reinhard döhl | düdeldü oder aus der kleinen stuttgarter versschule und anderer unsinn (9)
reinhard döhl | geschichten in bildern

80er jahre (2)

siebenhundertfünfzig. ein spiel | gillray was here | die belämmerten ziegen | 12 purzelkarten fürs estherle | 13 mozartkugeln fürs schätzle | die woge, nach ernst max | rekonstruktion einer heiligen oder die himmelfahrt der anna selbdritt, nach ernst max | der nicht mehr einsame turner, nach baumeister willi | ikarus

siebenhundertfünfzig. ein spiel

die 1. handlung spielt in potsdam. in schloß sanssouci wird friedrich der kleine wieder einmal vom zipperlein geplagt. zur ablenkung läßt er sich von heinrich heine aus hamburg den nachttopf karls des großen bringen, worauf auch er einer ohnmacht nahe ist und der vorhang über die geschichte fallen kann.

im 1. zwischenspiel enthüllt helmut kohl (souffliert von philipp jenninger) in einem längeren entscheidungsmonolog seine inneren gedanken und den plan, den bonnbonnierendeckel nebst ecktürmen, hauptportal und fassadenschmuck zu restaurieren, während christo (gegenspiel und steigende handlung) den reichstag durch verpacken vor der bonner restauration bewahren möchte.

die 2. handlung spielt in plötzensee. sie ist jenen festspielbesuchern zugedacht, denen die gnade der späten geburt nicht zuteil wurde. um deutlich zu machen, daß nicht jede aufhängevorrichtung ein garderobenhaken ist, wird die handlung aber auch jenen gewidmet, die ihrerzeit gewissen und rechtsempfinden an der garderobe abgegeben hatte.

das 2. zwischenspiel ist eine klassische rüpelszene in einer version des frontstadttheaters. das bewußtsein, an vorderster front zu stehen, könnte bei steigendem spiel und gegenspiel in ebenfalls klassischer stichomythie in der sequenz gipfeln: bulle (sich vorbeugend, höflich): natty? punker (entgegenkommend und sich ebenfalls vorbeugend): bumppo!

die 3. handlung und zugleich peripethie des festspiels versammelt einige westberliner baulöwen in ländlicher idylle (berlin is doch keen dorf nich!) im wirtshaus gatow, das in fontanes werken nicht vorkommt und westdeutschen touristen gegenüber als adria-grill getarnt ist. einziges diskussionspunkt sind die zukunftsaussichten der postmoderne. entsprechend steht

das 3. zwischenspiel unter dem motto never moore minetti! in einem elegischen monolog beklagt der künstlich beatmete schauspieler auf einer parkbank nuschelnd das vermoorte tegel und räsoniert über die positiven konsequenzen, die eine seinerzeitige vermerzung berlins durch kurt schwitters gehabt hätte.

die 4. handlung verlegt den schauplatz nach ostberlin. sie berichtet in deutlich fallender handlung von den festvorbereitungen im ostsektor der stadt, die jedoch opfer der berichterstattung durch das zdf werden. der vorschlag höfers, diepgen und krack möchten wenigstens für einen frühschoppen ihre sessel tauschen, ist allenfalls retardierendes moment. in teicho-skopie zeigt

das 4. zwischenspiel bilder von der revue roter rummel<, die erwin piscator a.g. mit mitgliedern des metropol-theaters inszeniert hat (hauptrolle: dachdecker erich). hinter dem vorhang aufgenommene bilder von den kreuzberger umzügen können nur westlich der elbe und nördlich der mainlinie empfangen werden, da sich die berliner festspiele und der bayerische staatsrundfunk aus der direktübertraghung ausgeblendet haben.

die 5. handlung führt zu dem längst erwarteten ende vor historischer kulisse. während sich die hauptakteure zum obligaten show down am kalten buffett treffen, tragen die demonstrierenden zuschauer transparente mit sich, auf denen straßenzüge kreuzbergs, das vermoorte tegel und ein schließlich doch von christo verpackter reichstag zu erkennen sind. gleichzeitig mit dem absingen der lokalhymne das ist die berliner luftluftluft wird smogalarm gegeben und fällt der

vorhang

[das festspiel gehört mit den entsprechenden collagen/illustrationen zu der kunst&kompostkartenkorrespondenz mit wolfgang ehehalt. heute im archiv der akademie der künste, berlin]

