Reinhard Döhl | Hörspielwerkstatt zu Bertolt Brecht

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Ich erinnere mich einer alten Geschichte, in der einem Chinesen die Über1egenheit der westlichen Kultur vor Augen geführt wurde. Er fragte: "Was habt ihr" Man sagte ihm: "Eisenbahnen, Autos, Telefon." - "Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen", erwiderte der Chinese höflich, "das haben wir schon wieder vergessen." Ich hatte, was das Radio betrifft, sofort den schrecklichen Eindruck, es sei eine unausdenkbar alte Einrichtung, die seinerzeit durch die Sintflut in Vergessenheit geraten war.

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Derart anekdotisch formuliert Bertolt Brecht in einer längeren undatierten Notiz - "Radio - eine vorsintflutliche Erfindung?" - seine Haltung gegenüber dem neuen Medium. Seine Vorbehalte richten sich dabei weniger gegen die Erfindung als solche als vielmehr gegen das Radio als eine Erfindung der Bourgeoisie, der er eine "weitere Erfindung" wünscht, "die es ermöglicht, das durch Radio Mitteilbare auch noch für alle Zeiten zu fixieren".

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Nachkommende Geschlechter hätten dann die Gelegenheit, staunend zu sehen, wie hier eine Kaste dadurch, daß sie es ermöglichte, das, was sie zu sagen hatte, dem ganzen Erdball zu sagen, es zugleich dem Erdball ermöglichte, zu sehen, daß sie nichts zu sagen hatte.

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Diese "weitere Erfindung" ist kurze Zeit später gemacht worden, und wir verdanken ihr immerhin auch ein paar Tondokumente, die erkennen lassen, wie denn Bertolt Brecht sich die "Verwertung" von "Kunst und Radio" gedacht hat.

Bertolt Brecht und das Radio, beziehungsweise das Hörspiel - ließe sich ein recht umfangreiches Kapitel innerhalb der Geschichte des Hörspiels betiteln, das bisher weder von der Hörspiel- noch von der Brechtforschung geschrieben wurde, sieht man von gelegentlichen Hinweisen, Detailuntersuchungen etwa zu den "Rundfunkbearbeitungen 'Macbeth' und 'Hamlet'" und dem bemerkenswerten Aufsatz Gerhard Hays über "Bertolt Brechts und Ernst Hardts gemeinsame Rundfunkarbeit" einmal ab. Dieses Kapitel kann natürlich auch eine halbstündige Rundfunksendung anläßlich des 75. Geburtstages nicht bieten. Dennoch soll im Folgenden wenigstens versucht werden, einige Ansatzpunkte zu formulieren und dieses Kapitel in groben Umrissen zu skizzieren.

Daß "Brechts Haltung zum Radio (...) zunächst ablehnend" war, wie gelegentlich zu lesen ist, widerlegt bereits Brechts schon zitierte erste erhaltene Notiz zum neuen Medium. Was Brecht ablehnte und, seit 1926 ernsthaft Nationalökonomie und den Marxismus studierend, ablehnen mußte, war das Radio der Bourgeoisie und seine Programme, die ihm "beschämend" erschienen:

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Es war ein kolossaler Triumph der Technik, nunmehr einen Wiener Walzer und ein Küchenrezept der ganzen Welt zugänglich machen zu können.

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Was ihn dagegen von Anfang an sichtlich interessierte, war die Möglichkeit, daß "etwas" erfunden werden könnte, "um dessentwillen man das Radio, wäre es nicht schon da, erfinden müßte.

Brechts theoretische Überlegungen bis 1932, seine praktischen Radiobeiträge in Form von Hörspielen und Bearbeitungen zeigen ihn immer wieder auf der Suche nach solchen Möglichkeiten gegenüber einer diese Möglichkeiten immer mehr einschränkenden Entwicklung des 'bürgerlichen Radios'.

