Bettina Sorge: Die Stimme bei Joseph Conrad, dargestellt am Beispiel von "The Nigger of the Narcissus", "Heart of Darkness" und "Typhoon"

3. The Nigger of the "Narcissus"

Die Kritiker, die voice in Conrads Romanen untersucht haben, verstehen den Begriff vor allem im Sinne von narrative voice. Über die Erzählperspektive und den oder die Erzähler bzw. Erzählsituationen im Nigger of the "Narcissus" ist viel diskutiert worden. Etliche Kritiker, z.B. Daleski sehen den Wechsel zwischen auktorialen Kommentaren und der erlebten Rede eines Erzählers, der ein Mitglied der Crew zu sein scheint, als Mängel an. (42) Zu den Verteidigern von Conrads Stil gehören z.B. Watt (43) und Lothe (44), die den Wechsel als ästhetisches Mittel sehen, das Conrad bewußt eingesetzt hat; die Unstimmigkeiten werden als Polyphonie gedeutet.

Ich werde mich in den folgenden Kapiteln auf eine Diskussion über die verschiedenen Erzähler oder Erzählsituationen nicht einlassen, da sie mich zu weit von meinem Thema wegführen würde, und folglich immer von dem Erzähler sprechen.

Da es keinen Aufsatz über The Nigger of the "Narcissus" gibt, der sich mit der Stimme in meinem Sinne auseinandersetzt, werde ich im folgenden das für mich wichtige aus Artikeln paraphrasieren, die sich meist mit der narrative voice beschäftigen.

Daniel Schwarz geht es vor allem um die auktoriale Erzählstimme, womit er das Verhältnis meint, in dem der Autor sich in seinem Text verkörpert; dabei spricht er in manchem auch von der realen Stimme. (45) In den Figuren Donkin und Podmore sieht Schwarz eine Auseinandersetzung Conrads mit der möglichen Demagogie (Donkin) und der Oberflächlichkeit (Podmore) von Sprache: beides narzißtische Verwendungen von Sprache, die ein Autor vermeiden müsse, so Schwarz. In Podmore unterwerfe sich das Ich einer "incantatory language", werde sozusagen trunken und deshalb auf eine Stimme reduziert. Der Mensch wird da zur Stimme, so könnte man den Gedanken weiterführen, der bei Schwarz nur angerissen wird, wo er sich selbst vergißt und wortverliebt seinen Kommunikationspartner aus den Augen verliert.

In Singleton, so Schwarz weiter, dem Gegenbild zu Donkin und Podmore, zeige sich ebenso Conrads Angst, daß Wortgewandtheit zu Korruption führt. Darin ist ihm sicher zuzustimmen.

Um den Verlust des Glaubens, mit Worten die Welt beschreiben zu können, geht es Reeves. (46) Diesen Verlust setzt er in Beziehung zu der Erzählstruktur von Conrads Werken, in denen ein Erzähler, vor allem Marlow, mit Worten ringt, um das Unerzählbare zu erzählen. Zwischen den Menschen versagt die Sprache als Kommunikationsmittel. "Men participate in a collective of linguistic struggle and are bound together more by the tragic inadequacy of language than by any conceivable eloquence." (47) Als Beispiel führt Reeves die Schilderung Londons als Stimmengewirr (vgl. Kapitel 3.7) an und dessen Ausdünstungen, die er die Physikalisierung von Sprache nennt. Und was ist die physikalische Form von Sprache anderes als die Stimme? "What human voices share is not denotative power but a common source in pain and desire, the breath of a constantly externalizing passion." (48)

Wenn Kommunikation überhaupt möglich ist, so nicht über Worte, sondern über die gemeinsamen Schmerzen und Sehnsüchte, die sich in der Stimme niederschlagen.

Deutet Schwarz Stimme bei Podmore als Unvermögen zur Kommunikation, so sieht Reeves bei dem Signifikanzverlust der Wörter gerade in der Stimme die Chance zur Kommunikation. Hier zeigt sich schon die Ambiguität von Stimme, die uns im folgenden noch häufiger beschäftigen wird.

Griem versammelt Beobachtungen über Auflösung von Konturen der Sprecher, über die Verschmelzung von Stimmen und Naturgeräuschen oder über das Zurücktreten der Denotation vor der Stimme. Sie zieht jedoch keinerlei interpretatorische Konsequenzen aus ihren Beobachtungen außer der (doch recht banalen) Bemerkung, daß Conrad durch die Parallelisierung natürlicher Phänomene (Stimme des Sturms, der See) und sozialer Phänomene (Stimmen der Crew) "einen Bedeutungsraum eröffnet, der die realistisch anmutende Detailfülle der Beschreibungen des Lebens auf See durch eine ins Allgemeinmenschliche oder gar Kosmische weisende Dimension ergänzt." (49)



42) H.M. Daleski, Joseph Conrad: The Way of Dispossession (London: Faber and Faber, 1977)
43) Ian Watt, "Conrad Criticism and The Nigger of the 'Narcissus'," NN: 239-258.
44) Jakob Lothe, "Variations of Narrative in The Nigger of the Narcissus", Conradiana 16/3 (1984): 215-224.
45) Daniel R. Schwarz, "The Necessary Voyage: Voice and Authorial Presence in The Nigger of the 'Narcissus'", Modern British Literature 3 (1978): 35-47.
46) Charles Eric Reeves, "A Voice of Unrest: Conrad's Rhetoric of the Unspeakable", Texas Studies in Literature and Language 27/3 (1985): 284-310.
47) Ebd., 296.
48) Ebd., 297.
49) Julika Griem, Brüchiges Seemannsgarn: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Werk Joseph Conrads, ScriptOralia (Tübingen: Narr, 1995) 126.

