Bettina Sorge: Die Stimme bei Joseph Conrad, dargestellt am Beispiel von "The Nigger of the Narcissus", "Heart of Darkness" und "Typhoon"

Einleitung

The man presented himself as a voice.(1)
Die zentrale Bedeutung von Stimme in Heart of Darkness ist auf den ersten Blick ersichtlich. Ein Stimmengewirr schwebt über dem Buch. Beinahe jede Figur erhält eine individuelle Stimme oder kann aufgrund ihrer Stimme einer Gruppe zugeordnet werden. Menschen werden auf ihre Stimmen reduziert: eine Stimme (Marlow) erzählt die Geschichte einer Stimme (Kurtz).

Bildet Heart of Darkness damit eine Ausnahme in Conrads Werk oder läßt sich auch in anderen Werken eine Beschäftigung mit der Stimme feststellen? Ich habe zum Vergleich den zwei Jahre vor Heart of Darkness erschienenen kurzen Roman The Nigger of the "Narcissus" ausgewält, dessen Protagonist James Wait eine sehr laute, aufmerksamkeitserregende Stimme hat, sowie die Novelle Typhoon, in der eine menschliche Stimme göttliche Macht erhält. Läßt sich die Verwendung von Stimme in diesen drei Werken Conrads auf einen Nenner bringen?

Stimme wird in der Literaturtheorie in den verschiedensten Bedeutungen verwendet. Am häufigsten ist wohl der Gebrauch von Stimme im Sinne von Genettes "who speaks", also als narrative voice. (2) Bakhtin spricht vom Roman als einem Netz von Stimmen, die dialogisch miteinander verknüpft sind. (3) Guerard versteht in seinem 1976 veröffentlichten Artikel "The Conradian Voice" noch etwas anderes unter dem Begriff Stimme.

"So we can make this distinction between style and voice, between rhetorical structures and mannerisms that a number of writers share at a particular time, and the very recognisable pace, movement, accent, tonality of a great writer's voice." (4)

Mir geht es jedoch nicht um die von Kritikern konstruierte Stimme des Erzählers oder gar des Autors, sondern um die Stimmen der Figuren in Conrads Werk. Dabei verstehe ich Stimme im Sinne des Oxford English Dictionary als

Sound, or the whole body of sounds, made or produced by the vocal organs of men or animals in their natural action; esp. sound formed in or emitted from the human larynx in speaking, singing, or other utterance; vocal sound as the vehicle of human utterance or expression (...) Sound naturally made by a single person or animal in speech or other form of vocal utterance; these sounds regarded as characteristic of the person and as distinguishing him from another or others; also frequently the individual organic means or capacity of producing sounds. (5)

Noch zwei andere Verwendungen von Stimme nennt das OED, die für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sind:

1. "usages where this sound is taken to represent the person or being who utters it, or is regarded apart from the utterer, f.ex. 'It is I replied the voice'(Radcliffe, Udolpho)". (6) Also die Verwendung von Stimme als Metonymie.

2. "a sound or sounds produced or emitted by something inanimate, as a stream, thunder, the wind etc." (7) Also die Verwendung von Stimme zur Vermenschlichung von Naturphänomenen.

Wie auch in der Definition des OED erwähnt, hat die Stimme eines jeden Menschen eine ganz bestimmte, für sie oder ihn charakteristische Stimmqualität. Dieser "Stimmabdruck", der so individuell ist wie ein Fingerabdruck, kann bei polizeilichen Ermittlungen sogar als Beweismittel eingesetzt werden. Die charakteristische Klangfarbe beruht vor allem auf anatomischen Faktoren (vgl. Kapitel 2.2). Darüber hinaus gibt es jedoch auch eine Augenblicksstimme, die die seelische Verfassung des Menschen preisgibt. Ob er im Zorn laut wird, im Schmerz leise und weinerlich, ob seine Stimme vor Aufregung zittert oder sogar versagt oder ob er vor Freude jauchzt - schon Cicero meinte, daß jede Seelenregung ihren charakteristischen Ausdruck im Tonfall findet. (8)

Der Autor, der die Stimmen seiner Charaktere beschreiben will, sieht sich vor das Problem gestellt, einen auditiven Eindruck mit dem visuellen Medium der Schrift darstellen zu müssen. Die Theaterschriftsteller oder Hörspielautoren haben dieses Problem nicht; es genügt, wenn sie die gewünschte Stimmqualität in den Regieanweisungen festlegen. Den Prosaschriftstellern aber bleibt nichts anderes übrig, als die Stimmen zu beschreiben. Das einfachste Mittel, die Stimme einer Figur verlauten zu lassen, ist natürlich die direkte Abbildung des Dialogs. Dieses Mittel benutzt Conrad häufig; dabei läßt er seine Figuren auch Dialekt sprechen, wie zum Beispiel Donkin. Außerdem bildet er mit Hilfe von Auslassungszeichen und Gedankenstrichen ab, wie der Sturm den Männern die Worte vom Mund wegreißt und beim Hörer nur noch Fetzen ankommen, wie z.B. als Jukes versucht, die Worte seines Captains zu erhaschen. "'Ship ... This ... Never - Anyhow ... for the best.' Jukes gave it up." (9)

Doch bei der mimetischen Abbildung des Dialogs ist noch nichts über die Art und Weise gesagt, wie die Worte gesprochen werden, nichts über die Stimmqualität. Conrad benutzt drei Methoden, um die Stimmqualität zu beschreiben.

