Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung / 3

Großbürgerlich-herrschaftliches Ambiente

Sowohl die "Biographie [...]" wie andere autobiographische Notizen Finsterlins betonen die "guten wirtschaftlichen Verhältnisse" des Elternhauses, zeichnen ein großbürgerlich-herrschaftliches Ambiente aus "Renaissance-Palais, Park, Reitpferde[n], Tennisplatz etc.". Doch verschleiert dies nur unvollkommen, daß sich Finsterlin in ihm eher unwohl befunden hat. Die Betonung künstlerischer Frühreife, erblicher Belastung deutet auf Spannungen, die sich bei genauerem Hinsehen, wenn auch nicht detaillieren, so doch bestätigen lassen. So muß Finsterlin nach dem Zeugnis seines Sohnes "ungemein gelitten haben unter dem Banausentum seiner nächsten Umgebung, der Familie seiner Eltern und Anverwandten, die "betuchte Bürger des gehobenen Standes" waren und "in Luxus und ohne bestimmte Tätigkeit" dahinlebten (9).

Ein an den Portraitmaler, Illustrator und Kunstschriftsteller Anton Schöner (10) gerichtetes Maschine geschriebenes Brieffragment spricht, in diesem Zusammenhang gelesen, eine deutliche Sprache, verrät, in welchem Maße Finsterlins Leiden an seiner Familie allgemein ein Leiden an Zivilisation und Kultur(losigkeit) der Wilhelminischen, speziell der Münchner Gesellschaft war. Der Briefentwurf ist nicht datiert, dürfte aber, wie ein »St. Margherita April 09" (11) datiertes Gedicht nahelegt, aus dem Frühjahr/Frühsommer 1909 stammen. Die Italienreise, von der er spricht, führte über "Bozen, Milano, Genova" und schloß eine Besichtigung der Pinocoteca di Brera In Mailand ein, anläßlich derer Finsterlin zu einem "Jünger des Tersites" [sic, R.D.] wurde, "den auch die ideenlosen Schwarten unserer Altmeister in der Brera mit ihrer Linien und Farbeneqilibristig (sic, R.D.) nicht aus den Angeln zu heben vermochten, oder mit den Angeln, wie Sie wollen.

Das Meer erst goß Oel auf meine empörten Gemütswellen. Unser Endziel war St. Margherita, und wir haben ausgeharrt 4 Wochen. Und sind selig geworden. Ich wenigstens.

Wenn ich schon tanzen mußte ums goldene Kalb, dem der Grünspan aus dem zahnlosen Maul starrte, tanzen als freiwilliges Schaf einer freiwilligen Heerde [sic, R.D.], tanzen mit schwarzlackierten Ordensbändern, und seidenbrandenden Marionetten, die nicht stehen können, wenn sie der gesellschaftliche Spagat nicht auf 2 Beinen hält. [...] ich habe im blöden Reigen getanzt als Sehender, und habe gelernt. fremde Hände in Händen, oder umgekehrt, doch nehmen zu können von den Opfergaben des Herrlichen, Großen, von dem sich die anderen nur den haut goût in die stumpfen Nasenlöcher schmeicheln lassen. Was ich verloren hatte, im Staub der Siedelung, alles, alles das kam mir wieder zugeschwommen, auf den Wellen der See, auferstanden und verklärt, und aus ihren Tiefen stiegen Gestalten, aus allen Reichen, deren Grabstätten ich vergeblich gesucht hatte durch Zeiten. [...]

Unsere Rückreise zog sich durch die Schweiz. Ich trug den Gotthardt auf den Schultern, und wäre mir als Atlas (12) tausendmal imposanter vorgekommen [...]. Jeder Kilometer, der der Heimat näher lag, riß mir ein Stück wiedergeborener Poesie aus der Seele, und hier, ein ausgebrannter Vesuv, hege ich nur den einen Wunsch, meine Schlacke in die Straßen Münchens speien zu können, daß sie mir von meiner Spitze aus eine Brücke schlage, zu einer Fata morgana, die nicht in der Wüste liegt, sondern in sich selbst. Wenn das Weltmeer zu ihnen [sic, R.D.] kommt, in seiner ganzen Schönheit, und Unendlichkeit, dann stoßen sie [sic, R.D.] ins goldne Horn, und ich will daraus trinken, jenen Trunk, den eine Handvoll [ein handschriftlich zugefügtes Wort ist unleserlich, R.D.] Wörter getauft trinken, bis er mir aus der Hand fällt und zerschellt auf den schwarz und weißen Feldern der Marmelterasse, auf der die Nüchternheit ihr grausames Schach spielt [...].