gillray was here
eine geschichte in bildern [netzfssg]

der fall ist klar man geht spazieren
um sich ein wenig auszuführen

er hebt es links sie hebt es rechts
nach alter sitte des geschlechts

dann geht es rund man sieht soeben
die beiden etwas ab sich heben

was sich nicht umbringt macht sich stärker
er lispelt lotte und sie werther

frau steht auf mann und mann auf frau
auf mann zwecks einer mauerschau

und während wir genau noch hinsehn
geht manches unterdes in binsen

sieht sie an und für sich das glück
zieht er sich mehr und mehr zurück

ist wie nun mal der lauf der welt
sie kopf auf fuß und fuß auf kopf gestellt

verliert die etikette in gesellgem treiben
ganz peu a peu das unterleiben

erkennt man daß nur rechts noch steht
was links kopfüber untergeht

und in dem mancherlei bemühn
wird androgen zu androgyn

sie steht auf du er wir ihr ich
und er auf sich ganz fürchterlich

dann geht mit ihm sie und mit sich
und er mit sich gar auf den strich

bis schließlich schrittweis die auguren
die zukunft lesen aus den spuren

der beiden die jetzt büßen müssen
daß sie abhanden mit den füßen

eins zwei dreifältig doch in klarheit
erscheint zum schluß die binsenwahrheit.

[1987. poster; die original collagen: grafische sammlung, stuttgart]

die belämmerten ziegen
1. fssg. 1987 [netzfssg]
2. mail art-fssg 1994 im besitz von ulrike müller-herancourt
3. fssg, "das ziegenballett", grafische sammlung, stuttgart
4. das ziegenballett (zus. mit bernhard knoblach) 1998

12 purzelkarten fürs estherle [netzfssg]

dieses kleine mädchen hier
kommt dir das nicht putzig für?

doch es geht wie überall
hochmut kommt stets vor dem fall

darum folgen wie mans kennt
bäume die man purzel nennt

dennoch geht’s noch einmal gut
weil das ärschle bremsen tut

und weil neu die schönen kleider
geht der text noch etwas weiter

folgt der handstand
auf der standhand

doch der will nicht
darum spielt sich

alles wie beim ersten mal
ab dem ärschle ists egal

und noch einmal sind wir mutig
ist das ärschle auch schon blutig

legen hand wir an den grund
turnen ist ja soo gesund

schlagen rad und purzeln weiter
auf der lebens hühnerleiter

um am end wie alle frommen
auf dem arsch zu sitzen kommen.

[1988]

13 mozartkugeln fürs schätzle [netzfssg.]

1 tuen wir jetzt hugendubeln
oder gehn wir mozart kugeln?

2 ein mozartfan ist wie bekannt
nachts mehr musik als bei verstand.

3 dem mörike sein mozart auf der reise
nach prag aß keine götterspeise.

4 don giovanni kommt hier nur
einmal die woche: müllabfuhr.

5 was dem schwaben sein sträßle
ist dem mozart sein bäsle.

6 ein mozartzopf ist sehr verfänglich
ein negerkuß ist mehr vergänglich.

7 den zipfel einer wurst erhält man schneller
als käufer einer mozartella.

8 der brief an maestro rubinstein
von mozart war nicht stubenrein.

9 wenn kühe rindern ist es zeit zu decken
der rilling bacht im mozartsaal die becken.

10 ein trüber tag beginnt nicht mit der morgenröte
mit einem dreiklang stets die zauberflöte.

11 die sedelmeier ist kein papageno
drum scheiden sie und rommel sich demnächst in reno*).

12 sire goennewine**) stands out the door
im mozartjahr kömmt er noch vor.

13 wir wissen was von ihm wir haben
nur nicht wo mozart eingegraben.

[1990]

*)  nachtrag 1996: namen sind nicht nur im stuttgarter kulturleben austauschbar. so müßte der 12. zweizeiler heute z.b. heißen:
    magdowski iris jana ist kein papageno
    drum scheiden sie und ostberg sich demnächst in reno.
**) we do not need sir gönnewein
    we need more cars and aeroplein

die woge, nach ernst max

rekonstruktion einer heiligen oder die himmelfahrt der anna selbdritt, nach ernst max

der nicht mehr einsame turner, nach baumeister willi

ikarus

[die überwiegend in den 80er jahren entstandenen geschichten in bildern wurden 1990 in der wendlinger retrospektive gezeigt]