Schon 1927 zählt Brecht zu den Mitarbeitern des Berliner Rundfunks. Die Tatsache, daß man im Anfang der Hörspielgeschichte noch nicht strikt zwischen gesendetem Bühnenstück und eigens für den Funk geschriebenem Hörspiel trennte, vielmehr beides unter "Sendespiel" subsumierte, berechtigt uns, das am 18. März 1927 vom Berliner Rundfunk gesendete "Mann ist Mann" hier ausdrücklich zu erwähnen, um so mehr, als Ernst Hardt bereits am 30. Juni desselben Jahres das Stück noch einmal für den Westdeutschen Rundfunk inszenierte. Wenn Ernst Hardt, dessen Regiestil bei der Funksendung von Bühnenstücken einmal einer genaueren Untersuchung wert wäre - eine Don Carlos- eine Wozzeck-Inszenierung von 1932, bzw. 1930 sind als Tondokument erhalten - wenn Ernst Hardt Brechts "Mann ist Mann" 1929 noch einmal inszeniert, läßt dies auf den Wert schließen, den er Brechts Bühnenstück, selbst in seiner Ausstrahlung durch den Rundfunk, beimaß. Gerhard Hay hat mit Recht darauf hingewiesen, daß "Mann ist Mann" für Brechts und Hardts gemeinsame Rundfunkarbeit "eine Schlüsselstellung" einnimmt, die 1929 zu dem wesentlichen Radio-Experiment des "Lindberghfluges" führen sollte Für unsere Skizze ist wichtig, ein der zweiten Kölner "Mann ist Mann"-Inszenierung vorausgegangenes Gespräch zwischen Hardt, Brecht, Herbert Jhering und Fritz Sternberg, in dem es wesentlich um das epische als das zeitgemäße Drama ging. In diesem Gespäch führt Sternberg aus, Shakespeare habe das "Drama des mittelalterlichen Menschen wie des Menschen" geschrieben, "der sich immer mehr als Individuum zu entdecken begann und als solches in dramatische Situationen zu seinesgleichen wie zu übergeordneten Gewalten geriet.

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Es ist in diesem Zusammenhang bedeutsam, welche Stoffe sich Shakespeare für seine großen Römerdramen gewählt hat. Er hat uns kein Drama geschenkt über die großen republikanischen Zeiten Roms, in denen der einzelne Name noch nichts bedeutete, in denen der Kollektivwille schlechthin entscheidend ist, Senatus Populusque Romanus, sondern er hat die Zeiten vor und hinter dem gewählt. Die großen Mythenzeit, als der einzelne sich noch der Masse entgegensetzte, (...) und die Zeit des sich auflösenden Reiches, das in seiner Expansion schon die Keime des Verfalls trug (und dabei die großen Einzelnen hervorbrachte).

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Diese Beobachtung Sternbergs greift Brecht auf, um seine Einschätzung Shakespeares zu formulieren, was uns gleichzeitig auf seine eigentlich erste Hörspiel-Arbeit, die "Mabeth-Bearbeitung zurückführt.

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Ja, die großen Einzelnen: Die großen Einzelnen waren der Stoff, und dieser Stoff ergab die Form dieser Dramen. (...) Bei Shakespeare sehen Sie es genau. Shakespeare treibt durch vier Akte den großen Einzelnen, den Lear, den Othello, den Macbeth, aus allen seinen menschlichen Bindungen mit der Familie und mit dem Staat heraus in die Heide, in die vollständige Vereinsamung, wo er im Untergang sich groß zu zeigen hat. Dies ergibt die Form, sagen wir, eines Haferfeldtreibens. Der erste Satz der Tragödie ist nur da für den zweiten, und alle Sätze sind nur da für den letzten Satz. Die Leidenschaft ist es, die dieses Getriebe im Gang hält, und der Zweck des Getriebes ist das große individuelle Erlebnis.