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3.1 James Wait

James Wait taucht zuerst als Stimme auf. "Wait" ruft er mit tiefer Stimme. Alles erstarrt, und Mr. Baker ist wütend, weil er bei seiner Musterung unterbrochen wird. Erst dann werden alle auf den großen Menschen aufmerksam, der im Schatten steht. " A surprised hum - a faint hum that sounded like the supressed mutter of the word 'Nigger' - ran along the deck and escaped out into the night." (NN,S.10) Nachdem James Wait sich als Stimme eingeführt hat, bevor sein Körper überhaupt sichtbar war, wird er nun von den Stimmen der Crew gegrüßt. Dies erinnert an eine Opernszene mit dem Schiff als Bühne, auf dem die Seeleute zuerst einzeln ins Licht treten, sich vorstellen, um dann wieder im Dunkel zu verschwinden. Dann tritt der Hauptakteur auf; die ganze Szene erstarrt. Und schließlich bestätigt der Chor der Stimmen seine Wichtigkeit.

Der Name Wait kann vielschichtig gedeutet werden. Zuerst und am offensichtlichsten von to wait gleich 'warten' abgeleitet. Am Anfang verschafft ihm sein Name einen großen Auftritt, da er gleichsam die Zeit anhält, bis sich herausstellt, daß er nur seinen Namen gerufen hat. Am Ende warten alle darauf, daß er stirbt, da sie glauben, daß sein Tod das Warten auf Wind beendet.

Außerdem läßt er sich von der Crew bedienen (Wait von to wait upon somebody). (50) Und schließlich wurde sein Name als Homophon gesehen, im Sinne von weight ('Bürde', 'Last'). (51) Er ist die Bürde des Schiffes ("I belong to the ship" NN,S.10). Von dieser Last befreit, atmet das Schiff auf und nach langer Flaute kommt der Wind wieder. "The ship rolled as if relieved of an unfair burden; the sails flapped". (NN,S.99)

James Wait behauptet, ein sterbender Mann zu sein. Er arbeitet wenig, dann gar nichts mehr, läßt sich pflegen, aber weigert sich, Medizin einzunehmen. Als das Schiff im Sturm kippt, wird er eingeschlossen und von einem Teil der Mannschaft befreit. Er wird zunehmend schwächer und stirbt schließlich. Dies wäre die Geschichte Waits in Grundzügen, doch darüber hat Conrad ein Netz von Unsicherheiten gelegt. War James Wait schon krank, als er auf die "Narcissus" kam oder spielte er nur den Kranken, um sich vor seiner Arbeit zu drücken und wurde dabei krank? Diese Frage läßt sich aus dem Text nicht beantworten, wohl aber wird erkennbar, daß Wait, auch als er schon im Sterben liegt, immer noch glaubt, er spiele nur den Kranken. Darum ist er auch Donkin so freundlich gesonnen, obwohl dieser ihn als Drückeberger beschimpft. Nur so kann er seine Lebenslüge aufrechterhalten und weiterhin die Wahrheit seines Sterbens leugnen. Die Crew dient ihm als Publikum, denn nur Publikum kann ihm die Sicherheit geben, daß er schauspielert.

Nicht nur James Wait hat entsetzliche Angst vor dem Tod, auch die Mannschaft. "It was just what they had expected, and hated to hear, that idea of a stalking death, thrust at them many times a day like a boast and like a menace by this obnoxious nigger." (NN,S.22)

Aus Angst vor dem Tod verstummen ihre Lieder, und sie flüstern nur noch. Voller Mitleid erfüllen sie Wait jeden Wunsch, doch es ist kein Mitleid, das aus Mitgefühl für einen leidenden Nächsten entsteht, sondern ein narzißtisches Mitleid, geboren aus dem Wunsch, Wait nicht sterben zu sehen und nicht mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden. "The latent egoism of tenderness to suffering appeared in the developing anxiety not to see him die." (NN,S.85) Es ist ein Mitleid, das die Mannschaft korrumpiert und, durch Donkin angeheizt, an den Rand der Meuterei bringt. Deshalb hassen sie Wait, aber sie retten ihn dennoch während des Sturms unter Lebensgefahr. "...for though at that time we hated him more than ever - more than anything under heaven - we did not want to lose him." (NN,S.44)

Erst nach einer langen Flaute, als der Hunger und das Heimweh übermächtig werden, wünschen sie sich Wind, obwohl sie glauben, daß Wait beim ersten Anblick des Landes sterben wird, so wie Singleton es vorausgesagt hat und wie es schließlich auch geschieht.

Warum hat Conrad ausgerechnet einen Schwarzen als Hauptfigur gewählt? Hawthorn meint dazu: "...if anything symbolized contradiction and unclarity in the late Victorian popular mind it was the figure of the Negro." (52) Der Schwarze als Projektionsfigur also für die unterschiedlichsten rassistischen Vorstellungen; z.B. impliziert nach Hawthorn der Stereotyp des Schwarzen kindisches Verhalten, leidenschaftliche Stimmungsschwankungen, Autoritätsunterwürfigkeit und Faulheit sowie übertriebene Beredsamkeit. Ein Objekt also des sentimentalen Mitleids wie auch des rassistischen Abscheus. Beides findet sich in der Figur James Waits, der sich nicht als individueller Charakter darstellt, sondern als eine leere Hülle, in die die Mannschaft ihre Ängste hineinprojiziert. Conrad meinte dazu im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe des Nigger of the "Narcissus": "... he is nothing: he is merely the centre of the ship's collective psychology and the pivot of the action." (53)

James Waits Stimme ist "deep", "ringing", "sonorous" und "clear". "He enunciated distinctly, with soft precision. The deep, rolling tones of his voice filled the deck without effort." (NN,S.10) Wie ein Schauspieler oder Sänger hat er eine präzise Aussprache und eine tragende Stimme, die auch noch die letzten Reihen erreicht. Ab und zu wird er von Hustenanfällen geschüttelt, die laut, hohl und metallisch klingen. Dies symbolisiert die Bedrohung des Todes, die die Mannschaft in ihm sieht. Es ist kein Wunder, daß Waits Husten so hohl klingt, denn er ist innerlich leer, wie wir später noch sehen werden.

