BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Zur Rezeption des Apfels
Im schönsten Apfel sitzt der Wurm.
Beyer, Sprichwörterlexikon


Texte und Kommentare [1971] | [ Peter Weiermair | Christian Wagenknecht ] | Die poetologische Bedeutung der Konkreten Poesie in zenbuddhistischer Sicht [1991] | Wurm und Made [1994] | Nachwort [2002] | Rezeption

Reinhard Döhl | Texte und Kommentare (Württ. Kunstverein, 7.4.1971)
Beispiel 13

Mit Zweierlei hatte ich nicht gerechnet, nicht damit, daß der 1965 als Weihnachtskarte von Klaus Burkhardt gedruckte "Apfel" schon bald an den unterschiedlichsten Orten, auch in Übersetzung, nachgedruckt und zu einer Ikone einer vor allem visuell verstandenen konkreten Poesie werden würde; erst recht aber nicht damit, daß man in ihm ausschließlich einen Gag mutmaßen könnte [= look the intruder!], soweit man den wurm im Apfel überhaupt erkannte [s.u.].

Daß keiner der Ablehner und Fürsprecher auf die Idee kam, die Paradiesgeschichte z.B. oder den Trojanischen Krieg herbeizuassoziieren, verblüffte mich. Als ehemaligem Schüler eines humanistischen Gymnasiums und aus der Lektüre waren mir natürlich der Apfel des Paris, oder die von Herakles geklauten hesperidischen Äpfel und macherlei Anderes, auch Märchenhaftes (Schneewittchen), Sprichwörtliches und Umgangssprachliches um den Apfel durchaus vertraut, die oft folgenden Katastrophen (Trojanischer Krieg, Vertreibung aus dem Paradies etc.] geläufig. So verbinden sich in einer "fingerübung" aus dem Jahr 1959 - dem Erscheinungsjahr der "missa profana" - Sprichwörtliches, Paradiesgeschichte und Trojanischer Krieg zu:

die nichtgemalten bilder im himmel oktober : ich bezeichne den herbst als dies und das auch als jenes : ich sage herbst ist eine jahreszeit und nichts weiter : allenfalls verführte eva mit äpfeln den sommer : da war der wurm drin : böse zungen besprechen den krieg im handumdrehen die liebe : vorderhand geht das gerücht einer sintflut um mit der zeit da es herbst wird : wichtig scheint dagegen die reihe von zeichen für zeichen für : herbst sage ich ist dies und das auch sage ich jenes : nicht kodierte zeichen : herbst da herbst wird .
[Druck: fingerübungen, 1962].

Einige Jahre später begann ich, besessen von der Idee, Gedichte bis auf eine gerade noch denkbare Wurzel zu reduzieren, mit Texten zu experimentieren, die nur noch aus drei oder zwei Wörtern bestanden und die ich "epigramme ad usum delphini" nannte.

Ein erster Typus dieser "epigramme" waren Drei- oder Zweizeiler wie

my story
your story
history
oder
einfall
zweifel.
Die im ersten Wegwerfheft 1967 veröffentlichten Siebenzeiler bildeten einen weiteren Typus dieser "epigramme", der in der sechsmaligen Wiederholung eines Wortes und einem abschließenden Wortsprung bestand. Die Siebenzahl war mir hier wichtig.
less
less
less
less
less
less
lesbisch
oder:
man
man
man
man
man
man
kind.
Ich muß hier ergänzen, daß ich damals gegenüber den Texten Eugen Gomringers mißtrauisch geworden war, dem unendlichen ping pong pointierte auch visuelle Zweiwortgedichte entgegensetzen wollte,
worthalten schweigen
                worthalten schweigen worthalten
                schweigen worthalten schweigen
                                                worthalten schweigen
etc. bis an die Grenze des unsinnig Parodistischen, wenn ich zum Beispiel Gomringers emphatischer konstellation "schweigen" das worthalten einschrieb:
schweigen schweigen schweigen
schweigen worthalten schweigen
schweigen schweigen schweigen
oder sie mit der konstellation
worthalten worthalten worthalten
worthalten                 worthalten
worthalten worthalten worthalten
konterte, in der das Schweigen nicht einmal mehr als Wort, sondern nurmehr als eine Leerstelle erhalten war. Auf den Bezug zum Kanji für mund (= kuchi) gehe ich hier nicht ein.