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Ein solche Einschätzung Shakespeares findet sich mit einigen durch den zeitlichen Abstand von 2 Jahren erklärbaren Abweichungen aber auch kleineren Widersprüchen in der "Vorrede zu 'Macbeth'" (1927) ausführlich vorformuliert. Was Brecht in ihr kritisiert, kritisiert er bereits aus dem Blickwinkel seiner im Entstehen begriffenen Konzeption vom epischen Theater. So kann es auch gar nicht so sehr darauf ankommen, zu untersuchen, wo und inwieweit Brecht hier Shakespeare nicht oder unrichtig, sondern wie er ihn verstanden hat. Wichtig sind dabei drei Punkte. Zum einen, daß er "in der Dramatik des Shakespeare das tröstliche Beispiel für die Möglichkeit reinen Stoffes" sieht, also den "Materialwert" des Klassikers für die zeitgenössische Bearbeitung betont. Zum zweiten, daß er das "epische Element in den Stücken des Shakespeare" hervorhebt, durch welches dieser imstande war, die
"Wahrheit des Lebens" einzufangen. Und zum dritten, daß gerade dies Beste bei Shakespeare, "im Widerspruch stehend zu unserer herrschenden Ästhetik und unseren Theatern nicht faßbar", ihn auf dem zeitgenössiscchen Theater unaufführbar mache. Man hat diese "Vorrede zu 'Macbeth'" nicht nur als Auseinandersetzung mit Shakespeare, sondern zugleich als Kritik am zeitgenössischen Theater verstanden, dem Brecht ein Jahr zuvor angekreidet hatte:

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Man kann die neuen Sachen nicht spielen, wie man Shakespeare spielen kann. Man hat uns oft genug gesagt, daß den Leuten die Aufführungen nicht gefallen haben. Man hat uns aber nicht sagen hören, daß sie uns auch nicht gefallen haben. Das Theater hat die große Chance, die es gehabt hat, aus unseren Stücken einen neuen Stil für ihr gewohntes klassisches Repertoire zu finden, nicht genutzt. Es hat lediglich seinen alten Stil benutzt, um unsere Stücke zu verderben.

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Und noch eine weitere Bemerkung von 1926 ist hier zu erinnern:

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Ich meine, daß es nicht den geringsten Sinn hat, ein Stück von Shakespeare aufzuführen, bevor das Theater imstande ist, die zeitgenössische Produktion zur Wirkung zu bringen.

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Daß Brecht seine "Macbeth"-Bearbeitung also nicht für die Bühne, sondern für den Funk schrieb, der ihm dabei mit seiner anfänglichen Experimentierfreudigkeit und der Suche nach funkgemäßen Klassiker-Adaptionen entgegenkam, hat hierin fraglos seinen Grund.- Brecht sah keine Möglichkeit auf der Bühne zu verwirklichen, was er im Funk verwirklichen konnte: einen "neuen Stil", den "epischen Stil" für ein Stück des "klassischen Repertoires" durchzusetzen. Denn als Bearbeitung im Sinne des epischen Theaters erscheint die "Macbeth"-Bearbeitung in der Tat, wie sich anhand der "Vorrede", einm einzig erhaltenen Textfragment von knapp drei Seiten und einer - wenn auch äußerst negativen Abhandlung der Sendung durch Erich Schuhmacher mit ziemlicher Sicherheit festhalten läßt: Brechts Bearbeitung der Vorlage muß nicht nur ziemlich frei und eigenwillig gewesen, sie muß der Inszenierung durch Alfred Braun auch durch eine erstaunlich funkgemäße Anlage entgegengekommen sein.

Daß Bertolt Brecht sich in den Möglichkeiten, die das Hörspiel bot, gut auskannte, daß er sich - auch im Hinblick auf seine Vorstellungen von einem "epischen Stil"- sehr wohl seine Eigenen Gedanken gemacht hat, läßt sich aus den mit dem 25. Dezember 1927 datierten "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks" ablesen. Zwar ordnet Brecht in ihnen "die Produktion für das Radio" der seiner Meinung nach wesentlicheren gesellschaftlichen Aufgabe Des Radios, nämlich, dieses zu einer "wirklich demokratischen Sache zu machen", die "aktuellen Ereignisse produktiv zu machen", unter, aber er fordert für die Produktion zugleich das Heranziehen "nur der allerbesten Leute".