Während der Rettungsaktion schreit Wait wie eine gequälte Frau und brüllt, als würde er ausgepeitscht. Auch hier ist die Lautstärke seiner Stimme beeindruckend. Er überanstrengt sie allerdings und kann dann nur noch flüstern. Als er sich wieder erholt hat, ist sie wieder laut und kräftig, doch sein Luftschnappen nimmt ebenso zu wie plötzliches Versagen der Stimme. Doch bis kurz vor seinem Tod ist seine Stimme klar und laut, und es gilt, was der Erzähler schon ganz am Anfang sagt: "...to hear him speak sometimes you would never think there was anything wrong with that man..." (NN,S.24)

Im 5. Kapitel spricht er nur noch mit schwacher Stimme, der durchdringende Schall ist weg; dies ist durch seinen körperlichen Verfall hinreichend zu erklären. Im Unterschied dazu verliert Kurtz seine durchdringende Stimme auch im Sterben nicht. Woran das liegt, wird in Kapitel 4.2 zu untersuchen sein.

Letztendlich verliert Wait seine Stimme völlig und flucht und droht, ohne daß ein menschlicher Laut über seine Lippen kommt, seine Stimme wird zum Raunen des Windes.

...and hollow, moaning, whistling sounds filled the cabin with a vague mutter full of menace, complaint and desolation, like the far-off murmur of a rising wind (...) he denied, cursed, threatened - and not a word had the strength to pass beyond the sorrowful pout of those black lips. It was incomprehensible and disturbing, a gibberish of emotions, a frantic dumb show of speech... (NN,S.93)

Zwar hat er seine Eloquenz noch, doch die Stimme versagt. Sein letzter Atemzug wird als Naturmotiv beschrieben, ein Geräusch, das sich nun auch vom menschlichen Stimmapparat (Lunge, Brustkorb, Kehlkopf...) gelöst hat und von selbst entsteht. "... a sound like the rustle of a single dry leaf driven along the smooth sand of a beach. It shaped itself." (ebd.)

Waits Körper wird - im Gegensatz zu seiner Stimme - schon von Anfang an als sterbender, ausgezehrter Körper beschrieben. Die Mannschaft sieht also etwas anderes als was sie hört. Soll sie ihren Augen oder ihren Ohren trauen? Skelett wird Wait zweimal genannt, das erste Mal schon kurz, nachdem er an Bord gegangen ist. Dies ist ein subtiler, vereinzelter Hinweis darauf, daß er womöglich doch schon als kranker Mann an Bord kam. Als die Männer den ohnmächtigen Wait aus seiner überfluteten Kammer befreit haben, häufen sich die Beschreibungen eines leeren Menschen. Sie haben das Gefühl, eine Puppe unterm Arm zu haben, die ihr halbes Sägemehl verloren hat, oder ein leeres Faß, das sie übers Deck schleppen. (NN,S.44) Später erhalten wir einen kurzen Einblick in Waits Gedanken, in denen er sich als "empty man" empfindet. (NN,S.69) Belfast schließlich sagt von ihm: "I've put him to bed ... an' he ain't no heavier than an empty beef-cask." (NN,S.81)

Später verliert Wait seine Körperlichkeit völlig, er schrumpft und wird zusehends immaterieller.

Der Kontrast zwischen lauter Stimme und ausgezehrtem Körper ist ein ästhetisches Mittel, das zur Unsicherheit beiträgt, die die ganze Figur James Waits umgibt. Er ist faszinierend, den Männern unverständlich, seine Stimme schlägt sie in Bann, und sie fragen sich, ob er nur simuliert. Doch sein ausgemergelter Körper spricht eine andere Sprache. Erst im letzten Kapitel stimmen Körper und Stimme wieder überein, zeigen und verlauten einen todkranken Mann.

Warum wird James Wait als ausgezehrt, hohl und immateriell beschrieben? Gibt es noch einen anderen Grund außer Krankheit anzuzeigen und dadurch die Ambiguität des Charakters mit der gesunden Stimme und dem kranken Körper zu symbolisieren?

Manicom deutet Waits Hohlheit als Christusparodie. (54) Doch dafür liefert der Text meiner Meinung nach keinerlei sonstige Hinweise, die eine solche Parallele zuließen, vor allem da James Wait wohl gerade kein definitives Symbol sein soll, sondern Projektionsfläche für die Ängste der Mannschaft. Projektion ist ein Fachbegriff aus der Psychologie für den inneren Abwehrmechanismus des Menschen, der ihn seine verbotenen oder als unmöglich empfundenen Wünsche auf eine andere Person projizieren läßt. (55)

Die Individualität des Menschen, auf den etwas projiziert wird, ist nicht interessant. Man könnte sagen, er ist nur eine Art Oberfläche. Insofern ist es nur konsequent, daß Wait innerlich hohl ist. Außerdem ist seine Hohlheit wohl auch ein moralisches Werturteil. Ihm fehlt Mut, Würde und "restraint", ebenso wie den Pilgern aus Heart of Darkness. (Vgl. Kapitel 4.3)

Vielleicht spricht Wait deshalb so laut, um seine innere Hohlheit zu verbergen, im Sinne des englischen Sprichwortes "The more hollow the vessel, the louder the sound." Dieses Sprichwort liegt auch dem Shakespeare-Zitat zugrunde, das ich dieser Arbeit als Motto vorangestellt habe. Außerdem ist ein hohler Körper der ideale Resonanzkörper für die Stimme, die in ihrer Lautstärke die Mannschaft glauben läßt, Wait sei gar nicht krank.



50) Vgl. Wilfried S. Dowden, Joseph Conrad:The Imaged Style (Nashville: Vanderbuilt University Press, 1970) 52.
51) Vgl. Albert J. Guerard,"The Nigger of the 'Narcissus'", NN: 227.
52) Jeremy Hawthorn, Joseph Conrad: Narrative Technique and Ideological Commitment (London: Arnold, 1990) 102.
53) Joseph Conrad,"To my readers in America", NN: 168.
54) Vgl. David Manicom, "True Lies/False Truths: Narrative Perspectives and the Control of Ambiguity in The Nigger of the "Narcissus'", Conradiana 18 (1986): 115.
55) Vgl. Lexikon der Psychologie, (Ed.) Wilhelm Arnold u.a. 3 Bde., 2. Aufl. (Freiburg u.a.: Herder, 1987) 2: s.v. Projektion.