Zu diesem dritten, visuellen Typus der "epigramme" gehört auch die Folge "Apfel / Birne / Blatt", in der der Text zusätzlich konturiert wurde. Die Figurata der Anthologia graeca oder des Barock, auf die die konkret-visuelle Poesie gerne zurückverwiesen wird, spielten dabei in meinen Überlegungen keine Rolle. Stattdessen sah ich in diesen reduzierten "epigrammen" letztmögliche Bruchstücke, gerade noch entzifferbare Fragmente. anders gesagt: mich interessierte, wieweit sich Bedeutung(en) reduzieren ließ(en), ohne ganz verloren zu gehen. Im Falle des "Apfels" standen für mich dabei also wie gesagt der irrtümlich angenommene Paradiesapfel ebenso wie der Apfel des Paris wie andere mythologische Äpfel, in denen der sprichwörtliche Wurm steckte, aber auch die Äpfel des Aberglaubens oder als Liebes- und Symbol der Sexualität und Fruchtbarkeit durchaus im Hintergrund. Gleichfalls waren von mir die biblische, lutherische Bedeutung des Wurms wie der Lindwurm durchaus mitgedacht. Das Bild, den Text dachten wir uns damals als "Leerstellen", an und in denen sich Künstler/Autor und Leser treffen, an/in denen sich die genannten Bedeutungsfelder dann erschließen sollten.

Daß dieses von den Lesern oder Ausstellungsbesuchern so nicht assoziiert und gesehen wurde, hatte ich nicht erwartet und es irritierte mich so sehr, daß ich sogar mit dem Gedanken spielte, Nachdrucke des "Apfels" zu untersagen. Schließlich tröstete ich mich mit einer Anekdote, nach der Newton die Gravitation begriff, als ihm ein Apfel auf den Kopf fiel.

Abschließend möchte ich stellvertretend noch zwei vorliegende Kommentare zitieren, weil sie eine gegensätzliche Meinung vertreten und ich keinesfalls unterschlagen will, daß auch solche Äpfel Geschmackssache sind. Der erste Kommentar stammt von Peter Weiermair, der dabei die Meinung Gerhard Rühms referiert. Er ist übrigens speziell Gabriele von Bülow gewidmet:

Der Zeichencharakter der Schrift darf aber nicht dahingehend ausgenützt werden, den Inhalt des Begriffs naturalistisch zu veranschaulichen; das Verhältnis zwischen Begriff und optischer Präsentation des begriffrepräsentierenden Zeichens sollte vielmehr notwendig ein dialektisches sein. Mißverständlich und als Verdoppelungseffekt erscheint ein naiver Begriffsimpressonismus, wenn zum Beispiel ein Apfel als ikonisches Bild aus Lettern aufgebaut wird, die den Begriff Apfel repräsentieren. Das Bild wirkt durch seine Ähnlichkeit, nicht aber durch seine Idee. Sobald die Identifikation mit dem intendierten Gegenstand erreicht ist, löst sich die Spannung des Lesers und die Aufgabe ist, wie in einem Suchspiel, gelöst. Es kommt vielmehr auf eine Durchdringung von bewußtseinsmäßigen und objektiv-materialen Gegebenheiten in dem jeweilig gegebenen Text an.

Der zweite Kommentar, den ich einem Vortrag und Aufsatz Christian Wagenknechts entnehme, lautet:

Döhl verzichtet darauf, die äußere Kontur des Textes gleichsam von innen her, aus der geordneten Wiederholung des einen Wortbildes abzuleiten, sondern zwingt, wie es scheint, dem bedeutungslosen Resultat einer mechanischen Vervielfältigung ebenso mechanisch, mit der Schere, die Kontur eines Apfels auf. Er denunziert die typografische Feinarbeit der Kolar und Garnier als überflüssige Mühe und führt einen Programmsatz der konkreten Poesie, das Prinzip des geringsten Aufwands, zur absurden Konsequenz. [...] Döhl freilich durfte sich die Bequemlichkeit der mechanischen Konturierung gestatten, weil es in seinem Text nicht eigentlich und jedenfalls nicht nur um die typografische Abbildung eines Apfels geht. Dieser Apfel nämlich enthält [...] einen Fremdkörper, genauer: einen Wurm. Und der verbirgt sich nicht wie auf Vexierbildern in fremder Gestalt, sondern überraschendenweise in seiner eigenen, in der des Wortes Wurm [...]. Ein sprachliches Vexierspiel also, ein Scherzgedicht mit den Mitteln der konkreten Poesie, ein Witz, wenn man so will - ein Witz aber, der wie die Wortspiele Nestroys dazu angetan ist, den Betrachter im Labyrinth der Beziehungen zwischen Sprache und Welt zu verfangen. Und das, so scheint es, macht den Sinn vieler konkreter Gedichte aus.