Vieles muß für den Moment offenbleiben, so auch die Frage, mit wem Finsterlin diese Italienreise, die auch in seinem literarischen Werk noch einmal angespielt werden wird, unternommen hat. Handelt es sich, was zu vermuten ist, um seine Familie, ist die in diesem Brief hervorbrechende Kritik mehr als deutlich. Dann wären die "Ordenständer", »der gesellschaftliche Spagat", ein Pflichtbesuch der Pinacoteca di Brera und das architektonische Detail der "schwarz und weißen Felder der Marmelterasse, auf der die Nüchternheit ihr grausames Schach spielt" weitere Bestandteile des großbürgerlich-herrschaftlichen Ambientes des Finsterlinschen Eltemhauses, auf das der Heranwachsende mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln reagiert, als Thersites in der Brera, in einer mehrfach belegten Gleichgültigkeit der Kleidung gegenüber, die oft "gänzlich aus der Mode und völlig abgeschabt" war (13) Gedanklich ergriff er alles, was ihm die Möglichkeit einer Flucht aus der "Nüchternheit" bot, wobei auch - was ein noch mitzuteilendes Attest belegen könnte - an eine psychosomatische Flucht gedacht werden darf.

Erleichtert wurden Finsterlin diese Fluchten durch die in der "Biographie [...]" hervorgehobene "freie Berufswahl", die allerdings eher durch die ökonomischen Bedingungen des Elternhauses als durch Einsicht frei war. Auch eine von Finsterlin selbstgemalte Schießscheibe [Katalog, Abb. 1 (14)], auf die er nach eigenem Bekunden zusammen mit seinem Vater geschossen hat, ist mehr ein Beleg für Zeitvertreib als für gemeinsame Interessen (15). Schließlich findet Finsterlins Studium der "Chemie wie mein Vater" - entgegen eigenen Angaben - erst nach mehreren künstlerischen Anläufen, und nur sehr kurzfristig statt.

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Anmerkungen 9-15
9) Hellmut Finsterlin: "Um Phantasie zu werben"... war er da. In: Erde und Kosmos. Zeitschrift für anthroposophische Natur- und Menschenkunde. Jg 13, H. 3, Juli bis September 1987. Sonderheft Hermann Finsterlin zum 100. Geburtstag, S. 25.
10) Zu Schöner vgl. Thieme-Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler [...], Bd 30. Leipzig: Seemann 1936, S. 225.
11) In: Mit offenen Augen (s. Anm. 34), o.P. - Wegen der Ortsangabe ist diese Datierung am wahrscheinlichsten, obwohl ein ebd. passim eingetragenes Gedicht im Titel "Rückgriff 1908. Italien" datiert ist. Dieses zweite Gedicht ist von Finsterlin auch vertont worden (s. Anm. 33).
12) Wahrscheinlich um diese Zeit hat Finsterlin als Postkartenentwurf auch einen Bergsteiger auf dem Gipfel als Atlas darzustellen versucht.
13) Hellmut Finsterlin: "Um Phantasie zu werben"... war er da (s. Anm. 9), S. 23.
14) Vom Gegenstand her als früher Beleg für Finsterlins Interesse an der 'Architektur' der Schnecke, formal wegen ihrer Nachbarschaft zum Jugendstil interessant, ist diese Zielscheibe aber auch deshalb erwähnenswert, weil sie rückseitig ein zum Bild gehörendes Gedicht wiedergibt, das zwar ebenfalls l9lO datiert ist, aber, nach freundl. Auskunft von Siegfried Cremer, erst Ende der 60er Jahre in seiner Anwesenheit eingeschrieben wurde.
15) Abbildungsnachweise beziehen sich auf den Ausstellungskatalog 1988 der Graphischen Sammlung in der Staatsgalerie Stuttgart.