Reinhard Döhl: Hermann Finsterlin. Eine Annäherung / 1

Hermann Finsterlin: Biographie in großen Zügen (1)

Ich war in guten wirtschaftlichen Verhältnissen in München am 18.8.1887 geboren und als einziger Sohn aufgewachsen. Renaissance-Palais, Park, Reitpferde, Tennisplatz etc., und freie Berufswahl. Auf dem Arm meiner Kinderfrau, die selbst zeichenbegabt war, entstanden meine ersten Bilder. Erblich belastet, Urgroßvater war Hofmaler und Intimus König Ludwig I. Seine Tochter, meine Großmutter, Gabriele von Berüff, war gute Malerin. Außerdem drei Großonkels und zwei Onkels. Aber die Kunst stand nicht gleich im Vordergrund meiner wachsenden Interessen. Die Wißbegier war stärker.

So studierte ich Chemie wie mein Vater, bei Bayer, Physik bei Röntgen. Naturwissenschaften und später Medizin, Philosophie, Indologie usw. Von allen Wissenschaften enttäuscht, weil meine heißesten Fragen nirgends beantwortet und beantwortbar waren. Ich war verzweifelt. Wir besaßen auch ein Landhaus in Berchtesgaden. Ein Vollmondgang auf den Watzmanngipfel brachte eine fast schicksalhafte Lösung und Erlösung. War mir alle analytische wie synthetische Wissenschaft nur ein winziger Ausschnitt aus einem unabsehbaren endlosen Teppich gewesen, so erschienen mir plötzlich die schöpferischen Künste als einziger grandioser Abglanz der gesamten Schöpfung. Die Allmacht, die Urphänomene ins Unendliche, komponieren und variieren zu können, zeit- und raumlos gebundene Ereignisse bildhaft, klanglich oder wörtlich erstehen zu lassen in einem unbeschränkten, grenzenlosen Spiel unter dem einzigen Gesetz einer lebensfähigen Bild-, Klang- oder Wortorganisation eben der naturgesetzlichen Aesthetik sine qua non, die selbst den groteskesten Naturgebilden eignet, da hier jede Dissonanz, jede Übertreibung in die lebensfähige Balance rückt, in die übergeordnete Harmonie, war mir höchster Sinn des Lebens.

Nach dem Watzmann-Erlebnis die ersten Malstudien bei Walter Thor, Hermann Gröber u.a. Erste Akademieprüfung mißlang, weil meine wesenseigene großflächge Arbeit die anderen Prüflinge zu einer Technik verleitete, die sie nicht beherrschten. Franz von Stuck versprach mir im nächsten Semester sein Atelier. Nach einen Jahr war ich die Schule satt. Nach zwei gewonnenen Preisaufgaben hatte ich eine dritte mit den Thema "Der Staat" scheinbar so staatsfeindlich symbolisiert, daß mir der endgültige Abgang von der Hochschule nicht schwer gemacht wurde.

Ich war nie ein guter "Schüler". Walter Thor sagte mir einmal: "Finsterlin, sie werden nie ein Thor, aber was Besseres"; und nach den ersten Berliner Erfolgen hat er mir's gelegentlich einer Begegnung bestätigt.

Ich spannte danach noch die Debschnitzschule [sic, R.D.] aus und gründete ein freies Atelier in Schwabing mit gegenseitiger Korrektur. Dann kam der Krieg und ich zog ganz nach Berchtesgaden. Ich arbeitete wie im Rausch. Das meiste dieser produktiven Zeit ist später in den Kriegswirren verloren gegangen. Um das Kunstleben draußen habe ich mich in meiner Bergeinsamkeit nie gekümmert.

Ich heiratete und hatte in der Folge zwei Kinder, später vier Enkel, was nicht wichtig ist. Wesentlich ist der große Anteil, den meine Frau, mit der ich bald 50 Jahre verbunden war, an meinem Lebenswerk hatte.

Vor dem Kriegsdienst hat mich ein Reitunfall bewahrt. So habe ich den Ersten Krieg in sträflicher Freiheit schaffend überstanden, bis die Inflation Besitz und Vermögen wegfraß bis auf das Landhaus und einen Grundstücksrest, der dann später wieder ein bescheidenes Leben und Schaffen in Freiheit ermöglichte.