[Aus Texte und Kommentare. 7.4.1971: Im Rahmenprogramm zur Stuttgarter Station der Ausstellung klankteksten / ? konkrete Poesie / visuelle Texten im Württ. Kunstverein, modifizierte Fassung 1972 zur Eröffnung der Ausstellung Visuelle Poesie. Hamburg: Haus Deutscher Ring]
 

AHN Mun-Yeong [Chungnam National University] | Die poetologische Bedeutung der Konkreten Poesie in
zenbuddhistischer Sicht

Das Problem der deutschen Literatur der Moderne ist vor allem das Problem der Sprache. In den Überlegungen von Novalis, der den Dichter einen "Sprachbessenen" nannte und ihm als höchstes Ziel setzte, den ursprünglichen Geist in Worten wiederzubeleben,
zeigte sich schon deutlich das Problembewußtsein der Sprache. Obwohl er glaubte, die magische Einheit von Leben und Geist
durch die poetische Sprache zurückgewinnen zu können, wiederholt sich seine tiefe Einsicht in der Ohnmacht der Sprache bei den
Dichtern des 20. Jahrhunderts. Der "Chandos- Brief" (1900/1) von Hoffmannsthal war nur ein Auslöser für eine ganze Reihe von
Bekenntnissen zur dichterischen Ohnmacht im Angesicht der unfaßbaren Wirklichkeit dieses bereits in seine Endphase geratenen
Jahrhunderts. Während das Rügen des Dichters als "Lügner" (Nietzsche) oder die programmatische Ablehnung der Metapher durch die Naturalisten immer noch eine sprachoptimistische Poetik enthielt, führte der "Konflikt mit der Sprache" (Bachmann) inmitten des technischen Zeitalters zur radikalen Sprachskepsis. Die Sprache als die Bedingung der Möglichkeit des poetischen Daseins wird von Grund auf neu reflektiert und teilweise negiert. Aus diesem Krisenbewußtsein der Sprache entstand das Ideal der "Sprache der Fische" [des Schweigens] (Rilke) oder der paradoxe Wille des Gedichts, ein Ort zu sein, "wo alle Metaphern und Tropen ad absurdum geführt werden" (Celan). So ist ein Grundcharakter des Gedichts im 20. Jahrhundert durch den Thematisierungsvorgang der poetologischen Reflexion im Spannungsverhältnis mit der Sprachskepsis gekennzeichnet.

Die Konkrete Poesie prüft auch die Bedingungen der Möglichkeit des poetischen Daseins auf der Ebene der minimalen
linguistischen Zeichen (Phonem bzw. Graphem). Im folgenden seien zwei Texte der Konkreten Poesie in diesem Zusammenhang
analysiert.

Ein konkreter Text, den Reinhard Döhl 1965 für die Bildseite einer Postkarte entwarf, trägt den Titel "Apfel mit Wurm" und sieht wie folgt aus:

Dieser Text, dessen Umriß in der vereinfachten Form eines Apfels mit den Wörtern "Apfel" und einem Wort "Wurm" gefüllt ist, ist ohne weiteres dem poetischen Piktogramm zuzuordnen. Die Darstellung in diesem Text scheint so konkret zu sein, daß jeder, der diesen Text sieht, unmittelbar daraus den Sinn eines wurmbefallenen Apfels herauslesen würde. Wenn das Ziel der poetischen
Sprache in der treffenden Darstellung des Gegenstandes läge, würde dieser Text einen Idealfall der Posie repräsentieren, in dem die Sprache als Darstellungs-Mittel mit dem dargestellten Gegenstand auf genuine Weise zusammenfällt. Auch die Einheit von Inhalt
und Form in diesem Text, dessen Thema "Apfel mit Wurm" in einer Apfelform verwirklicht wird, scheint erfolgreich erreicht worden zu sein. Rilkes Frage, "Wo ist zu diesem Innen / ein Außen?" (Das Roseninnere), könnte eine Antwort in dieser einheitlichen
Textgestalt als einem von Innen gefüllten Außen finden. Die Maßgabe für einen gelungenen literarischen Text, sei es die treue
Wiedergabe der Wirklichkeit, sei es die Form-Inhalt-Einheit, erweisen sich jedoch als unangemessen an diesem Text, dessen Sinn
für jeden zweifellos deutlich zu sein scheint, wenn man die semantische Struktur des Textganzen genauer betrachtet.