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3.2 Donkin
Der Name Donkin weist seinen Träger als Mitglied der Arbeiterklasse aus, denn der Esel (donkey) oder das Maultier (mule) wurden schon bei Aristophanes und Lukian als Symbol der arbeitenden Schicht verwendet. (56) Auch seine Sprache, eine Art Cockney oder was Conrad dafür hielt, verweist auf die Arbeiterklasse. (57)

Donkin ist "filthy", ein Adjektiv, das häufig in Verbindung mit ihm gebraucht wird und das nicht nur auf ein extrem schmutziges Äußeres verweist, sondern auch einen gemeinen Charakter und eine anstößige Sprache implizieren kann. Er wird vom Erzähler als der Typus des faulen Seemanns geschildert, wie er auf jedem Schiff anzutreffen ist. "They all knew him." (NN,S.6) Einer, der faul ist und seine Arbeit schlecht macht, der aber seine Rechte genau kennt, von Mut und Solidarität jedoch nichts wissen will.

Er ähnelt einem Vogel. "...his shoulders were peaked and drooped like the broken wings of a bird..." (NN,S.5) Seine weißen Wimpern und roten Lider lassen an einen Geier denken, was der Text im vierten Kapitel auch bestätigt. "Donkin,(...) hunched his shoulder blades as high as his ears, and hanging a peaked nose, resembled a sick vulture with ruffled plumes." (NN,S.79) An Jimmys Sterbebett schließlich, läßt er sich wartend auf dessen Truhe nieder und kann doch nicht ganz Jimmys Tod abwarten, bevor er ihn ausraubt, so wie Geier manchmal den Tod ihrer Beute nicht abwarten, bevor sie anfangen, sie zu zerreißen.

Doch im Unterschied zu Geiern, die laut Encyclopedia Britannica keine Stimme haben, weil ihnen die Syrinx, der untere Kehlkopf bei Vögeln, fehlt, hat Donkin eine hohe und weinerliche Stimme, deren Qualität von Verben wie "squeak", "whine", "screech", "whimper" oder "yelp" reflektiert wird. Seine Stimme entlarvt ihn schon früh als den Feigling, als der er sich im Sturm präsentieren wird. Während die anderen Seeleute den Befehl des Captains, den Mast nicht zu kappen, schweigend hinnehmen, flucht und schreit Donkin "in filthy words". (NN,S.37) Seine Stimme drückt viel Emotionalität aus, so wie die Podmores (vgl. Kapitel 3.5).

Außer weinerlich und hoch ist Donkins Stimme häufig leise zischelnd. Die entsprechenden Verben sind "murmur", "mumble", "whisper", "hiss". Diese Stimmqualität verweist auf seine Rolle als verführerischer Demagoge, der die Mannschaft zur Meuterei anstachelt. Wie Kurtz in Heart of Darkness ist Donkin sehr redegewandt. Die Mannschaft, die ihn immer als Außenseiter behandelt hat, ist nun, nach der akuten Bedrohung durch den Sturm, fasziniert von Donkins Reden. Obwohl sie ihn noch immer verachten, können sie sich doch der Wahrheit seiner Behauptungen nicht entziehen. Donkin spricht "with ardour, despised and irrefutable. His picturesque and filthy loquacity flowed like a troubled stream from a poisened source." (NN,S.62) Mit genau denselben Metaphern aus dem Bereich des Wassers wird die Beredsamkeit von Kurtz geschildert, wie wir später noch sehen werden. Als die Mannschaft am Ende des Romans an Land gegangen ist, bemerkt der Erzähler noch über Donkin: "And Donkin, who never did a decent day's work in his life, no doubt earns his living by discoursing with filthy eloquence upon the right of labour to live." (NN,S.107)

Die Faszination, die Donkin auf die Crew ausübt, hat nichts mit seiner Stimme zu tun, sondern liegt in dem, was er sagt. Hierin unterscheidet er sich von Kurtz, dessen Stimme von einer Aura der Faszination umgeben ist, die sich nicht aus dem, was er sagt, erklärt.

In der Verurteilung der immoralischen Eloquenz Donkins, der jedoch auch als "consumate artist" (NN,S.61) bezeichnet wird, zeigt sich Conrads ambige Haltung gegenüber Wortgewandtheit. Einerseits diffamiert er Redegewandtheit und setzt ihr seinen Glauben an Arbeit entgegen (wie an dem Gegensatzpaar Arbeit / Eloquenz in dem letzten Zitat über Donkin ersichtlich ist), andererseits ist er als Schriftsteller ja auf Redegewandtheit angewiesen. (58)

Als die Mannschaft an Land geht und die Löhne ausgezahlt werden, erscheint Donkin dem Angestellten als respektabler, intelligenter Mann. Hier an Land erhebt Donkin auch zum ersten Mal die Stimme, ohne in Panik zu schreien oder höhnische Verwünschungen auszurufen. Stolz sagt er zum Captain, er pfeife auf den Lohn und auf die See. Daß der schmutzige und faule Donkin an Land auf einmal respektabel erscheint, ebenso wie der schweigsame, hart arbeitende Singleton an Land dumm und widerlich wird, trägt zu der Kontrastierung zwischen der Helligkeitsmetaphorik, die der See zugeordnet wird, und der Dunkelheitsmetaphorik des Landes bei. Diese Dichotomie durchzieht den gesamten Roman, wobei der Erzähler dabei in einer merkwürdigen Verkennung der Tatsachen bleibt, da auch auf See nicht immer alles so hell und vorbildlich war, schließlich verhält sich die Mannschaft gegenüber James und bei der Beinahe-Meuterei alles andere als vorbildlich.



