Uwe M. Schneede: Die abgesonderte Welt.
Hermann Finsterlin und die Gläserne Kette

Ein Aufruhr geht im Winter 1918 und im ganzen folgenden Jahr durch die Künste. Zerlegt wird mit Ironie oder Zorn das alte Bild von Kunst und Künstler, verlangt wird mit Pathos und Emphase der Anteil der Kunst an einer in diesem Moment noch offenen Zukunft. Alles soll anders werden, die Kunst, die Akademien, die Museen, ja die Künstler selber. Und die Gesellschaft. Erregt proben Künstler aller Herkünfte nun, da sie sich von Krieg und Wilhelminismus befreit fühlen, den Eingriff in die Wirklichkeit.

Genau zu diesem Zeitpunkt schreibt einer, der wahrhaftig nicht von gestern ist, Walter Gropius (und er meint es nicht resignativ, sondern auffordernd): "Es bleibt uns jetzt nur übrig, die reale Welt zu ignorieren und sich seine eigene innere Welt abgesondert zu erbauen (1). Eine Haltung wie aus einer ganz anderen Zeit.

Um in zerrütteter Situation künstlerische Kompromisse zu verhindern, redet er einer Radikalität das Wort, die die Abwendung von der "realen Welt" in Kauf nimmt, wenn nicht gar voraussetzt. Er ebnet damit der Gläserne Kette und ihren Utopien den Weg.

Kurz zuvor, im Januar 1919, hatte der zunächst von Bruno Taut, dann von Gropius geleitete Arbeitsrat für Kunst junge Architekten und ausdrücklich auch Dilettanten aufgerufen, Entwürfe von "Idealprojekten" für eine Ausstellung in Berlin einzureichen. Zu den Einsendern gehörten die Architekten Hans und Wassilij Luckhardt, der Regierungsbaumeister Paul Goesch, der (Geiger Jefim Golyscheff, der weniger in Architektur als in Naturwissenschaften ausgebildete Hermann Finsterlin, die Maler Wenzel Hablik und Johannes Molzahn.

Finsterlin später: "Gerade zu der Zeit war in mir eine ganz sonderbare unerklärliche Abneigung aufgekommen gegen das Wohnen in Würfeln, gegen grade Flächen, Ecken und Winkel und die Hausratkisten alias Möbel ... Nun begann ich Traumhäuser zu entwerfen, in denen ich in der Phantasie lebte." (2)

Finsterlin war durch eine Zeitungsnotiz auf das Ausstellungsvorhaben aufmerksam geworden und so mit dem Arbeitsrat in Kontakt gekommen. "Ein Antworttelegramm von Gropius erschien mir völlig unwirklich. 'Ich bin sehr beeindruckt, senden Sie viel!' schrieb Gropius. (3) Die von Gropius selbst eingerichtete "Ausstellung für unbekannte Architekten" wurde im April 1919 bei I.B. Neumann

am Kurfürstendamm gezeigt.

Im Flugblatt zur Ausstellung erläuterte Gropius, die Städte seien "Wüsten der Häßlichkeit"; diese "grauen, hohlen, geistlosen Attrappen" könnten der Nachwelt allenfalls bezeugen, daß "die große einzige Kunst" vergessen worden sei, das Bauen. Er forderte: "Maler und Bildhauer... geht in die Bauten, segnet sie mit Farbenmärchen, meißelt Gedanken in die nackten Wände und - bunt in der Phantasie, unbekümmert um technische Schwierigkeiten." (4) Angesichts einer aus dem Lot geratenen Wirklichkeit galt diesen Architekten einzig die Utopie als angemessener Ausdruck der Sehnsüchte. Man unterschied nun zwischen Architektur und Zweckbau, zwischen, so Gropius, "Traum und Wirklichkeit, zwischen Sternensehnsucht und Alltagsarbeit". Der "Alltagsarbeit" und dem Zweckbau wurde eine deutliche Absage erteilt; das ganze Interesse galt der "Sternensehnsucht" (5), der "abgesonderten" Welt.