Trotz der versuchten Potenzierung der Wortbedeutung durch die Visualisierung des darzustellenden Gegenstandes in einer
graphischen Form und die tautologische Zusammensetzung von Inhalt und Form erreicht dieser Apfel-Text niemals jene Konkretheit
eines Apfels, der in der Außenwelt real existiert, und dies nicht etwa weil hier der Stiel [sic] fehlt. Die Anordnung der zur
Visualisierung des Wortsinns zusammengesetzten Schriften gleicht der Komposition auf einer zweidimensionalen Fläche, die keine
zeichentechnische Perspektive für die kubische Wirkung enthält. Wenn auch die Bedeutung der Wörter "Apfel", die in der
Flächenkomposition zum waagrecht und senkrecht aufeinander folgenden Muster tendieren, die runde Form dementsprechend als
eine Apfelform bestimmen mag, bleibt das semantische Verhältnis zwischen den einzelnen Wörtern und der damit gebildeten Form
ambivalent, und zwar aus dem schlichten Grund der Inkongruenz der Zahl, nämlich der Mehrzahl der inhaltbildenden Wörter
gegenüber der Einzahl der Form als der Summe der einzelnen Wörter. Was für ein Witz ist dieses Ergebnis, daß aus so viel "Apfel"
keine Äpfel sondern nur eine apfelförmige Gestalt entsteht! Wenn diese eine Form des Apfels für jeden anderen "Apfel" steht und
damit ernst gemeint sein soll geht dieser Apfel-Text im ganzen vom bloßen Piktogramm zum poetischen Ideogramm über, das die
einzelnen Schriften versammelnd einen Sammelbegriff zeigt.

Wegen der ausgeprägten Flächenhaftigkeit der Schriftanordnung gerät die semantische Beziehung zwischen den Wörtern "Apfel"
und "Wurm" ins Wanken. Die grammatisch so deutliche Präpositionalbindung der beiden Wörter im Titel ("Apfel mit Wurm") läßt
jedoch noch nicht entscheiden, ob der Wurm "in" dem Fruchtfleisch eines Apfels steckt, oder ob er "auf" der Apfeloberfläche kriecht, oder ob ein Wurm "auf" der Schnittfläche eines Apfels bloßgestellt ist oder sich unter den vielen Äpfeln befindet. Demzufolge kann man auch das Thema dieses Textes nicht auf den "wurmbefallenen Apfel" beschränken. "Apfel mit Wurm" kann auch bedeuten den "Wurm auf der Oberfläche des Apfels", den "Wurm, der eine Stelle des Apfels aufgefressen hat", oder auch den "Wurm, der unter vielen Äpfeln kriechen, liegen, oder einfach sich befinden mag. Diese semantische Ambiguität steht dem eindeutigen Eindruck des visuellen Textes schroff entgegen.

Von seiner syntagmatischen Struktur her betrachtet, stellt der Apfel-Text eine Anhäufung von Reihen eines sich immer
wiederholenden Wortes dar, während eine beschränkte Zahl von Buchstaben in senkrechter Richtung miteinander (ApfApf, pepe, flfl, AeLAel) abwechselt. Das senkrechte Element in den Buchstaben "f" und "l", die in der paradigmatisch gleichen Stelle des Textes aufeinandergestellt sind, ist so deutlich ausgeprägt, daß die Text-Fläche durch die daraus entstehenden Schnittlinien in sieben Teile geteilt werden kann. Durch die Prägnanz des optischen Eindrucks lenkt der Apfel-Text das Augenmerk vom tautologischen Verhältnis der Wörter zur abwechselnden Beziehung der Buchstaben. Der semantische Wert der sprachlichen Zeichen (Phonem, Morphem, Lexem), der bei der waagerechten Lektüre noch erhalten bleibt, wird bei der senkrechten Bewegung der Augen in sinnlose Lautsplitter aufgelöst. In der bloßen Regelmäßigkeit der Wiederholung und der Abwechslung wird sogar die Funktion der
traditionellen Metrik (Stab-, Binnen-, Endreim) sowie der Rhetorik (Anapher, Epiphora) aufgeboben. Auf der Schwundspur des
semantischen Wertes verwandeln sich die Buchstaben als sprachliche Zeichen in das Element des Schrift-Musters, dessen
Brechbarkeit wiederum an den abgeschnittenen Schriften am Rand des Textes deutlich wird.