56) Vgl. Aaron Fogel, Coercion to Speak: Conrad's Politics of Dialogue (Cambridge,Mass.: Harvard University Press, 1985) 80.
57) Chapman hält die Repräsentation für schlecht. Vgl. Chapman 1984, 71.
58) Vgl. dazu ausführlich Ray 1984.

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3.3 Singleton

Singleton ist der älteste Seemann an Bord der "Narcissus". Mit seiner tätowierten Brust, seinen Muskeln, seinem sonnenverbrannten Gesicht und seinem langen weißen Bart ähnelt er einem "learned and savage patriarch, the incarnation of barbarian wisdom". (NN,S.3) Doch diese Weisheit ist keine, die durch Nachdenken entstanden ist, sondern durch Hingabe an seine Berufung als Seemann und durch jahrzehntelanges Lauschen auf die donnernden Wellen der See. Er ist sich dieser Weisheit nicht bewußt. "The wisdom of half a century spent in listening to the thunder of the waves had spoken unconsciously through his old lips." (NN,S.14) Er tut seine Arbeit, "meditative and unthinking, (...) a sixty-year-old child of the mysterious sea. The thoughts of all his life-time could have been expressed in six words." (NN,S.16)

Hawthorn hat Probleme mit dieser Charakterisierung Singletons. "How can a person be 'meditative' and 'unthinking'?", fragt er sich. (59) Conrad mit seinem untrüglichen Gespür für Polyphone meint hier meditative wohl im Sinne von 'meditativ', nicht von 'nachdenklich'. Und Meditation ist ja gerade der Versuch, die Gedanken ruhen zu lassen, also ist das Wort auf Singleton sehr zutreffend. Dieses Mißverständnis hat Conrad meiner Ansicht nach schon im Namen Singletons problematisiert. Jemand, der nicht genau hinhört oder hinsieht, könnte sehr leicht "simpleton", also Einfaltspinsel verstehen. Doch wer genauer hinsieht, sieht Singleton, ein einzelner Ton, der klar und einfach ist im wilden Geschrei, im "chaos of speech", das um ihn herum herrscht.

Treffend ist allerdings Hawthorns Beobachtung, daß "unthinking" bei Singleton eine Tugend ist, bei James jedoch verurteilt wird. (60) "...the unthinking stillness of a scared brute." (NN,S.72)

Singleton spricht kaum. Mit seinem Freund, einem beinahe ebenso alten Seebären, wechselt er kaum drei Worte am Tag. Die beiden gehören der Generation an, die Conrad folgendermaßen beschreibt: "Voiceless men - but men enough to scorn in their hearts the sentimental voices that bewailed the hardness of their fate." (NN,S.15) Männer ohne Stimme also, die die inneren Stimmen der Verzagtheit und Mutlosigkeit mit Verachtung strafen. Ganz anders die junge Generation, die gelernt hat, ihre Stimme zu erheben. "...and if they have learned how to speak they have also learned how to whine." (ebd.) Mit den Verben "bewail" und "whine" hat Conrad zwei Verben ausgewählt, die Weinerlichkeit ausdrücken. Dies erinnert vor allem an Donkins Stimme, aber auch die Mannschaft klagt manchmal wie jammrige Kinder.

Erhebt der schweigsame Singleton einmal die Stimme, so verstummt die Mannschaft vor Ehrfurcht und mißt seinen Worten große Bedeutung bei. Er wirkt wie die allegorische Figur der Zeit, die über der Zeit steht, denn er wird für die Männer zum Orakel. "He chewed words, mumbled behind tangled white hairs; incomprehensible and exciting, like an oracle behind a veil.ä (NN,S.80) Er schlägt nicht nur die Brücke zur Zukunft, sondern auch zur Vergangenheit. "They heard his voice rumble in his broad chest as though the words had been rolling towards them out of a rugged past." (NN,S.79)

Seine Stimme wird als heiser beschrieben, und die drei Verben, die am häufigsten seine Stimmqualität reflektieren, sind "croak", "growl" und "groan". Dies weist einmal auf seine körperliche Verfassung, nämlich seine Erschöpfung hin, nachdem er 30 Stunden am Ruder gestanden hat, sowie auf sein Alter und seine Stimmung (er ist wütend auf sich, weil er von der schweren Arbeit erschöpft ist und sich alt fühlt). Wieder hört er die Stimme der See, doch diesmal spricht sie nicht voll Weisheit zu ihm, sondern ungeduldig sein Leben und seine Kraft fordernd. (Vgl. NN,S.61)

Doch wie die ganze Gestalt Singletons zur Allegorie der Zeit und der Weisheit wird, so läßt sich auch seine Stimme als über das Individuelle hinausweisend verstehen. Das heisere Krächzen erinnert an einen Raben, und der Rabe war schon immer ein Sinnbild der Weisheit. Man denke nur an Odins Raben Hugin und Munin. Außerdem symbolisiert der Rabe noch das Nahen des Todes und ist ein Vorbote schlechten Wetters. (61) Das Brummen ("growl") erinnert an einen Bären, der Stärke symbolisiert. Als Singleton beginnt, seine Kräfte zu verlieren, ist er verwirrt. So kann man ihn brummen hören, als er völlig erschöpft in seine Koje steigt: "...growling angrily, like an irritated and savage animal in its den..." (NN,S.60)

Hier wird Singleton zwar auch mit einem Tier verglichen, doch wählt Conrad das neutrale Substantiv "animal", während er für James das pejorative "brute" nimmt.

Zur "brute" wird Singleton allerdings in der Sicht des Büroangestellten, weil er nicht schreiben kann. "'What a disgusting old brute', muttered the clerk." (NN,S.105) Doch dies gehört zur Diffamierung des Landes, wie im vorigen Kapitel beschrieben.



59) Vgl. Hawthorn 1990, 109.
60) Vgl. ebd., 110.
61) Vgl. Brewer's Dictionary of Phrase and Fable, 14. Aufl. (London: Cassell, 1989) s.v. raven.

