Traugott Schneider [d.i. Reinhard Döhl] | Vom Kopf auf die Füße gestellt
Zum ersten Mal publiziert: Die Rundfunkarbeiten Walter Benjamins im Detail

Es gibt ein Bild Walter Benjamins, das ihn bei wechselnder Perspektive (Frankfurter Schule / marxistische Kulturtheorje / jüdische Mystik) als Esoteriker zeichnet. In dieser Benjamin-Rezeption werden auch Arbeiten aus der Exilzeit gehandelt, die sich mit dem
Kunstwerk ohne Aura befassen. Ja sie sind bereits wie "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" zum
quasi geflügelten Wort geworden. Übersehen haben die Chefideologen dieser Benjamin-Rezeption, daß es eine praktische
Voraussetzung dieser theoretischen Essays der Exilzeit gibt: Benjamins eigene Rundfunkerfahrungen, die sich mit rund 100 Titeln
belegen lassen.

Wolf Zuckers Erinnerung an eine Bemerkung Benjamins, der Hörer habe immer recht, wird erst verständlich, wenn man Benjamins
Rundfunk- nicht als Brotarbeiten herunterstuft, sondern in ihrer wirklichen Bedeutung erkennt: als Versuche, im neuen Medium die
"Trennung zwischen Ausführendem und Publikum" aufzuheben, d.h. den Hörer durch ihn fesselnde Sendungen von einem
gedankenlosen Konsum abzulenken und ihn zu einem vernünftigen Gebrauch des Rundfunks als eines volkstümlichen neuen
Kommunikationsinstruments anzuhalten.

Eine der ersten Rundfunksendungen Benjamins, "Johann Peter Hebel" (Frankfurt 19.10.1929), ist geeignet, auf das Besondere der
Benjaminschen Rundfunkarbeit hinzuführen, erstens, weil sie, an zwei frühere Aufsätze anknüpfend, zeigt, wie Benjamin bereits
Formuliertes einem anderen Adressatenkreis zugänglich zu machen versucht. Zweitens, weil dieser Vortrag Einsichten Benjamins in das Nachrichten- und Sensationsmedium zu nutzen versucht, "nicht beliebige Sensationsgeschichten", sondern - wie Hebel -
"gewichtige Vorfälle mit der Evidenz des Hier und Jetzt auszustatten.

Auf die Bedeutung dieses Hebel-Vortrags aufmerksam machen auch das "Vorwort" (Bernd Witte) und eine kürzlich erschienene
umfangreiche Studie Sabine Schiller-Lergs: "Walter Benjamin und der Rundfunk; Programmarbeit zwischen Theorie und Praxis"
(München, NewYork, London, Paris: K. G. Sauer. Rundfunkstudien. Hrsg. im Auftrag des Studienkreises Rundfunk und Geschichte
von Winfried B. Lerg, Bd. 1, 68 Mark).

In ihrer 548seitigen Studie breitet Sabine Schiller-Lerg zum ersten Mal alle zum Teil mühsam recherschierten Rundfunkarbeiten
Benjamins aus, wobei sie sowohl historisch-biographisch wie rundfunk- und programmhistorisch und textanalytisch vorgeht, "Formen und Inhalte" der Benjaminschen Rundfunkarbeiten in "Rundfunk für Kinder und Jugendliche", "Hörmodelle/Funkspiele/Hörspiele",
"Erzählung/Vortrag/Gespräch" und "Literaturkritik" unterteilt. Daß diese Unterteilung nicht streng genommen werden darf, zum
Beispiel das Hörspiel für Kinder, "Radau um Kasperl" (1932) in zwei dieser Gruppen zu behandeln ist, versteht sich von selbst, wie
auch von Hebel an verschiedenen Orten der Studie die Rede ist. So wird einsichtig, daß bei den einzelnen Sendungen Benjamins
zwar Thema und Programmplatz wechseln können, daß sie aber alle aus einem grundsätzlichen Interesse entstanden sind, welches sich auch an einem Aufsatz "Zweierlei Volkstümlichkeit" oder anderen Notaten aus dem Nachlaß ablesen läßt. Zu Recht erkennt
Sabine Schiller-Lerg, daß Benjamin nicht wie Brecht auf eine praktisch unmögliche Veränderung des Distributionsapparates
Rundfunk in einen Kommunikationsapparat zielte, sondern dort ansetzte, wo ein Ansatz sinnvoll war und partiell erfolgreich sein
konnte: beim Programm. Dabei ging Benjamin von dem doppelten Ansatz aus, daß der Rundfunk sein Programm "nicht allein an der neuen, veränderten Technik auszurichten" habe, sondern in gleichem Maße an "den Anforderungen eines Publikums (...), das
Zeitgenosse seiner Technik sei".

Daß Benjamins Rundfunkarbeit von einem grundsätzlichen Interesse am neuen Medium getragen wurde, wird deutlich, wenn
Schiller-Lerg in zehn abschließenden Thesen Benjamin als Rundfunkpublizisten, -autor, -regisseur, -darsteller, -erzähler, -kritiker-,
als Medienpädagogen, Vertreter einer neuen Volkstümlichkeit, Programm- und Rundfunkkritiker und Kommunikationstheoretiker
auffächert.

Der besondere Wert der Studie liegt aber fraglos im Rundfunkphilologischen. Was Sabine Schiller-Lerg in jahrelangem Forschen
zusammengetragen hat, liest sich nicht nur für den Benjamin-Spezialisten spannend. So ist die Studie geeignet, einen von der
Rezeption kopflastig gemachten Autor wieder auf die Füße wenigstens des Rundfunkpraktikers zu stellen. Daß dabei der
Verfasserin das eine oder andere noch entgangen ist, sei mit Hinweis auf Norbert Schachtsiek-Freitags kleineren Aufsatz "Walter
Benjamin / Drei Hörmodelle" (Neue Rundschau, Jg. 82, 1971, H. 3, S.573-577) wenigstens angedeutet.

Stuttgarter Nachrichten vom 10. Mai 1985