An diesem schriftlichen Textrand, wo die Zerstörung des sprachlichen Zeichens paradoxerweise am deutlichsten eine konkrete Form annimmt, erfährt gerade das symbolistische Prinzip Mallarmés ("poésie sans les mots") oder das nihilistische Prinzip der
poetischen Form von Benn jeweils dessen buchstäbliche Konsequenz. Die absolute Überlegenheit der Form bzw. die
Auslöschbarkeit des semantischen Zeichens stellt den notwendigen Sinnzusammenhang zwischen dem Ganzen (der Apfel-Form)
und den Teilen (den Wörtern "Apfel") in Frage. In diesem paradoxen Verhältnis zvvischen dem Sinnverlust des Zeichens und der
Sinngewinnung der Form treibt der Apfel-Text die linguistische Einsicht von Saussure, daß die Verbindung von signifié und signifiant
ursprünglich arbiträr sei, auf poetische Weise auf die Spitze. Mit anderen Worten wird die Arbitrarität des Bezeichnens eines
Gegenstandes durch eine bestimmte Bezeichnung in die Beliebigkeit der semantischen Funktion des schriftlichen Zeichens je nach
dem Raumverhältnis in einem Text übertragen. Angesichts dieser semantischen Ambivalenz soll jedem Leser die Festlegung
irgendeiner Wortbedeutung des Textes vorbehalten bleiben.

Die Frage, was eigentlich an diesem Apfel-Text "konkret" ist, bleibt auch dahingestellt. Weil sich jedes Konkrete in seiner
Einzigartigkeit grundsätzlich jedem sprachlichen Zugriff entziehen muß, der immer die begriffliche Reaktion auf die Wirklichkeit
bedeutet, ist das Wort "konkret" für die Bestimmung des ontologischen Status eines Textes, solange dieser aus den sprachlichen
Zeichen besteht, nicht nur unangemessen, sondern im streng philosophischen Sinne sogar falsch. Die mystische Einsicht
"individuum est ineffabile" verbietet schon seit jeher die Verwechslung des Einzelnen, d.h. des Konkreten mit dem sprachlichen
Begriff als dessen Bezeichnung.

[...]

Wegen der prinzipiellen Unterlassung der Verweisfunktion der Sprache ist die Methode der Konkreten Poesie als eine anti-
poetische Meditation über die Bedingung der Möglichkeit der poetischen Sprechweise zu verstehen. Seit der Mitte der fünfziger
Jahre wird solche Methode gleichzeitig in verschiedenen Sprachen auf dem ganzen Erdteil erprobt. Es fragt sich, ob die Dichter der
konkreten Texte dabei ahnen, daß ihre Methoden den Wurzeln nach in der tausendjährigen Tradition des Zen-Buddhismus stehen.

Es war einmal ein Mönch in einem altchinesischen Tempel, der sehr stolz auf das Niveau seines Wissens und die Übungen in der
Lehre des Zen-Buddhismus war. Aus der allgemeinen Anerkennung seiner Begabung und Fähigkeit in zenbuddhistischer Disziplin
ging die Erwartung unter den Mönchen im gleichen Tempelhof hervor, daß dieser zweifelsohne der Nachfolger des 5. Patriarchen,
dessen Tod damals schon nahestand, werden sollte. Als wenn er auf die Erwartungen seiner Kollegen antworten wollte, hängte er
ein Blatt an eine Holzsäule des Tempels, auf dem der folgende Vierzeiler stand:

     Unser Körper ist eigentlich der Boddhi-Baum
     Unser Herz ist auch das Gestell des klaren Spiegels.
     So entstaube fleißig hin und wieder
     Damit kein Staub sich drauf setzt.
     [Daneben der Originaltext in Kanji]