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3.4 Captain Allistoun

Der Captain der "Narcissus" ist ein ernster Mann mit grauen Augen und grauem Haar. Wie ein ruheloser Geist erhebt er sich des Nachts und wacht über seinem Schiff; auch seine Augen sind ruhelos. So wie er selbst keine Ruhe finden kann, verweigert er seinen Männern Erholung. Sein größter Wunsch ist es, einmal eine außergewöhnlich schnelle Passage zu machen, die in der Fachwelt Aufsehen erregen würde.

Wie Singleton spricht er kaum, steht stumm und wachsam unter dem Sternenhimmel, und wie Gott hört und sieht er alles, was auf seinem Schiff vorgeht. Sein Blick ist durchdringend, mit der Macht seiner Augen scheint er im Sturm das Schiff auf Kurs zu halten.

Seine Stimme ist sanft ("gentle"), doch seine Worte können verletzen. "He (...) spoke but seldom to his officers, and reproved errors in a gentle voice, with words that cut to the quick." (NN,S.19) Im Unterschied zu allen anderen Charakteren an Bord sind die Verben, die Allistouns Sprechen kennzeichnen, meist unmarkiert; sie sagen nichts über die Stimmqualität aus: "say", "order", "pronounce". Wenn doch etwas über die prosodischen Eigenschaften seines Sprechens ausgesagt wird, dann über die Lautstärke. Seine Stimme ist normalerweise sanft und eher leise. Im Sturm schreit er seine Befehle laut und deutlich, z.B. daß der Mast nicht gekappt werden soll. Nach dem zweitägigen Sturm, in dem er sich keine Ruhepause gegönnt hat, kann er, wie sein Erster Offizier Baker, nur noch flüstern. Doch schon kurz darauf, als er James anweist, für den Rest der Fahrt in seiner Kajüte zu bleiben, hat er seine Stimme wieder unter Kontrolle. Auch während der Beinahe-Meuterei bleibt er gelassen. Erst am nächsten Morgen läßt er die erregte Crew antreten und stutzt sie zurecht. "...began to storm at them coldly, in gusts violent and cutting like the gales of those icy seas that had known his youth." (NN,S.83) Die Wörter "storm", "gusts" und "gales" sind einer Metaphorik zugehörig, die Conrad sonst nur dem Sturm zuordnet. Also nimmt hier die Stimme des Captains Merkmale des Sturms an, sie ist ebenso verletzend und schneidend. Damit wird Allistoun zu einer Naturgewalt, vor der die Mannschaft verstummen muß, wie sie vor James verstummt, der die Naturgewalt des Todes symbolisiert und vor Singleton, der Weisheit und Alter verkörpert.

3.5 Podmore

Podmore, der Koch der "Narcissus" ist sehr fromm, und er hält sich für den religiösen Fürsorger der Mannschaft. Um das Seelenheil der Leute bedacht, fängt er sofort an zu predigen, wenn er einige beisammenstehen sieht. Als der Rumpf der "Narcissus" umgeworfen ist und die Crew bewegungslos und erschöpft in den Seilen hängt, gelingt es Podmore, in die Küche zu kommen und Kaffee zu kochen, der die Mannschaft wärmt und ihnen ihren Lebensmut zurückgibt. Sein Satz "As long as She swims I will cook!" (NN,S.52) wird zum geflügelten Wort für die Crew.

Die Verben, die am häufigsten Podmores Stimmqualität kennzeichnen, sind "yell" und "groan". Er schreit und stöhnt also viel. Er ist sehr enthusiasmiert bei allem, was er spricht, da er über seine Stimme die Herzen der Crew erreichen will.

Eines Abends sucht er James Wait in seiner Kabine auf, um ihn, der ja so kurz vor dem Tode steht, zum Glauben zu bekehren und seine Seele zu retten. Da Wait sich aber immer noch vormacht, er spiele nur den Kranken, um sich vor der Arbeit zu drücken, jagt Podmore ihm natürlich im wahrsten Sinne des Wortes einen Heidenschrecken ein.

Der Koch sieht sich selbst als Stimme. "He was a voice - a fleshless and sublime thing, as on that memorable night - the night when he went walking over the sea to make coffee for perishing sinners." (NN,S.71) Hier werden die Gedanken Podmores direkt abgebildet und damit wird er der Lächerlichkeit preisgegeben, der sich als eine Art Jesus darstellt, der übers Wasser wandelt, um Kaffee zu machen. Auch vermischt Podmore hier zwei biblische Ereignisse, nämlich wie Jesus übers Wasser zu gehen und die körperlose und erhabene Stimme Gottes, die aus der Wolke (Mt 17,5) oder aus dem Feuer (Dtn 5,24) spricht. Podmore stellt sich dadurch, daß er sich als Stimme versteht, in eine religiöse Tradition. Ebenso steckt jedoch der Gedanke Conrads dahinter, daß ein Mensch, der seinen Kommunikationspartner nicht mehr wahrnimmt und trunken in seine Worte verliebt ist, sich selbst auf seine Stimme, also auf die äußere Lautgestalt, Worte ohne Inhalt, reduziert. (Vgl. die Darstellung der Position von Schwarz am Anfang von Kapitel 3) Auf Podmore trifft die Aussage Domelens über den Russen in Heart of Darkness fast noch besser zu: "He is (...) a dreamer intoxicated by the sound of his own voice." (62)

Beißende Ironie des Erzählers trifft Podmore, denn als er seine Stimme "in a roaring torrent" erhebt, wieder eine Sturmmetapher, rennen die beiden Kakerlaken, die bisher auf Waits Lampe saßen, weg. (Vgl. NN,S.71) Eine praktische Eigenschaft für einen Koch, das Ungeziefer über seine Stimme zu vertreiben!

