BioBibliograffiti | Über Reinhard Döhl
Nikolai B. Fortbauer | Supernovas in die Welt, Wortpfeile nach Stuttgart.

Künstler, Wissenschaftler, Netzwerker und Weltbürger: Am Donnerstag feiert Reinhard Döhl seinen 65. Geburtstag

Eine natürliche Erhebung trennt den Vorort Botnang und Stuttgart-Mitte. Ein Hügel mit Folgen. Man weiß voneinander - das muss reichen. Reinhard Döhl gar ist Japan mitunter näher als Stuttgart - online verbunden mit dem fernen Inselreich, auf Stadtbahnschienen verkoppelt und verkuppelt mit einer Stadt, die sich stets bemüht hat, Entgrenzungen aller Art im Rahmen zu halten. Morgen, Donnerstag, wird Reinhard Döhl 65 - ein Sprach- und Bildkünstler ist zu würdigen, ein Wissenschaftler, Hochschullehrer und multimedialer Netzwerker, ein Botnanger, Stuttgarter und Weltbürger.

Solche konsequentes Durcheinander war abzusehen, seit Döhl mit seinem 1959 veröffentlichten Montagegedicht "Missa Profana" 1960 einen Prozess wegen angeblicher Gotteslästerung in letzter Instanz, also vor dem Bundesgericht, gewann und das Urteil zugleich eine Neudefinition des Paragraphen 166 Strafgesetzbuch nach sich zog. Wie auch anders hätte Döhl seinen nächsten Sprachschritt skizzieren können denn als "so etwas wie eine geschichte von etwas". Offenheit als Prinzip, dabei in der (Wort-)Sache selbst Unerbittlichkeit demonstrierend. "Döhl", so schreibt Christy Beck Ende 1962, "hat sich im Bemühen, einer kleinbürgerlichen, emotional gelenkten Gegenwartspoesie den Garaus zu machen, dem Experiment mit der Sprache zugewendet." Hoffnungsvoll Becks Nachsatz: "Vom Impuls des Sentiments befreit, wird die Sprache sich selbst überlassen, um in ihrem Eigenbereich zu verharren, in sich und zu sich selbst zurückzufinden."

Döhl hat zu jenem Zeitpunkt scheinbar seinen Platz gefunden in der Großstadt zwischen Wald und Reben - Max Bense hatte ihn von Göttingen nach Stuttgart geholt, der Himmel schien weit und offen für die Konkrete Poesie. Vor Ort aber brauchte es Inseln, um die neuen Sprachkontinente Benses, Döhls, Heißenbüttels, Harigs, Gomringers und anderer zu erschießen. Die Hörspielredaktion des Süddeutschen Rundfunks und die Buchhandlung Wendelin Niedlich sind Geschichte, heute verbinden sich Kunstsparten und Wortfolgen in der Buchhandlung von Julius Pischl, vor allem aber im von Döhl mitbegründeten Futuristischen Lesesalon der Stadtbücherei. Dieser folgt den Gesetzen von Montage und Collage - womit Reinhard Döhl auf der Spur der eigenen, von weitreichenden Kommentaren zu Hans Arp, Kurt Schwitters und Hermann Finsterlin beflügelten Kunstlinien bleibt.

Mit dem Internet, so scheint es, hat Reinhard Döhl einen Weg gefunden, den Grenzposten aller Couleur die lange Sprachnase zu zeigen. Mag er sich in der Auseinandersetzung mit Stuttgart, in Diskussionen mit den Brotberuf-Kollegen an der hiesigen Universität und mit langjährigen Weggefährten aufgerieben haben - es wird doch alles Material, Moment einer Chronik, die mit dem offiziellen Abbruch des Projekts "Stuttgartprospekt" nur scheinbar ein Ende fand.

Enttäuschungen provoziert Döhl auf seinem Kurs nicht selten selbst. Stuttgart bleibt er - zugegeben - ein Fremder, ihm bleibt die Stadt - durchaus gewollt - eine Fremde. Von Botnang aus schickt Reinhard Döhl Sprach-Supernovas in die elektronischen Galaxien, collagierte Bruchteile von Bildsystemen in die letzten Refugien des Gesamtkunstwerks und Wortpfeile in Richtung Stuttgart. Die schärfsten wurden und werden in der Küche geschnitzt, Streitbühne und Ideenlabor von Beginn an, stummes Archiv unzähliger Denkertreffen.

Wir ahnen: Da muss noch was kommen. Ein "poet cornerle" droht - eine Stuttgarter Dichter-Anthologie, die nicht halt macht bei dem offiziell Gewussten zu Schiller und Hegel, Heißenbüttel und Bense. Am 28. Oktober soll sie ins Netz gehen, den Futuristischen Lesesalon mit zu Entdeckendem aus Vergangenheit und Gegenwart konfrontieren. Seinen eigenen Tanz auf dem Internetparkett hat hat sich Döhl bereits genehmigt - beim "Tango"-Projekt gaben sich Autoren aus aller Welt die elektronische Klinke in die Hand.

Folgerichtig sind auch für morgen, Donnerstag, die Leitungen geschaltet, auf denen Freunde und Kontrahenten gratulieren können. Unter http://www.rusmann.de/fr/handwerk/uhutopia/ ist zu finden, was man einen Strauß der anderen Art nennen könnte. Wir fügen diesem einen Text von Reinhard Döhl selbst ein: "maus meos mäi maun mäes meon mausi maus" (1962).

[Stuttgarter Nachrichten, 15.9.1999]