Nach Ende der Ausstellung wandte sich der Architekt Bruno Taut im November 1919 schriftlich an einige ihrer Teilnehmer, um einen ständigen Briefwechsel zwischen ihnen in Gang zu setzen. Der Zusammenschluß, der dem Selbstverständnis einer Elite entsprach, nannte sich Gläserne Kette. Beteiligt waren daran unter anderen Hans Scharoun in Insterburg, Carl Krayl in Tuttlingen, Hermann Finsterlin in Schönau bei Berchtesgaden, Wenzel Hablik in Itzehoe, Paul Goesch, Bruno und Paul Taut, die Brüder Luckhardt - sie alle in Berlin; mehr am Rande verfolgte Gropius das Geschehen. Die als geheim ausgegebene Korrespondenz wurde unter Pseudonymen geführt; Finsterlin nannte sich "Prometh".

In Bruno Tauts erstem Brief hieß es: "Mich widert die Praxis fast an... Seien wir mit Bewußtsein imaginäre Architekten!" (6) In einer Zeit, da wegen der großen wirtschaftlichen Not kaum gebaut werden konnte, wollte die Gläserne Kette als Bruderschaft von Eingeweihten mit der Sammlung von Ideen, die radikal mit allem Alten brachen, den Boden für eine zukünftige Architektur bereiten.

Die Materialien für diese Architektur sollten nicht nur Stein und Zement sein. "Kinder!", schrieb beispielsweise Hablik, "was für herrliches Zeug hat unsere Erde noch an Stoff für unsere Bauspiele! Denkt nur!: Fels haben wir! Metalle und Diamant! und der viele schöne Sand! und das Wasser! das Feuer! und die Luft." (7)

Das Ziel aber sei, so Gropius im schon zitierten Flugblatt von 1919, "die schöpferische Konzeption der Zukunftskathedrale, die wieder alles in einer Gestalt sein wird, Architektur und Plastik und Malerei." Die Vereinigung der Künstler unter einem Dach, unter dem Dach der Kathedrale oder des Doms, meinte symbolisch die Vision von einer Gesellschaft, in der sich die Widersprüche aufhöben.

Der zerrütteten Gesellschaft sollte die Architektur mit Kultbauten symbolisch Glauben und Gemeinschaft stiften. Indes hatten die Mitglieder der Gläsernen Kette keine Vorstellungen von der inhaltlichen Nutzung, ja überhaupt kein Interesse an der funktionalen Ausfüllung dieser Bauten (auch von Finsterlin wurden ihnen lediglich fiktive Zwecke zugeschrieben). Aus einer pathetischen Mischung von religiösem, geistesaristokratischem und sozialistischem Gedankengut entstanden die Architekturkonzepte als hochfahrende Integrationsmodelle ohne Bodenhaftung.

Während die Dadaisten in der neuen Rolle von Konstrukteuren den Künstlerkult verächtlich machten, dachten die Utopisten an den "hohen, priesterhaft herrlichen Beruf" des Architekten (Bruno Taut), den Gropius als "Herrn der Kunst" und als "Führer" in der Gesellschaft sah. Die reine, die kristalline oder die organische Architektur sollte eine bessere, im Geistigen wurzelnde Gesellschaft entstehen lassen.

Das ausgeprägte Sendungsbewußtsein - Bruno Taut bezeichnete die zwölf Mitglieder der Gläsernen Kette als Apostel, sich selbst als Christus - und die Elitehaltung wurden schon um 1920 ebenso heftig kritisiert wie die Tatsache, daß man sich aus den konkreten Baufragen völlig heraushielt und sich den gesellschaftlichen

Problemen bewußt entzog.

1920 löste sich die Gläserne Kette auf. Die Wirklichkeit war schließlich stärker als die Utopie. Hans Luckhardt: "Ich gelange immer mehr zu der Überzeugung, daß nicht allein der religiöse Bau den Höhepunkt der Architektur darstellt, sondern daß jeder Bau diese Höhe erreicht, wenn er einen Zeitgeist verkörpert, der eine sehr starke Intensität und menschliche Tiefe besitzt." (8)