Podmore wird vom Erzähler nicht nur lächerlich gemacht, sondern auch diabolisiert. Seine Überheblichkeit wird als "infernal fog" (ebd.) bezeichnet; die Atmosphäre, die Podmore in Waits Kabine hervorruft, ist "an atmosphere of shrieks and moans" (NN,S.72). "...prayers vociferated like blasphemies and whispered curses." (ebd.) Dann wechselt die Erzählperspektive zu den Männern, die vor der Kajüte stehen und folgendes hören: "...an impassioned screeching babble where words pattered like hail." (ebd.) Wieder zeigt sich die emotionale Aufgewühltheit Podmores ("impassioned", ein Wort, das auch Donkins Sprechen charakterisiert), seine kreischende Stimme. Da der semantische Gehalt der Worte zum Geplapper reduziert ist, bleibt nur noch die Lautgestalt der Worte, die durch die Stimme produziert werden. Die Stimme Podmores ist greifbar und verletzend geworden wie Hagelkörner. James Wait fühlt sein Leben bedroht durch diese Stimme und schreit "Murder! Help!" (ebd.)

Die Figur Podmores zeigt, wie Conrad die Stimme einer seiner Figuren als Mittel nimmt, um diese der kompletten Lächerlichkeit preiszugeben, indem er die Gedanken Podmores über seine erhabene körperlose Stimme mit der gnadenlosen

Diffamierung durch den Erzähler kontrastiert. Doch mag Podmore auch lächerlich gemacht werden, die Stimme wird es nicht, sie ist bedrohlich und kann sogar töten. Die Stimme hat Macht.



62) John E. van Domelen, "Conrad and the Power of Rhetoric", Conradiana 8 (1976): 172.

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3.6 Die Crew

Die Crew präsentiert sich von Anfang an als Stimmengewirr. Die Männer treten eher als sinnliche denn als körperliche Präsenz in Erscheinung. Vor allem beim Anmustern werden sie durch ihre unterschiedlichen Stimmen charakterisiert, nicht durch ihr Aussehen. "They answered in divers tones: in thick mutters, in clear, ringing voices; and some (...) used an injured intonation." (NN,S.9) Griem interpretiert den unterschiedlichen Tonfall der Männer als Vorandeutung kommender Konflikte. (63) Dies scheint mir doch etwas weit hergeholt. Conrad erreicht über seine Stimmbeschreibung eine schnelle Charakterisierung unterschiedlicher Temperamente, für die er mit einer visuellen Beschreibung mehr Platz gebraucht hätte. Würden alle Männer in demselben Tonfall antworten, so wäre das eher auffällig und erschreckend unnatürlich.

Um die Stimmqualität der Mannschaft einzufangen, verwendet Conrad viele verschiedene Verben. Nur Baker, dem Ersten Offizier, ist fast immer "grunt" zugeordnet. Der Laut wird sogar häufiger mimetisch repräsentiert, was bei Conrad so gut wie nie vorkommt, und zwar als "ough". Auch wenn Baker damit grunzt wie ein Schwein, so läßt sich daraus doch keine Parallele zu seinem Charakter herstellen. Seine Stimme verweist also nicht auf ein Tier, sondern eher auf brummige Entschlossenheit, die Leute zur Arbeit anzuhalten; auf jemanden mit rauher Schale, aber weichem Kern.

Viermal verstummen die Stimmen der Mannschaft: vor James Wait, vor Singleton, vor dem Sturm und vor dem Captain. Ansonsten wird ihr Sprechen als "stormy chaos of speech" (NN,S.79) charakterisiert und damit auch als Naturgewalt. Eine besondere Beziehung zur Sonne scheint einer der zwei Norweger an Bord zu haben, der seine Stimme zu der untergehenden Sonne erhebt und auf sie einredet, als würde er mit Gott um sein Leben ringen. Als die Sonne verschwindet, verlöscht die Stimme. (Vgl. NN,S.46) Die Stimmqualität wird vom Erzähler als "chatter" bezeichnet, also schnelles, auch tierähnliches Geplapper. (Conrad beschreibt fremdsprachiges Sprechen oft als Geplapper.) Hier wird die Stimme in Verbindung zur Sonne gesetzt.

Als Welle erscheint sie an anderen Stellen:

"a ripple of laughter ran along, rose like a wave..." (NN,S.20); "The confused voices of men talking amidships mingled with the wash of the sea, ascended between the silent and distented sails - seemed to flow away into the night, farther than the horizon, higher than the sky." (NN,S.76); "... a loud gust of babbling chatter came from forward, swept over the decks and became faint." (NN,S.77); "...the murmur of voices seemed to pile itself higher and higher as if unable to run out quick enough through the narrow doors." (NN,S.78)

Während die Stimmen der Mannschaft hier als Naturerscheinung synästhetisch sichtbar werden, verschwinden ihre Körper, ballen sich zusammen oder lösen sich in Einzelteile auf. Nach der Musterung ziehen sich die Männer zum Schlafen zurück. Im Schein nur einer Lampe wirken die Kojen der Männer wie "graves tenanted by uneasy corpses." (NN,S.13) Die Körper sind jedoch nicht nur tot, sondern auch zerstückelt. "A leg hung over the edge very white and lifeless. An arm struck out with a dark palm turned up, and thick fingers half closed." (ebd.) Das Gespenstische dieser Szene wird jedoch sofort wieder mit Stimme zum Leben erweckt. "Two light snores, that did not synchronise, quarrelled in a funny dialogue." (ebd.) So tot scheinen die Männer also nicht zu sein, das Auge hat sich wieder einmal getäuscht.

Während der Meuterei, die auch nachts stattfindet, ballen sich die Körper der Leute zusammen, sie erscheinen als Schatten oder in Einzelteilen.

Das Auge ist überfordert, damit verschwinden die Körper für den Betrachter, nur die Stimme bleibt, die gehört und manchmal auch gesehen werden kann.



63) Vgl. Griem 1995, 124.

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3.7 Die Natur

Es ist nicht neu in der englischen Literatur, daß Naturgeräusche, vor allem Wind, Sturm und Meer, mit Verben oder Adjektiven versehen werden, die von der menschlichen Stimme kommen. Chapman führt Beispiele aus den Gedichten Samuel Johnsons, Yeats' oder Tennysons ebenso an wie Beispiele aus den Romanen von Dickens oder Lawrence. Englische Autoren seien wegen ihres Insellebens besonders hingezogen zum "sound of the waves", meint Chapman. (64) Faszinierend bei Conrad ist wieder einmal die Anhäufung solcher Anthropomorphisierungen sowie die Parallelen, die er zwischen menschlichen Stimmen und Naturphänomenen zieht.