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Was die Hörspiele betrifft, so sind hier ja tatsächlich von Alfred Braun interessante Versuche unternommen worden. Der akustische Roman, den Arnolt Bronnen versucht, muß ausprobiert und diese Versuche müssen von mehreren fortgesetzt werden. Der große Epiker Alfred Döblin wohnt Frankfurter Alle 244 (Berlin)".

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Doch ehe noch Döblin "Die Geschichte vom Franz Biberkopf" vorlegte, ja schon vor der Niederschrift seiner "Vorschläge für den Intendanten des Rundfunks" muß sich auch Brecht schon mit einem eigenen Hörspiel befaßt haben, das er unter dem Datum des 18. Oktober 1927 in einem Brief an Ernst Hardt erwähnt und anbietet.

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"Ich hätte gern mit Ihnen einmal über die Möglichkeit eines wirklichen Sendespiels gesprochen, ich habe ein solches skizziert, es heißt "Die Geschichte der Sintflut", in naiver Art. Es gehen ziemlich moderne Großstädte dabei unter! Aber es ist sehr schwer, so etwas zu schreiben, wofür man keine Gewähr der Verwendung hat und sogar im besten Fall, nämlich wenn es aufgeführt wird, lächerlich wenig bekommen kann. (Was wohl auch daher kommt, daß der Rundfunk noch kein Repertoire mit Wiederholungsmöglichkeit hat. Solch ein Stück müßte man jedes Jahr an einem bestimmten Tag aufführen.)

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In Paranthese: Die Klage über zu geringe Honorierung und die Forderung eines Hörspielrepertoires kehren übrigens in den "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunks" wieder.

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Obwohl ich sowohl in Berlin wie in Breslau*) sehr gute Verbindungen habe, möchte ich doch zuerst fragen, ob sie in Köln eine Möglichkeit für so etwas schaffen können. Es müßte eine große Sache sein, die erste dieser Art, es könnte eventuell sogar die "Kölner Sintflut" heißen. Übrigens ist das ganze Projekt für mich eine wichtige, aber keine eilige Sache.

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Warum Brecht dieses Hörspiel, diese für ihn so "wichtige Sache" nicht dem Berliner oder Breslauer Funk, sondern ausgerechnet Ernst Hardt, der ihn über Alfred Braun angesprochen hatte, und zudem noch gleich in seinem ersten Brief anbietet, läßt sich für den Augenblick ebensowenig beantwerten wie sich genauere Angaben zu diesem Hörspiel machen lassen. Wie immer dem sei, das fruchtbare Ergebnis dieses Kontaktes ist Brechts erstes erhaltenes selbständiges Hörspiel, der 1929 aufgeführte "Lindberghflug" mit Musiken von Paul Hindemith und Kurt Weill.

Vorausgegangen war diesem Hörspiel die entschiedene Wendung Brechts zur Auffassung, Kunst müsse direkt pädagogisch verwertbar sein. Bezogen auf das Radio beantwortet ein erhaltenes Fragment "Über Verwertungen" die Frage: "wie man Kunst und Radio überhaupt verwerten" könne:

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Diese Frage wird, wenn wir recht haben oder recht bekommen, folgendermaßen beantwortet werden: Kunst und Radio sind pädagogischen Absichten zur Verfügung zu stellen.

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Wobei Brecht zugleich einschränkt:

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Die Möglichkeit der Durchführung einer solchen direkten pädagogischen Wirkung der Kunst scheint heute nicht gegeben, weil der Staat kein Interesse daran hat, seine Jugend zum Kollektivismus zu erziehen.