In der Zwischenzeit hielt ich mich mit Portraits und Landschaften über Wasser. Der erste Kontakt mit der Außenwelt kam durch ein Ausschreiben einer Ausstellung unbekannter Architekten durch Walter Gropius in einer Zeitung, die mir "zufällig" in die Hände fiel. Gerade zu der Zeit war in mir eine ganz sonderbare unerklärliche Abneigung aufgekommen gegen das Wohnen in Würfeln, gegen grade Flächen, Ecken und Winkel und die Hausratkisten alias Möbel. Mein Blick wollte beim Erwachen und Wachträumen nicht mehr an senk- und waagrechten Wänden abprallen, sondern wie in erträumten Edelhöhlen oder in Riesenorganen komplizierte Formen umschmeicheln[,] eine reiche, lebendige, erregende Umwelt, wie sie nur die großartige Bergwelt als nur scheinbar amorphes Kaleidoskop täglich bei den vielen Gängen darbot. So war mir auch das Barock höchstens noch die Hochgotik sowie Indiens Tempel die einzige wesensnahe Architektur.

Nun begann ich Traumhäuser zu entwerfen, in denen ich in der Phantasie lebte. Tolle Gebilde, innen und außen; aber auch hier trotz gewagtester Dynamik stets die statische Balance wahrend. Ich besaß erst ein Dutzend solcher Entwürfe, als mir die Ausschreibung von Gropius zu Gesicht kam. Ohne Bedenken, aber ohne jede Erwartung positiver Reaktion sandte ich diese ein. Ein Antworttelegramm von Gropius erschien mir völlig unwirklich. "Ich bin sehr beeindruckt, senden Sie viel!" schrieb Gropius. Die nächsten Tage waren ein Schöpfungsrausch. Über 100 farbige Entwürfe gingen zur Auswahl nach Berlin. Die Ausstellung war ein völlig unerwarteter Erfolg, auch ganz im allgemeinen. Die Zeit war reif und aufgeschlossen für alles Neue, wie keine vor und nach ihr. Die konservative Presse war wohl zurückhaltend, zum Teil auch aggressiv, die fortschrittlichen Blätter voll Verständnis für den Sinn der Ausstellung. Meine Arbeiten wurden selbst von Arbeitern lobend bedacht als wohl extreme aber kompromißloseste, konsequenteste, mutigste Versuche, die völlig steril gewordene Bauerei aufzulockern und zu vergeistigen. Für mich persönlich resultierten allerhand erfreuliche Folgen: Vijdeveld in Amsterdam, der Redakteur der Zeitschrift "Wendingen", brachte eine ganze Nummer dieses kultivierten Blattes über meine Architektur und arrangierte ein paar Ausstellungen in Amsterdam. Der sich soeben konstituierende Arbeitsrat für Kunst in Berlin bot mir die Mitgliedschaft an, Galerien in Holland, der Münchner Glaspalast, norddeutsche Städte etc. baten um Ausstellungen, die radikalen Gruppen "Der blaue Reiter", "Die Brücke" u.a. luden mich ein. Das Erfreulichste aber waren mir drei Bauaufträge, einer am Starnberger See, einer in der Schweiz und in Amerika. Es ist mir noch heute ein Rätsel, wieso alle drei Bauherren noch vor dem Baubeginn ihr Geld verloren, wahrscheinlich durch Kriegsfolgen. Doch Pechsträhnen solcher Art ziehen sich neben großen Glücksperioden durch mein ganzes Leben. Auch Filmleute kamen aus der Schweiz, Verleger interessierte meine hie und da veröffentlichte Dichtung; und hier begann ein Kardinalfehler meines Lebens, die Abneigung gegen die Öffentlichkeit. Ich lehnte jede Bindung an sie ab.

Das Leben in der Stadt hatte nach den Jahren im Hochgebirge jeden Reiz für mich verloren. Diese märchenhafte grandiose Naturwelt schien mich mit Antäuskräften zu fesseln, ein Verlassen derselben war Entwurzelung und Verlust aller schöpferischen Impulse. Ich hatte mit den jungen Architekten, die heute tot oder Prominente sind, noch die "Gläserne Kette" gegründet. Wir ließen zwei Jahre hindurch Schriften und Entwürfe kursieren (diese Sammlung wäre allein einen Verlag wert). Dann verlor man sich aus den Augen.