Im letzten Kapitel haben wir gesehen, daß er die Stimmen der Mannschaft als Wellen sichtbar macht. Parallel dazu bekommt die See eine Stimme. Sie wispert und brüllt, sie zischt und donnert, sie murmelt und gluckst. Sie spricht zu Singleton, und sie warnt die Mannschaft vor Donkins Demagogieversuchen: "In the pauses of his impassioned orations the wind sighed quietly aloft, the calm sea unheeded murmur in a warning whisper along the ship's side." (NN,S.62)

Als James Wait gestorben ist, erwacht die See schläfrig nach einer langen Flaute und murmelt von der Heimat.

Doch nicht nur die See hat eine Stimme, sondern auch der Wind und der Sturm. Sie seufzen und stöhnen, heulen und brummen. Der Sturm macht ein solches Getöse, daß die Männer einander kaum verstehen. Schreien kommt als Flüstern an. "Singleton (...) yelled out (...) His voice reached them in a warning whisper." (NN,S.35) Der Schrei des Sturms reißt den Männern die Worte vom Munde weg oder treibt den Atem zurück in den Mund.

Die Stimmen der Männer haben keine Chance gegen das Kreischen der Elementargewalten.

Der Ich-Erzähler, der erst auf den letzten Seiten des Romans auftaucht, beschreibt den Kampf der Männer mit dem Sturm als Kampf der Stimmen. "You were a good crowd. As good a crowd as ever fisted with wild cries the beating canvas of a heavy foresail; or (...) gave back yell for yell to a westerly gale." (NN,S.107) Hier klingt es so, als wären die Stimmen der Männer dem Sturm mindestens ebenbürtig gewesen. Ist das eine von Conrads Ungereimtheiten, die ihm immer wieder vorgehalten werden? Oder ist es möglicherweise ein raffinierter Hinweis auf die Verblendung der Mannschaft, die sich ihr eigenes Versagen nicht eingestehen kann?

Als die "Narcissus" England sichtet, begrüßt das Land sie mit einem Schrei. überhaupt präsentiert sich das Land als Laut- und Stimmengewirr:

...it throbbed to the beat of millions of hearts, and from it came and immense and lamentable murmur - the murmur of millions of lips praying, cursing, sighing, jeering - the undying murmur of folly, regret and hope exhaled by the crowds of the anxious earth. (...) ...on all sides there was a clang of iron, the sound of mighty blows, shrieks, yells. (NN,S.101)

Spätestens hier bricht der Kontrast zwischen See und Land, das der Roman durchgängig zu konstruieren sucht, zusammen. Wie wir gesehen haben, ist auch auf See das Getöse des Sturms und das "stormy chaos of speech" der Mannschaft überwältigend.



64) Vgl. Chapman 1984, 142-146.

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3.8 Zusammenfassung

Zur Charakterisierung wird die Stimme bei allen Figuren verwendet, jedoch in unterschiedlicher Weise. Bei James Wait ist vor allem seine laute Stimme auffällig, die an einen Schauspieler denken läßt. Und in der Tat sieht er sich ja auch als Schauspieler, der nur vorgibt, todkrank zu sein. Seine laute, kräftige Stimme, die auf einen gesunden Körper verweist, steht in Kontrast zu seinem tatsächlichen ausgezehrten, skelettartigen Körper. Die Mannschaft muß an einem ihrer Sinne zweifeln, an ihren Augen oder an ihren Ohren. Dies trägt viel zur Ambiguität James Waits bei, der ästhetisch eine Leerstelle bleibt, damit die Mannschaft ihre Ängste auf ihn projizieren kann. Er ist nur die Oberfläche, die Projektionsfläche, aus sich selbst heraus ist er nichts. So ist es nur konsequent, daß er innerlich hohl ist. Die Stimme bei James Wait ist also sein wichtigstes Charakterisierungsmerkmal, das auf mehr verweist, als dies normalerweise eine Stimmbeschreibung leistet.

Einfacher ist die Charakterisierung der Figuren Donkin und Singleton über ihre Stimmen. Beide erhalten eine Stimme, die sie als Individuen erweist mit Ängsten, Tugenden und Lastern, Gesundheitszustand und Alter. Doch die Stimme Singletons weist über ihn hinaus auf Weisheit und Zeitlosigkeit. Donkins Wisperton verweist auf einen Demagogen, der im Verborgenen Unfrieden säht. Seine Stimme drückt wie die Podmores viel Emotionalität aus. Nur bei den beiden wird das Adjektiv "impassioned" verwendet. Dies bestätigt die Parallele, die Schwarz zwischen Donkin und Podmore herstellt als zwei Arten der narzißtischen Sprachverwendung, die Conrad fürchtete.

Die Stimme des Captains ist meist emotionslos, dargestellt durch unmarkierte Verben wie "say" oder "pronounce". Erst als er die Mannschaft zurechtweist, verändert sich die Stimme und nimmt Sturmqualität an. Auch die Stimmen der Mannschaft werden zum Sturm in Verbindung gesetzt, ihre Stimmen werden als Wellen sichtbar, während die Wellen menschliche Stimmeigenschaften erhalten. Durch diese Parallelisierung werden auch die menschlichen Stimmen zu einer unerklärlichen Naturgewalt.

Ironisch sieht Conrad die körperlose Stimme in der Gestalt Podmores, der in seiner Selbstüberschätzung der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Doch nicht die Stimme wird lächerlich gemacht, sondern Podmore selbst. Die Stimme hat die Macht zu verletzen und zu töten.

Fällt die Bedeutung der Stimme als Thema bei The Nigger of the "Narcissus" erst auf den zweiten Blick ins Auge, so stellt Conrad bei Heart of Darkness die Stimme als zentrales Motiv in den Mittelpunkt.


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