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Dennoch ist die ganze jetzt folgende Phase der Lehrstücke eine Suche nach Durchführungsmöglichkeiten "einer solchen pädagogischen Wirkung der Kunst". Wie ernst es Brecht mit der Pädagogik war, zeigt sein Vorschlag, die Nützlichkeit, den Wert der Klassiker dadurch zu ermitteln, daß man sie sich von einer Schulklasse dargestellt vorstelle und frage, ob "die Gedanken, die sie aussprechen müßten, eine Schulung für sie darstellen?". Das zeigt als praktischer Versuch der "Lindberghflug", den Brecht wenig später als "Radiolehrstück für Knaben und Mädchen" auswies.

Mit seinem Versuch, das Radio im pädagogischen Sinne zu verwenden, stand Brecht damals keinesfalls allein. Von der Erziehung der Hörer zum Hören spricht im gleichen Jahr zum Beispiel Hans Roeseler und führt aus:

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Wir gehen in unserer Gesellschaft, der Deutschen Welle, sehr von dem erzieherischen Gesichtspunkt aus, und ich glaube, daß der Schulfunk, eine Einrichtung unserer Sendegesellschaft, die besonders gepflegt wird, ein Weg wäre, um von der Schule aus, vom Kind her, der Hörsinn lebendig zu machen. Die Kinderstunde wäre ein weiterer Weg zum Ziel.

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Aber Brecht lebte in einer anderen 'pädagogischen Provinz', seine pädagogische Absicht zielte auf anderes. "Der Lindberghflug" war für ihn ein "Lehrmittel", ein "Lehrgegenstand", der "dem gegenwärtigen Rundfunk (...) nicht zum Gebrauch dienen", der ihn vielmehr "verändern" sollte.

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Die zunehmende Konzentration der mechanischen Mittel sowie die zunehmende Spezialisierunq in der Ausbildung - Vorgänge, die zu beschleunigen sind - erfordern eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent.

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Was Brecht wollte, war also keine "Kunst für den Konsumenten", sondern "Kunst für den Produzenten" durch Veränderung, durch Umfunktionierung des Rundfunks in gesellschaftlich progressivem Sinne. Das Problem war, dies deutlich zu machen. Anläßlich der Baden-Badener Aufführung schlug Brecht brieflich Ernst Hardt ein "Experiment" vor, das auch durchgeführt wurde.

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"lch habe über die Radiosendung des Lindberghfluges etwas nachgedacht und zwar besonders über die geplante öffentliche Generalprobe. Diese könnte man zu einem Experiment verwenden. Es könnte wenigstens optisch gezeigt werden, wie eine Beteiligung des Hörers an der Radiokunst möglich wäre. (Diese Beteiligung halte ich für notwendig zum Zustandekommen des "Kunstaktes".) Ich schlage also folgenden kleinen Bühnenaufbau für diese Demonstration vor: vor einer großen Leinwand auf der die beiliegenden Grundsätze über die Radioverwendung projeziert werden - diese Projektion bleibt während des ganzen Spieles bestehen - sitzt auf der einen Seite der Bühne der Radioapparat, Sänger, Musiker, Sprecher usw., auf der anderen Seite der Bühne ist durch ein Paravent ein Zimmer angedeutet und auf einem Stuhl vor einem Tisch sitzt ein Mann in Hemdärmeln mit der Partitur und summt, spricht und singt den Lindberghpart. Dies ist der Hörer. Da ziemlich viel Sachverständige anwesend sein werden, ist es wohl nötig, auf der einen Seite die Aufschrift "der Rundfunk", auf der anderen die Aufschrift "der Hörer" anzubringen. Vor dem Ganzen würde ich Sie bitten, lieber Herr Hardt, über dieses Experiment und die ihm zugrundeliegende Theorie, die ich Ihnen beilege und über die wir noch sprechen können, etwas zu reden. Es ist dies eine Belastung für Sie, aber ich weiß sonst niemanden, der dies machen könnte.