Das Glück dieses Gedichtes ist die Geschicklichkeit des Vergleichs. Es war der Lindenbaum, unter dem Buddha nach
neunundvierzigtägiger Meditation die ewige Erleuchtung gewann. Seitdem hieß dieser Baum der Boddhi-Baum, der Baum der
Erleuchtung. Das reine Herz, das wie der klare Spiegel alles Aufgenommene wieder zurückgibt, ist das höchste Ziel der Meditation.
Die Aussagekraft dieses Gedichts geht also auf die Macht der Metapher zurück, die den Kern der zenbuddhistischen Lehre
zusammenfaßt und im klaren Bild veranschaulicht. Den besonderen Reiz dieser Metapher empfanden sicherlich die strebenden
Mönche in der wiederholten Bestätigung, daß der Weg zur ewigen Erleuchtung für jeden offen und gangbar ist, wie es einst Buddha
selbst lehrte. Denn der Dichter-Mönch weist nachdrücklich darauf hin, daß der Weg zum fernsten Ziel, zum Buddha, nirgendwo
anders als im eigenen Leib eines jeden liegt. Indem der Fleiß, sich den eigenen Leib und die eigene Seele möglichst rein zu halten,
als sicherster Weg zum Glück der Erleuchtung geboten wurde, glaubte jeder Mönch, der dieses Gedicht las, endlich eine gangbare
Richtung für das tägliche Bemühen gewonnen zu haben. Keiner zweifelte an seiner Kompetenz für das nächste Patriarchat der
Zen-Buddhisten der Tang- Dynastie. Das Glück des Dichter-Mönchs war die offene und zugleich heimliche Erwartung, als Nachfolger seines Lehrers anerkannt und ernannt zu werden. Seine Angst aber war das Schweigen unter den geschlossenen Augen des hochverehrten Meisters, der, an der Grenze zwischen Tod und Leben sitzend, die Atmosphäre im Tempel in einer erstickenden
Spannung hielt.

Aus der gespannten Angst wurde erschütterter Schreck, als man sah, daß irgend ein Unbekannter ein neues Blatt neben das erste
über eine Nacht angeschlagen hatte. Der neue Vierzeiler lautete:

     Boddhi ist eigentlich kein Baum.
     Der klare Spiegel hat auch kein Gestell.
     Ursprünglich gibt es nicht ein Ding.
     Worauf soll sich ein Stäubchen niedersetzen?
     [Daneben der Originaltext in Kanji]

Das neue Gedicht ist gekennzeichnet durch die Ökonomie des Ausdrucks. Die gleichen Wörter und die gleichen Bilder wurden vom
ersten in dieses zweite Gedicht übergenommen. Nur die Sprechweise war von der positiven in die negative umgestellt. Dies bedeutet zunächst die Verneinung des Vergleichs im ersten Gedicht. Was im Gerüst des Vergleichs zusammengehalten wurde, wurde durch die Negation wieder gelöst. Nicht nur die Basis des Vergleichs (tertium comparationis) im ersten wurde dadurch vernichtet. Dem Sinn des Vergleichens überhaupt wurde der Boden entzogen. Denn die Negation im zweiten Gedicht stellt paradoxerweise die wahre Methode der zenbuddhistischen Methode dar, die die sinnbefreite und somit gereinigte Stelle des Herzens über die Grenze der Sprache hinausführt. Was das erste Gedicht zu entstauben versuchte, zeigte sich schon rein und hold in der negativen Sprechweise des zweiten Gedichtes. Der Vergleich als Mittel zum Zweck stand sozusagen gerade dem Ziel der Erleuchtung im Wege. Aus dem Glück des gelungenen Vergleichs wurde nun ein Unglück des Ahnungslosen. Der Dichter- Mönch wurde zum Anführer des
Mordplans gegen seinen Konkurrenten. Der Verfasser des zweiten Gedichtes, der bis dahin nur als ein niedriger und schweigsamer
Diener in der Küche des Tempelhofs bekannt war, erhielt die Kleider und das Geschirr seines Meisters, Symbole der Würde des
Patriarchats, und entfloh seinem Verfolger im nächtlichen Dunkel. Dieser war der sechste Patriarchat des chinesischen
Zen-Buddhismus der Tang- Dynastie, der zwischen 638-712 n. Chr. lebte. Mit ihm wurde das Zentrum der zenbuddhistischen
Tradition vom Norden nach Chinas Süden verlegt. Das eigentliche Bestreben des gescheiterten Mönchs war als Ehrgeiz und
Begierde nach der Anerkennung und der Macht des Patriarchats entlarvt worden. Diese waren auch seine verborgenen Gegner im
eigenen Herzen.