Was draußen gemalt und gebaut, musiziert und gedichtet wurde, interessierte mich nicht im geringsten. Ich wußte bis zu meiner Übersiedlung nach Stuttgart 1927 (der schulpflichtigen Kinder wegen) zum Beispiel nicht, daß andere auch gegenstandslos malten. Denn jedes meiner phantastischen Ereignisbilder wuchs ja von je erst aus gegenstandslosen Farb- oder Linieninspirationen, wie ja die Architektur auch. So erfand ich für mich auch die Zwölfton-Tonleiter, und die Avantgarde der Literatur schrieb mir kollegiale Briefe.

Etwas aber unterschied mich von je trotz aller Freiheit und scheinbarem Konformismus von den damaligen Modernsten, die Abneigung gegen das Chaos, gegen Destruktion und Perversität.

In Stuttgart blieb ich nicht lange unentdeckt. Professor Pazaurek, Direktor des Landesgewerbemuseums, arrangierte bald eine große Kollektivausstellung in der König Karl-Halle, in der das beste gezeigt wurde, was ich bis dahin geschaffen hatte. Die großen Wandbilder, die Holzplastiken, die Architektur, Bühnenbilder, Portraits, Textil und die drei Baukästen, die auf der Leipziger Messe Aufsehen erregt hatten, für deren Herstellung ich aber trotz großer internationaler Bestellungen der hohen Herstellungskosten wegen im Inland keine Fabrikanten fand.

Zum Leidwesen auch meiner hiesigen Gönner, Kritiker, Förderer und Freunde blieb ich in Stuttgart genauso zurückgezogen wie in Berchtesgaden. Geselligkeit, laufende Ausstellungen, Reklametrompete usw. nahmen mir zuviel Arbeitszeit. Die Erziehung der Kinder, die Aufrechterhaltung der Familie, die Kriegsnachwehen, etc., beließen sowieso nur wenig Muße und Stimmung zu meinem vielfältigen Schaffen. Um die sprudelnden Einfälle wenigstens festzuhalten, ging ich von den großen Formaten zu den Miniaturen über, deren Verluste nach dem Zweiten Krieg sehr groß waren. Dieser Krieg hatte mir mit dem Haus auch viel Geschaffenes zerstört.

Vorher, im Jahr 1932, wurde ich noch ganz unerwartet zu Vorträgen über meine Architektur ans Bauhaus nach Dessau gerufen. Das Prinzip des Bauhauses war schon damals weitgehend auf technisches Optimum eingestellt; die extremste Vereinfachung, so daß ich mir vorkam, als wollte man mich barocken Menschen als extremsten Antipoden demonstrieren. Aber die große, junge, meist ausländische Zuhörerschaft war unerwartet beeindruckt, ja begeistert. Der damalige Direktor, Hannes Meyer, berief mich für das nächste Semester (es war Ostern) an die Schule. Drei Wochen blieb ich dort als Lehrer, doch dann schlossen die Nazis die Anstalt wegen der allerdings starken bestehenden kommunistischen Einstellung der Lehrer- und Schülerschaft und der Direktion. Diese drei Wochen verschuldeten auch den Titel, den Ausstellungsleitungen, Presse etc. wohl aus Reklamegründen benutzten, den ich privatim selten geführt, nicht nur aus Titelfeindschaft, sondern weil es gar nicht mehr nachweisbar war, ob meine Berufung so kurz vor den Kriegswirren noch in die Ministerien gelangt war oder ob sie mit den Archiven im Kriege vernichtet wurde. Entdeckt wurde letztlich vor gar nicht langer Zeit in Berliner Archiven ein Brief Herrn Meyers an Gropius, worin er meine Berufung ans Bauhaus mit dem Bestreben rechtfertigt, die drohende Sterilisierung desselben durch die Aera Nies [sic, R.D.] van der Rohe durch meine barocke Antopodie aufzuhalten. - Das Unverständlichste war mir, daß sich das Dritte Reich von Anfang an für mich und meine Arbeit interessierte. Man überhäufte mich mit "ehrenvollen" Aufträgen. Ein großes St. George-Fresko [sic, R.D.] mit Hitlers Portrait ans Braune Baus zu München, Großportrait des Führers und seiner Kreaturen, Miniaturen-Sammlungen für Goebbels, usw. Ich habe bis zum Ende keinen Pinselstrich für das Dritte Reich getan. Ein fingierter starker Rheumaanfall des rechten Armes, unterstützt durch Gutachten befreundeter Ärzte, hatte mich zwei Jahre in der Schwebe gehalten. Dann kam das Mißtrauen und beginnende Verfolgung, bis man mich regelrecht beschatten ließ. Man entzog mir die Lebensmittelkarten, zum KZ kam es seltsamerweise nicht, wahrscheinlich hatte man mich in den zunehmenden militärischen und politischen Schwierigkeiten vergessen.

