Albrechts Privatgalerie | Künstleralphabet | Ehehalt
Reinhard Döhl | Wirklichkeit als Schein

In welchem Maße Wolfgang Ehehalt den großen Bildgegenstand meidet, den kleinen dagegen beachtet, ohne ihn zu heroisieren, zeigt eine Reihe von Studien, Zeichnungen und Mischtechniken, die in einem Wechselspiel von Bild- und Textelementen, von scheinbarer Kunstlosigkeit und Trompe-l'oeil-Effekten ihren Betrachter zu einer Entdeckungsreise einladen, auf der ihm Gewisses schnell ungewiß, Unvertrautes plötzlich vertraut wird.Entwickeln die Bildelemente Ehehalts in ihrer Kombination bereits hintergründigen Witz, liefern die eingeschriebenen Texte und Textfragmente zusätzlichen Kommentar. Da wird zum Beispiel in einer Zeichnung Toter Vogel - lebendiger Vogel links oben aus Bertolt Brechts berühmter Erinnerung an die Marie A. zitiert:

An jenem Tag im blauen Mond September
Still unter einem jungen Pflaumenbaum.
Natürlich ist das, was von unten rechts in die Zeichnung hineinknospt, kein Pflaumenbaum, und schon gar nicht im September. Aber nicht nur in diesem Punkt erweisen sich Zitatkontext und Zeichnung als diskrepant. Brechts Gedicht nämlich setzt fort:
Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe
In meinem Arm wie einen holden Traum.
Und über uns im schönen Sommerhimmel
War eine Wolke, die ich lange sah
Sie war sehr weiß und ungeheuer oben
Und als ich aufsah, war sie nimmer da.
Nichts aus dieser Strophe ist, außer in Textspuren, Gegenstand der Zeichnung geworden. Im Gegenteil: von der endlichen Unendlichkeit der Liebe, die Brecht in einem Naturbild zu fassen versucht, ist für den Betrachter der Zeichnung zunächst nur die Vergänglichkeit geblieben: eine tote Fliege und ein Käfer, ein toter und ein flatternder Vogel. An Stelle der Wolke, die Brecht als sehr weiß und ungeheuer oben auszeichnete, erscheint ein Flugzeug: Lärm unterbricht die im Gedicht beschworene Stille.

Allerdings wäre Ehehalts Intention verkannt, läse man seine Zeichnung als Parodie oder Karikatur des Brechtgedichts. Für diesen Zweck wäre eine Zeichnung das ungeeignete Mittel. Ehehalts Intention wird in dem Augenblick deutlicher, in dem man den ein geschriebenen Text (wie allgemein alle Textspuren in Ehehalts Arbeiten) als ein den anderen Bildelementen gleichwertiges Bildelement, als Textbild in einem wörtlichen Sinne begreift, das zu den anderen Bildelementen ebenso in Beziehung tritt wie diese zu ihm. Das aber heißt in der exegetischen Anwendung, daß nicht nur die Zeichnung den Text, sondern auch der Text die Zeichnung in Frage stellen kann. Mit anderen Worten: Zwar weisen die in dieser Zeichnung versammelten Bildelemente und Zitate einer uns umgebenden alltäglichen Wirklichkeit das Naturbild Brechts als eine, gemessen an der Realität fragwürdig gewordene Idylle aus. Aber im Gegenzug beklagt das Bildelement Text für die uns umgebende Wirklichkeit des Alltags den Verlust der Stille und der Liebe. Nicht das eine oder das andere, erst beides zusammen ergibt die Aussage der Zeichnung.

Man könnte hier die Exegese durchaus weitertreiben. Da gäbe es auf der Zeichnung noch manches zu entdecken, das Witz entwikelt oder Widersprüchliches aufdeckt. Ich möchte aber lieber auf einen eher technischen Aspekt dieser und einer zweiten Zeichnung eingehen und dabei zu erklären versuchen, daß es Ehehalt nicht um eine vordergründige, kritische Bestandaufnahme der uns umgebenden Wirklichkeit geht. Daß seine Arbeiten vielmehr unsere Wirklichkeit in Frage stellen bis an eine Grenze, wo Wirklichkeit selbst zur Frage wird.

Im Kontext der in der Regel ironisch zitierten Realitätselemente und -fragmente auffällig ist Ehehalts Neigung, mit Trompe-l'oeil-Effekten zu arbeiten. Seit der Antike bekannt, subsumiert die Kunstgeschichte unter diesem Terminus alle künstlerischen Versuche, die Augen des Betrachters zu täuschen und in die Irre zu führen. Als ein naheliegendes Beispiel nenne ich neben dem marmorierten Holz barocker Altäre die Bibliothek ohne Bücher im Kloster Schussenried, die die Mönche zu einer den ersten Augenschein überschreitenden Einsicht führen sollte.

Von solchen Arbeiten hebt die Kunstgeschichte als l'art pour l'art alle jenen Arbeiten ab, deren Trompe-l'oeil-Effekte das ausschließliche Ziel haben, technisches Können unter Beweis zu stellen. Und sie rechnet hierher auch das sogenannte Quodlibet (wörtlich übersetzt: was beliebt). Ein solches Quodlibet stellte im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert Wirklichkeitabfälle und vergleichsweise Wertloses - Malpinsel, Schreibfedern, Notizzettel, zerrissene Einladungskarten undsoweiter - in scheinbar sinnloser Komposition zu einer gezeichneten oder gemalten Collage zusammen, wobei Schattenbildung ebenso wie der Anstand zwischen Bildgrund und Oberfläche des gezeichneten/ gemalten Bildgegenstandes vorgetäuscht wurden. Zum Beispiel mit einer auf imitiertem Glas oder Papier angebrachten Schmutzstelle, aber auch einer aufgesetzten Fliege. Das man ein solches Quodlibet nicht ausschließlich als l'art pour l'art abqualifizieren darf, sondern auch als Opposition gegen den heroischen Bildgegenstand der offiziellen Malerei interpretieren kann, haben in unserem Jahrhundert die ready-mades der Dadaisten und, in ihrer Nachfolge, Pop-Artisten wie Robert Rauschenberg ein für allemal klar gemacht.

Durchaus in dieser Tradition weist die zweite Zeichnung/Mischtechnik Erinnerungsfragmente gleich mehrere solcher Trompe-l'oeil-Effekte auf: die scheinbar eingeklebten Skizzen, den scheinbar verwendeten Tesafilm undsofort. Daß dies nicht nur technische Pointen sind, macht die gezeichnete Collage, zu der Ehehalt die scheinbaren Realitätsabfälle zusammentreten läßt, schnell deutlich. Indem er sie nicht collagiert, sondern in die ästhetische Realität der Zeichnung umsetzt, nimmt er ihnen aber - und ganz anders als zum Beispiel in den Küchenobjekten - sozusagen ihr Sein, macht er auf die ästhetische Verwertbarkeit noch des nebensächlichsten Abfalls unserer Zivilisation aufmerksam.

Aufgezeigt an ihren Abfallprodukten erweist sich das Sein dieser Zivilisation plötzlich als Schein, der trügt. Darf man Ehehalts Anliegen auf diese Formel bringen, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Einsicht, daß das, was wir Wirklichkeit nennen, insgesamt ein Schein ist.

Daß dies nicht mehr der schöne Schein eines Barockaltars, einer aufgemalten Klosterbibliothek ist, demonstrieren Ehehalts Bildelemente ebenso wie sie die Augen des Betrachters zu der weiteren Einsicht führen könnten, daß die Elemente unserer Scheinwirklichkeit im Grunde genommen äußerst trivial sind.

[1985]