Auf der einen Seite hingen die imaginären Architekten einer konservativen Utopie mit Geheimbündelei, Führergedanke und Erlösungsglaube an. Auf der andere Seite aber wurden von ihnen kompromißlose Versuche unternommen, die Aufgaben, die Formen, die Konstruktionsverfahren und die Materialien der Architektur Grundlegend neu zu erkunden und zu formulieren und darüber hinaus städtebauliche Symbole zu erdenken. Mit einer ungewöhnlichen Beschleunigung wurden Ideen und Konzepte entwickelt, deren Sprengkraft sich erst im Lauf der Zeit herausstellen sollte. Gropius, Scharoun, die Tauts gingen aus dieser Bewegung hervor; Hans Poelzig und Erich Mende1sohn wurden von ihr geprägt. So legten die

"Ausstellung für unbekannte Architekten" und die Gläserne Kette auf bildnerischem Wege die experimentellen Grundlagen für die bedeutende Architektur der zwanziger Jahre in Deutschland.

Auch Hermann Finsterlin war kaum auf Realisierbarkeit und praktisches Bauen aus: "Die Erde könnte mir das gar nicht gehen, was ich in den Stunden, da das Bewußtsein der Norm ins Nichts versinkt, an Wundern und Genüssen erlebe. - Ich könnte ganz ruhig verzichten auf die alpdrückenden Wachträume des irdischen Tages." (9)

Finsterlin wollte die Architektur als Bild, wollte, so hat er in den siebziger Jahren einmal gesprächsweise geäußert, "aus Form und Farbe Organismen schaffen." (10) Maßgeblich aber war der natürliche Ursprung: "Ich erkenne nur einen Gestaltungstrieb, einen Bildungswillen und sein Können, der wirkt im Schwan des Lotosteichs wie im Schwantierchen des Infusionstropfens, im Wechseltierchen wie Im Nebel der Andromeda" (11): Architektur als Krönung der Natur aus deren eigenem Geist.

In seinen Entwürfen gibt es keine Logik von Tragen und Lasten; statische Probleme und funktionale Fragen werden nicht erörtert. Gemeinsam war den Teilnehmern an der Gläsernen Kette, daß sie Architektur nicht als rein rationale Angelegenheit, sondern - so Wolfgang Pehnt - "als Emanation einer geheimnisvollen Urkraft" verstanden. (12) Finsterlin entwickelte seine Architektur auf dem Papier weniger aus dem Grundriß als aus dem Baukörper. Daher der skulpturale Charakter. Der nachdrückliche Einsatz der Farbe aber begründet die bildmäßigen Züge.

Finsterlin ist mit seinen Entwürfen, die wohl im wesentlichen in den Jahren von 1915 his 1920/21 entstanden sind, als ein besonders eigensinniger und bedeutender "imaginarer Architekt" in die Kunst- und die Architekturgeschichte eingegangen. Doch darf nicht übersehen werden, daß er das viel weiter reichende Vorhaben seiner Künstler- und Architektenkollegen teilte. Wolfgang Pehnt: "Gemeinsam war ihnen allen der Wunsch nach dem großen Projekt, das die Künste zusammenfaßte, jener Wunschtraum, der ungeachtet aller wechselnden Stilvorstellungen vom Jugendstil über den Expressionismus his zum Neuen Bauen der zwanziger Jahre überdauerte." (13) Gropius sprach in seiner Rede vor dem Arbeitsrat für Kunst am 22. März 1919 emphatisch von einem "Zusammenschluß der Künste unter den Flügeln einer großen Baukunst" (14) (und legte damit einen Baustein für sein Programm zur Begründung des Bauhauses vom April 1919).

Auch Finsterlin dachte und arbeitete ausdrücklich in diesen gesamtkünstlerischen Zusammenhängen. Der Stuttgarter Literaturwissenschaftler Reinhard Döhl erläutert sie grundlegend in seinem Essay für diese Publikation. Ihr liegt ein aktueller Anlaß zugrunde. Eine umfangreiche Gruppe von Arbeiten Finsterlins ist als langfristige Leihgabe der Sammlung Siegfried Cremer, Düsseldorf, in die Hamburger Kunsthalle gekommen.

Von Herzen sei gedankt: Siegfried Cremer für diese ungewöhnliche Bereicherung unserer Sammlung, Reinhard Döhl für seine erweiterte Sicht auf Finsterlin.

Anmerkungen werden nachgestellt