Aber das fingierte Rheumaleiden rächte sich mit einem tatsächlichen, das mich fast bewegungslos machte. Südliche Aufenthalte besserten den Zustand jedesmal rasch, so daß ich meine schwindenden Devisen öfter durch große Wandbilder auffüllen konnte, so in Tripolis, Majorka [sic, R.R.], Teneriffa, etc.

Eine folgende Berufung an eine Pariser Privatakademie ging eine Woche vor meinem Antritt durch den Tod des Direktors zurück; eine durch Hölz's [sic, R.D.]Empfehlung in Stuttgart scheiterte an der Einsparung von Lehrkräften durch die Nazis.

Nach der Zerstörung meines Hauses 1944 war ich zwei Jahre auf dem Hof meines Sohnes am Bodensee. Nach dem Wiederaufbau arbeitete ich am Ersatz des Verlorenen, stellte öfter aus in Stuttgart, im Museum in Wuppertal, in Paris, Berlin, München, etc. Die Wirkungen dieser Ausstellungen dauerten meist über ein Jahr. Große Fresken in Kurhäusern, wie Mergentheim, Schönberg [sic, R.D.], in Festsälen, wie Tripstrill, Mallorca, Tripolis u.a. waren die Folgen, ebenso Portraitserien. Was mir jedoch bei all meinem Lebensglück nie zufiel war der Manager.

Die früher gesuchte Isolierung war später in der Zeit der publicity und der Kunstbörse nicht mehr wettzumachen. Ich blieb für Kritik und Kunstgeschichte der unverbesserliche Außenseiter, geschätzt, vielleicht beneidet, von den zeitbedingten und zeitgebundenen Kreisen mit höflicher Distance und Mißtrauen bedacht. So blieb der Kreis meiner Kunstfreunde verhältnismäßig klein, aber wertvoll.

Es wäre ein Leichtes, mich groß herauszubringen. Abstrakte Kollegen sehen in mir den kommenden Mann, weil ich absolute totale Malerei, Architektur und Dichtung mache. Und ich habe auch manchmal selbst den Eindruck, man sollte nicht Linie sein sondern Körper. Sie wissen, was ich meine. Diese komplexe Arbeit hat auch verursacht, daß ich nie Perioden hatte, sondern von meinem ersten Pinselstrich an bis heute meinen bildenden und dichtenden Ausdruck nicht geändert habe. Ich hätte ja auch abhauen müssen, wollte ich ihn um jeden Preis ändern. Und das lag und liegt mir nicht.

Trotz meines Alters habe ich das bildende Kunstwerk, das mir seit meiner Jugend vorschwebt, noch nicht gesehen, weder bei anderen, noch bei mir. Es schwimmt in meiner Vorstellung, kristallisiert sich sogar manchmal im Traum, hat sich aber noch nie restlos fassen und verwirklichen lassen. Und das allein ist der Grund, warum ich noch 50 Jahre leben möchte!

So wenig, wie der ideale Zukunftsbau, den ich wohl wie ein Nebelgebilde erlebe und erfühle, aber in seiner Vollkommenheit trotz vieler Versuche noch nicht habe schaffen können. -

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Anmerkungen
1) Die "Biographie in großen Zügen", künftig zitiert als "Biographie [...]", liegt in mehreren Typoskriptfassungen vor. Die hier wiedergegebene Fassung ist die ausführlichste. Für ihrem Druck berücksichtigt wurden noch zwei spätere handschriftliche Zusätze. - Die Textwiedergabe folgt wie in allen folgenden Fällen der Schreibung Finsterlins, speziell bei Fremdwörtern, Namen und der Zeichensetzung. Eindeutige Schreibfehler sind jedoch stillschweigend verbessert, ferner wurden der leichteren Lesbarkeit wegen bei schwankender Schreibung (sz, ss, ß) auch geringfügig Vereinheitlichungen vorgenommen.