Diese Poesie der Negation des Zen-Meisters entspricht der grundsätzlichen Negation des sprachlichen Verweischarakters des
Konkreten Textes. Zu fragen ist natürlich, ob der moderne Dichter mit seiner Konkreten Poesie wahre Erleuchtung erreicht hat.

[Aus Die poetologische Bedeutung der Konkreten Poesie in zenbuddhistischer Sicht. In:  JDZB. Japanisch-Deutsches Zentrum Berlin. Veröffentlichungen des Japanisch-Deutschen Zentrums Berlin, Bd 12. Symposium "Deutsche Literatur und Sprache aus ostasiatischer Perspektive", 26.-30.08.1991, S. 14-22. Vollständig unter ]
 

Irene Ferchl | Wurm und Made
Über den sorglosen Umgang mit fremden Gedichten

Wenn irgendwo der Wurm drin ist, dann folgt gewöhnlich eine Serie von Pannen. Mit der Made ist das eine andere Geschichte, die tummelt sich meistens im Speck. Wurm oder Made, kommt's bei ekligem Getier so genau drauf an? Besser, man schaut da gar nicht erst hin.

Gelegentlich birgt der abgewandte Blick freilich eine Gefahr, bei Verlagen zum Beispiel, insbesondere Schulbuchverlagen. Da gibt es ein Gedicht, 1965 als Postkarte auf den Markt gekommen und in rascher Folge in unzähligen literarischen und nichtliterarischen Zeitschriflen veröffentlicht, dann in Anthologien und in Lesebüchern abgebildet, als Teller einer Rosenthal-Serie kam es sogar auf den Tisch. Nach nunmehr drei Jahrzehnten kennt so ziemlich jedes Kind den Apfel mit Wurm, und jeder gebildete Mensch identifiziert dieses Stück Lyrik als das Beispiel konkreter Poesie. Keineswegs nur im deutschen Sprachraum, auch auf englisch und chinesisch, in Norwegen, Schweden, Australien und Japan - sozusagen weltweit. Nur beim größten Stuttgarter Schulbuchverlag hatte man dieses Gedicht von Reinhard Döhl, Literaturprofessor an der hiesigen Universität, noch nie gesehen und plazierte im Lesefuchs für das 2. Schuljahr statt des Wurms die Made in des Apfels Mitte.

Doch wettern wir nicht vorschnell gegen eine schwäbische Grundschulredaktion, es kommt noch schlimmer. Nur wenige Monate später fragte ein Braunschweiger Schulbuchverlag beim sehr geehrten Urheber an, ob man im neuen Sprachbuch Klartext den Apfel "in etwas veränderter Form" abdrucken, nämlich "den Wurm aus methodisch-didaktischen Gründen gegen sine austauschen" dürfe? Wundert sich jemand über den Sinn - "sine" (lat.) "ohne" -, entrüstet sich einer über die Verballhornung? Aber wieso denn? Den Lehrern, respektive Schulbuchmachern geht es ja nur um die rechte Schreibung des langen "i" bei Apfelsine, nicht um Vermittlung von Literatur. Entsprechend wird funktionalisiert und verfälscht, werden Zitate aus dem Zuammenhang gerissen. Der Zweck heiligt die Mittel.

Für einen originellen Spruch geben Werbeleute notfalls ihre Seele, doch lieber einen literarischen Text preis. Daß die siebzig Jahre währende Schamfrist einem gewisse Beschränkungen aufnötigt - und ein zeitgenössischer Autor den Abdruck einfach verbieten kann -, ist schlimm genug. Aber wenn die Klassiker sich im Grabe wälzen, wen stört das schon groß? Es kann ja nicht jeder selbst geflügelte Worte am laufenden Band erdichten, wie einst Shakespeare oder Schiller. Die Schulbuchmacher halten sich vielleicht sogar für besonders kreativ, wenn sie des Apfels Kern austauschen, flugs Reinhard Döhl mit Heinz Erhardt venvechseln, bei dem es etwa so heißt: "Hinter eines Apfels Rinde, lebt die Made mit dem Kinde." Das Ende vom Lied - wer kennt es nicht - ist traurig, denn da kam ein Vogel geflogen "und verschlang die kleine fade Made ohne Gnade. Schade." Hätte er doch besser die Sine gefressen.