Häufig ist er ganz direkt:

"Charley lifted his head and piped in a cheeky voice." (10)
"'No,'cried Jukes, raising a weary, discouraged voice." (T,S.12)

Oder Conrad benutzt ein Verb, das nichts über die Stimmqualität aussagt wie "said", "remarked", "answered" - diese Verben werde ich im folgenden unmarkiert nennen - und ergänzt sie mit einem Adjektiv oder Adverb, das die Stimmqualität festlegt.

"...said Jukes aloud..." (T,S.22)
"...he said, at last, with hoarse tenderness..." (NN,S.56)

Die bei weitem häufigste Methode ist jedoch die Auswahl seiner Verben des Sprechens, die Conrad in einer so enormen Menge und Differenziertheit verwendet, wie es in der Literaturgeschichte vor ihm wohl noch niemals der Fall war. (Vgl. Kapitel 2.3)

Natürlich finden sich auch Mischformen dieser drei Methoden.

Wozu verwendet Conrad nun diese genauen Stimmbeschreibungen?

Er verwendet sie einmal zur genaueren Charakterisierung seiner Figuren. Bei einer Figur wie z.B. Donkin ergänzen sich Stimm- und visuelle Beschreibung in idealer Weise, um den Lesern eine jämmerliche Figur, feige und hinterlistig, vor Augen zu stellen. Manchmal gelingt es, mit Hilfe von Stimmbeschreibungen Parallelen zwischen Figuren aufzuzeigen, die ohne Berücksichtigung der Stimme unsichtbar blieben, wie z.B. die Parallele zwischen den Pilgern und der Besatzung der "Nellie" in Heart of Darkness. Doch nicht nur Menschen haben bei Conrad eine Stimme, sondern auch die Natur, die die Menschen umgibt.

Dies ist ein häufiges Phänomen in der Literatur, das wohl aus der Sehnsucht des Menschen herrührt, den unerklärlichen Naturereignissen, die ihn umgeben und die er nicht versteht, eine menschliche Stimme zu verleihen. Interessant an Conrad ist, wie er die Stimme einsetzt, um die Verwandtschaft zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Natur aufzuzeigen. Hier wird schon deutlich, daß bei Conrad Stimme nicht nur als ästhetisches Mittel z.B. zur Charakterisierung eingesetzt wird, sondern daß Stimme auch mehr und mehr zum Thema wird. Diese Aspekte Charakterisierung, Anthropomorphisierung und Stimme als Thema lassen sich methodisch nicht isolieren, deshalb werde ich von den Romanfiguren der drei untersuchten Werke ausgehen und auch jeweils der Natur ein Kapitel widmen. Am Anfang jedes Hauptkapitels soll die bis jetzt erschienene Sekundärliteratur zur Stimme besprochen werden. Doch bevor die Stimme an den Texten The Nigger of the "Narcissus", Heart of Darkness und Typhoon im Detail untersucht wird, ist es notwendig, der Stimme ein Theoriekapitel zu widmen, in dem aufgezeigt werden soll, wie erstens die Stimme im Verhältnis zu Seele und Körper zu sehen ist, und wie zweitens die bisherige Praxis der Stimmbeschreibung in der Literatur vor Conrad aussieht. Besondere Aufmerksamkeit soll den Gründen gewidmet sein, die für die neue Wichtigkeit von Stimme in Literatur und Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich sein könnten.



1) Joseph Conrad, Heart of Darkness: with the Congo Diary (London u.a.: Penguin, 1995) 79. Zitate hieraus im folgenden unter dem Kürzel HoD plus Seitenzahl.
2) Gerard Genette, Narrative Discourse Revisited (Ithaca,N.Y.: Cornell University Press, 1988) 64.
3) Vgl. M.M. Bakhtin, The Dialogic Imagination: Four Essays, Ed. Michael Holquist (Austin, London: University of Texas Press, 1987) 259ff.
4) Albert J. Guerard, "The Conradian Voice", Ed. Norman Sherry, Joseph Conrad: A Commemoration (New York: MacMillan, 1976) 6.
5) The Oxford English Dictionary, 2. Aufl., 20 Bde. (Oxford: Clarendon Press, 1989) 19: s.v. voice.
6) Ebd.
7) Ebd.
8) Vgl. Horst Gundermann, Phänomen Stimme (München, Basel: Reinhardt, 1994) 43.
9) Joseph Conrad, Typhoon and Other Stories (London, Toronto: Dent, 1929) 48. Zitate hieraus im folgenden unter dem Kürzel T plus Seitenzahl.
10) Joseph Conrad, The Nigger of the "Narcissus", a Norton Critical Edition (New York: Norton, 1976) 6. Zitate hieraus im folgenden unter dem Kürzel NN plus Seitenzahl.

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