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Dieses "Experiment" dieser "kleine Bühnenaufbau" demonstrierte zugleich, wie sehr Brechts Radio-Lehrstück auch ein Lehrstück über die sinnvolle Verwendung des Radios war und insofern nicht nur im Zusammenhang der Lehrstücke, sondern auch im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem neuen Medium zu sehen ist. Daß Brecht damals auf die Idee gekommen ist, das Radio derart zum Gegenstand eines Radio-Lehrstücks zu machen, könnte ferner gesehen werden als Nutzanwendung einer Sendeform, die Hermann Scherchen, Dirigent einer als Tondokument erhaltenen Berliner "Lindberghflug"-Inszenierung von 1930, 1929 für den Bereich der Musik gemacht hat:

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Der Programmausschuß der deutschen Rundfunkgesellschaften hat ohne Zweifel den richtigen Weg eingeschlagen, als der Beschluß gefaßt wurde, regelmäßig bei Komponisten Werke für den Rundfunk zu bestellen.

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- Eine Forderung übrigens, die Brecht in seinen "Vorschlägen für den Intendanten des Rundfunk" schon gestellt hatte. -

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Ebenso glücklich ist Entschluß, durch aktive Teilnahme an Musikfesten, wie es das Baden-Badener ist, und durch Übertragungen repräsentativer Veranstaltungen der deutschen Musikerschaft (...) immer intensiver Fühlung mit dem öffentlichen Musikleben zu nehmen.

Diesen Versuchen sollten sich andere anschließen, die mehr direkt auf den Hörerkreis eingehen müßten; z. B. bestelle man bei den Horern selbst Material für die Singgemeindestunden, sowohl als selbstgefundene eigene Melodien, wie als zufällig gekanntes, längst vergessenes Volksgut. Oder errichte nach Art der Singgemeinden Spielmusikerstunden und erteile Preise für gute, im Rundfunk dafür zu verwertende Werke. Die Spielmusikstunden könnte von großer Bedeutung werden, wenn man allgemein zugängliche, leicht spielbare Kompositionen dafür benutzte. Diese wären nur rechtzeitig bekannt zu geben und damit die Aufforderung zu verknüpfen, selber zu Hause mitzuspielen, sicherlich würde vielen Freunden der Musik dadurch eine wichtige Anregung gegeben.

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Daß Brecht bei seinem "Lindberghflug" an Vergleichbares gedacht haben könnte, ließe sich damit stützen, daß sowohl vor Aufführung des Hörspiels im Südwestdeutschen Rundfunk als auch vor seiner Aufführung im Westdeutschen Rundfunk in der "Südwestdeutschen Rundfunkzeitung" bzw. in der WERAG jeweils mit Ankündigung der Sendung auch der Text des Hörspiels unter "Liedertexte der Woche" abgedruckt wurde, dem Hörer also zumindest zum Mitlesen zur Verfügung stand. So gesehen ließe sich durchaus von einem den Vorstellungen Scherchens korrespondierenden Hörspiel-Versuch sprechen. Mit Recht ist, scheint uns, darauf hingewiesen worden, daß die frühen Lehrstücke "im Zuge der Bewegung der Neuen Musik" entstanden seien und daß Brecht bei seiner damaligen Abwendung vom offiziellen Theater "in der Chorbewegung, speziell in den Arbeitersängerchören" ein großer "Apparat zur Verfügung" gestanden habe, "der keine großen finanziellen Aufwendungen forderte, also auch keine Abhängigkeiten kannte" (H. Rischhieter).

Mit dem "Lindberghflug" endet jedenfalls die Phase der gemeinsamen Rundfunkarbeit zwischen Brecht und Hardt. Daß private Differenzen dabei eine Rolle gespielt haben, ist vermutet worden. Wahrscheinlicher ist, daß sich ein scheinbar gemeinsames Interesse am Arbeiter als Adressaten neuer, dafür geeigneter Kunstformen auf die Dauer und bei praktischem Hinsehen als eigentlich unvereinbarer Interessengegensatz erwies. Der Arbeiter, an den Ernst Hardt dachte und den er im Arbeiterdichter Karl August Düppengießer protegierte, und der lesende, Fragen stellende Arbeiter Brechts gehörten nur der Berufsbezeichnung nach derselben Klasse an.