[literaturblatt H. 3, Mai/Juni 1994, S. 9]
 

Bettina Sorge | Aus dem Nachwort zum Lesebuch (2002)

Der wohl bekannteste Text des Autors ist sein Bildgedicht apfel wurm von 1965 (Abb. n ), das in viele Schulbücher Einzug gehalten hat und auch ins Englische, Französische und Chinesische übersetzt wurde. Es ist ein Text, der in der alten Tradition des Bildgedichts steht. Bildgedichte waren vor allem in der Antike und im Barock beliebt.

Der Apfel mit seinem Wurm spielt mit den verschiedensten Bedeutungsebenen: vom einfachen Sprichwort "Da ist der Wurm drin" bis zum mythologischen Urteil des Paris und der Versuchung Evas (was beides bekanntermaßen schreckliche Konsequenzen hatte). Ja selbst erotische Konnotationen dürfen wir dem Apfel und dem ihn heimsuchenden Wurm unterstellen.

Dass sich dem Apfel noch ein Blatt (feuilleton guillotine) (Abb. n ) und eine Birne (Pere Ubu) (Abb. n ) zugesellen, ist weitgehend unbekannt. In diesem Lesebuch werden die drei als Postkarten herausgegebenen, zueinander gehörenden Figurata zum erstenmal gemeinsam veröffentlicht.

Wie der Wurm dem Apfel so ist dem Blatt, das aus dem Wort Feuilleton gebildet wird, das Wort Guillotine inhärent. So wie sich das Wort "Apfel" zum Apfel addiert, so addiert sich das "Feuilleton" (franz. "Blättchen") zum Blatt, das dort, wo [...] normalerweise der Kopf eines Verurteilten liegen würde, durchgeschnitten, "guillotiniert" ist. Was hat nun Guillotine mit Feuilleton zu tun, außer dass 8 der 10 Buchstaben dieselben sind und G auf F folgt, was auch nicht wenig zu diesem Spiel beigetragen haben dürfte. Der Name "Feuilleton" wurde am 22.6.1800 von Geoffroy im "Journal des Debats" eingeführt, die Guillotine wurde ab 1792 in der Französischen Revolution eingesetzt. Dem Feuilleton ist also von Anfang an die Guillotine eingeschrieben, wie dem Apfel der Wurm.

Die dritte im Bunde ist die Birne (englisch pear, gesprochen wie französisch père gleich Vater), in der sich Alfred Jarrys literarische Figur Vater Ubu aus seinem Stück Ubu Roi versteckt. In einer Zeichnung Jarrys, die Ubu darstellt, ist auffällig, wie birnenförmig dieser gezeichnet ist. Döhl hat die Entstehung der Birne für dieses Nachwort veranschaulicht (vgl. Abb. n ). Selbst dem Collège de Pataphysique (11) angehörend und Herausgeber einer kleinen pataphysischen Anthologie (12), stellt er hier einen Zusammenhang zwischen der Birne, dem Vater, hinter dem wir auch Gottvater (Dieu le père) vermuten dürfen, und den ihm innewohnenden "Wurm" her, dem grotesk grauenhaften Ubu.

So wie im Apfel der Wurm, im Feuilleton die Guillotine, steckt im Père ein Ubu oder der Teufel. Politik, Gesellschafts- und Religionskritik und das alles verpackt in scheinbar harmloser Gestalt, als Spielerei – auch das ist Pataphysik.

Aus dem Nachwort zu: Reinhard Döhl Lesebuch. Münster: Ardey 2002
 

Rezeption

Johannes Auer | worm applepie for doehl  / animierte Fassung von Reinhard Döhls genialem konkreten Gedichtes, dem Freund und dialogischen Partner in zahlreichen Netzprojekten zu 63ten gegift [1997]

Johannes Auer | Der Zuritt vom Stuttgarter Rößle [1999]

Weitere Abb. in Katalog: reinhard döhl und freunde | mail art 1959 bis 1999. Wildbad 2000. ISBN 3-929030-50-0. S. 14 f.

Jörg Halter: Selbstportrait for Reinhard Döhl 2002

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