegt tiefer im Horizont des Machens. Literatur ist ein Phänomen. Der ästhetische Zustand des Textmaterials hat immer nur Wahrscheinlichkeitscharakter. Text reflektiert beständig auf Literatur. Auf sie wird zutreffen, was für ihn gilt. Es gibt logische Texte (eine "Logik der Dichtung" aber nicht). - Das erklärt, warum Helmut Heissenbüttel seine Bücher Textbücher nennt. Das "Textbuch 1" enthält dabei Texte, die wie traditionelle Lyrik geschrieben sind, sich aber von ihr unterscheiden. So stellt jede Zeile eine semantische Einheit (ein Superzeichen) dar. Das Material wird im Sinne der Zeichentheorie als Zeichen verstanden. -

Zum Beispiel: Ein beliebiger Text heißt "INTERIEUR". Er entspricht nicht dem, was man gemeinhin als lyrisch zu erfühlen pflegt. Nach der Schnittzahl für mittlere Silbenzahl pro Wort zwischen Prosa und Poesie Z = 182 (Fucks) fällt dieser Text mit Z = 2,29 erheblich in den Bereich der Prosa. Seine Eigentümlichkeiten ergeben sich bei genauer Betrachtung der mittleren Silbenzahl pro Wort pro Zeile: 3,666 - 1,888 - 1,603 - 2 - 3,666 - 2 - 1,764 - also durch ständige Annäherung an die von Fucks ermittelte Grenze und ihr Überschreiten am Ende. Bei Hinzuziehung des Kaeding zeigt sich, daß in einigen semantischen Einheiten die Häufigkeit der Zeichen innerhalb des Repertoires der deutschen Sprache zunimmt bei gleichzeitigem Absinken der Information. Das kann über eine Zeicheneinheit hinausgehen und sie so mit der nächsten verbinden. Hier erklärt sich z.T. die ästhetische Eigenwertigkeit der Heissenbüttelschen Texte und ihre Eigenständigkeit gegenüber einer beliebigen Menge vergleichsweiser 'moderner' Gedichte.

Wer nicht fühlen sondern bescheidwissen will macht sich ein System. Das System ist sein Gerüst. Das Gerüst macht er nicht aus nichts sondern aus Material Koordinaten. Konstanten usw.

Geometrie. Wenn von ihr die Rede ist, kann, sollte man meinen, nicht Literatur gemeint sein. Heissenbüttel sagt: Die Geometrie der senkrecht verstellten Hinterhauswände oder: die geometrischen Blüten der Nacht. Die Veröffentlichungen Lobatschewskis (1826/29) Und Bolyais {1833) zur hyperbolischen Geometrie haben der ganzen Ausblick auf das deduktive Denken und nicht bloß einzelne Zweige der Wissenschaft und Mathematik verändert: Der amerikanische Mathematiker E.T. Bell formulierte, wie weit dabei überhaupt Beziehungen zwischen Mathematik und Literatur bestehen: wie der Schriftsteller Charaktere, Dialoge, Situationen erfindet, derer Schöpfer und Meister er ist, so erfindet der Mathematiker die Postulate, auf die er seine mathematischen Systeme gründet. Beide können durch Umgebung in Auswahl und Behandlung des Stoffes beeinflußt werden; aber keiner ist durch irgendeine außermenschliche ewige Notwendigkeit gezwungen, bestimmte Systeme etc. zu erfinden.

Wenn ICH ein GEDANKE von mir ist gibt es mich nicht. Es gibt mich nicht weil ich wenn ich von mir rede (was ich kann) nur MIT HILFE VON reden kann. Wenn ich von dem wovon ich reden kann nur MIT HILFE VON reden kann gibt es das alles wovon ich rede nicht.

Landschaft: Helmut Heissenbüttels Texte geben nicht vor, Abbild der Wirklichkeit zu sein. Damit sie es nicht vorgeben können, mußten sie zuerst ihre eigene Realität erreichen, die der Texte. Helmut Heissenbüttel spricht an anderer Stelle von Reduktion auf die Variation eines Modells. Dieses Modell ist vor allem in den früheren Texten ein Landschaftsmodell, das sich anhand der "Topographien" als eine Landschaft der Wörter erweist, jenseits des Naturgedichtes, eine "terra incognita", wie Hermann Kasack es ansah. Diese Landschaft ist ichkonstruiert und ichbezogen. In ihr tritt die Kommunikation zurück (das fehlende 'du'). Das Ich sammelt Gedanken, die vor sich hinreden, es bedeutet das Fehlen der Gedanken in den abgefallenen Gesichtern. Was sich überhaupt sagen läßt, sagt Ludwig Wittgenstein, kann man klar und deutlich sagen, und über Dinge, über die man nicht sprechen kann, muß man schweigen. Helmut Heissenbüttel redet von Sachverhalten. Er notiert formelhafte Destillate der Erinnerung und des Gedankens, Bruchstücke am Rande des Verstummens. Er macht etwas mit der Sprache, die er zugleich verändert, vermehrt, stört oder reduziert. Das ist ihm in einem hohen Maße gegenüber einer weitverbreiteten Literatur eigentümlich und als Verdienst anzurechnen. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Literatur ist ein Prozeß, in den man hinein muß, den man ablesen kann an Texten wie denen des "Textbuches 1" Helmut Heissenbüttels.


(Zuspruch)
die vorhandene Fläche wird allmählich weiß werden
die ausweglosen dreidimensionalen Ecken werden zusammenklappen
fester wird das Gesicht seine Vergeßlichkeit um die Schultern ziehen
tränenverzerrte Lippen werden aufstehn und weggehn
das wir glücklichsein nannten
die flache Schale des Beunruhigenden wird sich lautlos abheben wie Rauch
der Wind der nicht riecht wird seine Hand ausstrecken


[*) Nominell zusammen mit Dieter Ehlermann. notizen, Jg. 5, Nr 31, Februar 1961, S. 18]