Daß Brecht mit seinen Hörspiel-Versuchen, speziell mit dem "Linderberghflug" keinen "bemerkenswerten Eingriff in die Entwicklung des Hörspiels" (H.-G. Funke) geleistet habe, kann nur behauptet werden, wenn man hinzusetzt, daß die Entwicklung des bürgerlichen Rundfunks derartige Eingriffe ja auch kaum zugelassen hat. Jedenfalls wuchs nach der Baden-Badener Aufführung Brechts Mißtrauen in die Möglichkeiten des Mediums zusehends. Schon anläßlich des Buchdrucks bezweifelte er die Verwendbarkeit des "Lindberghfluges" als "Lehrgegenstand". Das Hörspiel habe "weder einen ästhetischen noch einen revolutionären Wert, der unabhängig von seiner Anwendung" bestehe, die "nur der Staat organisieren" könne. Immerhin mache eine "richtige Anwendung" das Hörspiel "soweit 'revolutionär'", daß der gegenwärtige Staat kein Interesse" daran habe, "diese Übungen zu veranstalten."

Dennoch bat Brecht sein Interesse am Radio und seiner Verwendbarkeit nicht verloren. 1932 nimmt er in einer "Rede über die Funktion des Rundfunks" noch einmal Bezug auf die Baden-Badener Experimente und apostrophiert den "Lindberghflug" als "ein Modell für die neue Verwendung" der Radioapparate. Daß er ihm dabei als weiteres und "anderes Modell" jetzt das "Badener Lehrstück vom Einverständnis" zuordnet, berechtigt uns, die Charakterisierung seines "pädagogischen Parts" durch Brecht in unserer Skizze aufzuführen.

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Hierbei ist der pädagogische Part, den der "Hörer" übernimmt, der der Flugzeugmannschaft und der der Menge. Er kommuniziert mit dem vom Rundfunk beizusteuernden Part des gelernten Chores, dem der Clowns, dem des Sprechers.

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Will man der Literatur über das Hörspiel, aber auch der Brechtforschung folgen, erschöpft sich mit dem "Lindberghflug" und dem späteren Emigrations-Hörspiel "Lukullus vor Gericht" (1940) die praktische Hörspielarbeit Brechts. Damit wird aber nicht nur die schon genannte "Macbeth"-Bearbeitung unterbewertet, es wird auch die am 31. Januar 1931 vom Berliner Rundfunk ausgestrahlte Funkbearbeitung der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" unterschlagen. Der einleitende Sprechertext der "Hamlet"-Bearbeitung schlägt den Bogen zurück zum sogenannten "Kölner Rundfunkgespräch" von 1929, in dem Fritz Sternberg über den historischen Stellenwert Shakespeares ausführt:

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Was wir mit dem Namen Mittelalter umgreifen, wirkte sich in ihm aus, aber schon war der mittelalterliche Mensch aus seinen Bindungen herausgebrochen worden durch die Dynamik der Epoche.

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1931 ist "Hamlet" für Brecht ein "Glanzstück mittelalterlicher Dramatik":

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Wir beginnen mit der Vorführung des Trauerspiels HAMELT, Prinz von Dänemark von William Shakespeare, einem Glanzstück mittelalterlicher Dramatik, berichtend

"Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich,
Zufälligen Gerichten, blindem Mord.
Von Toten, durch Gewalt und List bewirkt
Plänen, die verfehlt zurückgefallen
Auf der Erfinder Haupt",

wie es im Stück heißt. Der Schluß des Stückes, darstellend einen Massen-Familienmord, ist allerdings seines verzwickten und skurrilen Inhalts wegen für das moderne Theater nicht mehr geeignet. Die Tragödie wird in Gang gebracht durch folgende Mitteilung ..."

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Für das moderne Theater nicht mehr geeignet" heißt natürlich: für Brechts episches Theater nicht geeignet. Dies aber ließ sich im offiziellen Theater nicht verwirklichen, so daß hier wiederum der Funk das Podium war, auf dem Brecht seine Pläne in die wenn auch gleichsam nur akustische Tat umsetzen konnte. Beide Shakespeare-Bearbeitungen hatten Brecht gezeigt, daß sich "epischer Stil" im Funk sehr wohl aufführen und realisieren ließ. Waren die beiden Shakespeare-Bearbeitungen auch der Versuch, "den Rundfunk und die Klassiker für das epische Theater zu gewinnen", so bot sich der Rundfunk folgerichtig ebenso für das eigene epische Theater in dem Augenblick an, als sich ihm im Falle der "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" die Bühnen verweigerten:

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Es wird einmal zu den denkwürdigsten, aber unrühmlichsten Merkmalen in der Kulturgeschichte unserer Zeit gehören, daß das Theater die Vermittlung eines der größten und bedeutendsten Dramen der Epoche dem Rundfunk überlassen mußte. Der Berliner Funkstunde ist es zu danken, sie hat das Verdienst, die Öffentlichkeit mit Teilen und Auszügen aus Brechts neuem Schauspiel "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" bekannt gemacht zu haben.

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Es muß einer genauen Analyse vorbehalten bleiben, zu entscheiden, ob es sich bei dieser von Alfred Braun mit Sprechern wie Fritz Kortner, Carola Neher, Helene Weigel, Ernst Busch, Peter Lorre u.a. inszenierten Aufführung wirklich nur um "Teile und Auszüge" gehandelt hat, wie Fritz Walter im "Berliner Börsen-Courier" schrieb oder ob Brecht nicht vielmehr - in genauer Kenntnis der funkischen Möglichkeiten auch für das Lehrstück, das epische Theater hier so etwas wie eine eigenständige Hörspiel-Fassung seiner "Heiligen Johanna der Schlachthöfe" hergestellt hat.

Damit schließt sich - sieht man von dem Emigrations-Hörspiel "Lukullus vor Gericht" einmal ab - ein Zeitraum von 5 Jahren, in denen Bertolt Brecht sowohl praktisch als auch theoretisch sein nachdrückliches Interesse am neuen Medium bekundet hat. Sein 'Partner'
war das Radio der Bourgeoisie, seine Hoffnung, aus dem Radio eine "wirklich demokratische Sache", "einen Kommunikationsapparat öffentlichen Lebens" zu machen.

Zitat

Durch immer fortgesetzte, nie aufhörende Vorschläge zur besseren Verwendung der Apparate im Interesse der Allgemeinheit haben wir die gesellschaftliche Basis dieser Apparate zu erschüttern, ihre Verwendung im Interesse der wenigen zu diskutieren.

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Aber Brecht wußte eigentlich von Anfang an auch:

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Undurchführbar in dieser Gesellschaftsordnung, durchführbar in einer anderen, dienen die Vorschläge, welche doch nur eine natürliche Konsequenz der technischen Entwicklung bilden, der Propagierung und Formung dieser anderen Ordnung.

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Es bleibt zu fragen, ob Brechts Interesse am Radio erschöpft war, als er 1948 in eine "andere Ordnung" zurückkehrte? Ob das Radio, das er jetzt vorfand und mit dem er lebte, eine in seinem Sinne "wirklich demokratische Sache", der von ihn geforderte
"Kommunikationsapparat öffentlichen Lebens" war? Oder ob sich auch das Radio dieser anderen Ordnung, die ihn immerhin 1951 zu beachtlichen Veränderungen seines Lukullus-Textes zwang, als zu starrer Apparat, als im Grunde ungeeignet erwies, Experimente, Versuche zu veranstalten, die er mit seinem "Berliner Ensemble" und schließlich sogar im eigenen "Theater am Schiffbauerdamm" unternehmen konnte?

NDR III, 10.2.1973



 

*) Nach Bischoff, "Die Dramaturgie des Hörspiels" (1928) muß es eine Zusammenarbeit von Brecht und Feuchtwanger bei "Kalkutta, 4. Mai" (in Breslau?) gegeben haben. (Bredow, Archiv, S. 264)