fingerübungen. 50 texte. 3 grafiken von georg karl pfahler. Wiesbaden: Limes 1962

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Wulf Segebrecht | Es wird weitergetextet
Neues vorn Verfasser der "missa profana"

In Stuttgart scheint es zu Ende zu sein mit einer so konventionellen Kunstform wie der Lyrik. Die Wörter "Dichtung" und
"Gedicht" nimmt man dort nur noch verachtungsvoll in den Mund. In Stuttgart wird getextet. Nach Max Bense und
Helmut Heißenbüttel textet jetzt auch Reinhard Döhl, dessen Montage-Gedicht "missa profana" seinerzeit eine längst fällige
Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes über den Paragraphen 166 StGB (Gotteslästerung) herbeiführte.
Wohin es mit dem jungen Autor inzwischen gekommen ist, zeigt der Band "fingerübungen, 50 Texte". Der Weg von ,der "missa
profana zum Text à la Max Bense oder gar à la ZUSE Z 22 (so heißt eine Stuttgarter Großrechenanlage, die je nach
Programmierung Texte produziert) - das ist der Weg vom Vertrauen in die Verbindlichkeit der bedeutenden Sprache zu dem
Entschluß, den Aussage- und Mitteilungscharakter der Sprache vorerst zu vernachlässigen zugunsten einer Demonstration von
Experimenten. Und das sieht dann so aus: "maus meos mäi maun mäes meon mausi maus". Hier wird, wenn ich richtig sehe, nicht mehr an den "Sinn" des Wortes "Maus" gedacht, sondern "maus" wird von Fall zu Fall dekliniert in Anlehnung an das griechische
Wort "naus" (= Schiff): "maus" ist sinnentleertes Material geworden.

Von Materialexperimenten dieser Art wimmelt es in den "fingerübungen. So wird etwa die Negation und die Negation einer
Negation vorgeführt ("das häßliche das nicht häßliche das ungeordnete das geordnete"), es werden Leerstellen in den
Text eingefügt ("liebe ist ein gespräch / ein gespräch / ein). Slangausdrücke ("zucker die puppe") und Wendungen aus den
Bereichen des politischen, geschäftlichen und religiösen Lebens und aus der Sprache des Märchens werden gern hart
gegeneinandergesetzt. So ergibt sich ein Wortsalat, angereichert mit Zitaten von Benn, Bense, Breton, Celan, Heißenbüttel,
Goethe und Wittgenstein. Hier ein Text zum Beispiel: "abgebrochene landschaft noch wo schön ist was jeder gern sieht : aus
gesichtern geschnitten die nachts nacht passieren abgestoßene farben : abgeblätterte farben die nicht vertuschen die frohe
botschaft wo das ende von weg ist : soweit noch verfügbar bitten um nachricht ständig am lager : fingerübungen auf
menschenleeren gesichtern nachts wenn nacht passiert und vorbeigeht."

In einigen Texten werden Wörter aneinandergereiht, die nichts anderes verbindet als ihr (statistisch erwiesener) etwa
gleichhäufiger Gebrauch. Daß Wörter wie "ist" oder "der" öfter gebraucht werden als etwa "grau" oder "rose", kann kaum
überraschen. Der Häufigkeitsquotient, der einem Speziallexikon zu entnehmen ist, spielt also in diesen Texten eine Rolle, und man
findet eine Strophe wie diese:

der ist die
graue rosen
das.

Fast alle Publikationen der Texter tragen unübersehbar Lehrbuchcharakter; sie demonstrieren neue sprachliche Strukturen und
trainieren die Lektürefertigkeit des Textlesers. Der Titel "fingerübungen" hat darin seine Berechtigung. Unschwer läßt sich der
Zeitpunkt absehen, zu dem es für alle Arten von Texten ein gültiges Modell gibt, das dann die Grundlage zu einer Textästhetik
abgeben könnte. Ob Döhl diesen folgerichtigen Weg einschlagen wird? Oder wird er doch noch seine in den "fingerübungen"
bewiesenen Spezialkenntnisse und Spracherfahrungen dazu benutzen, der bei seinesgleichen so verpönten Dichtung neue Impulse
zu geben?

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Kurz rezensiert
[M.E.] | fingerübungen

"Schönheit ist ein Satz der Wahrscheinlichkeitsrechnung". Das ist einer der "Sätze" , wie sie in den 50 Texten von Reinhard Döhl
von Seite zu Sei und Zeile zu Zeile ins Auge springen. Diese Fingerübungen sind eine Provokation. Doch Reinhard Döhl würde
sich als sehr bescheidener Mensch entpuppen, wollte man den Titel seines Lyrikheftes beim Wort nehmen Diese Finger gehören
zu einer durchaus eigensinnigen Hand, die wiederum einem dreisten, aber exakten Poetengehirn gehorcht. Döhl weiß viel. Nicht
nur die ästhetische Informationstheorie ist verstanden, sondern auch das Phänomen Märchen ist Zeilenprinzip. Und das
nuancierte Zitat gehört zum Stil. Und die Schreibmaschine. Und das Sachwörterbuch. Aber die einfachsten Satzreihen,
abgestiegen selbst bis zur Einsilbigkeit, vermögen Spachabgründe unter sich aufzutun, steigt man in sie ein. Döhl sagt etwa:
"nichts wider nichts". Er sagt "morgen war sonntag". Er sagt: "wind rose", oder er sagt: "wat hattu denn". Döhl sagt: "anwesend in
der sprache / entnehme ich die unschuld / mit beiden händen". Vorher darf er sagen: "ich mache etwas mit der sprache / und
gehe in ihr um". Er darf sagen: "meine märchen haben große augen." Er weiß: "das spiel der sprache / ist ein spiel gegen mich
selbst". Und: Es gibt keinen wahrscheinlichen Satz, der nicht unwahrscheinlich schön sein könnte - kann über diese Fingerübungen
Reinhard Döhls gesagt werden.

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Helmut Gumtau | Von Büchern und Schriftstellern

[...]

Reinhard Döhl, 1934 in Westfalen geboren, legt in dem Band "Fingerübungen" des Limes Verlages, Wiesbaden, 50 Texte,
Textreihen und Textgruppen vor. Der Philologiestudent Döhl hat 1960 und 1961 mit seiner zunächst abgeurteilten und dann
freigesprochenen "Missa profana" die Gerichte beschäftigt. So sehr Döhls Texte, das gilt damals wie heute, ein aller Konvention
abholdes Anti-Gefühl zur Schau stellen, können sie doch nicht ohne Anteilnahme, ohne Engagement entstanden sein. Man sollte
sich da nicht von Schnoddrigkeiten täuschen lassen. Schon die ältere Dichtergeneration litt unter der Ohnmacht, Empfundenes und
Geschautes in der Sprache, die solange eine Heimat war, nicht mehr ausdrücken zu können. Wenn zwei Menschen "namenlos"
zueinander finden, ist das Wort, so bekennt Döhl, "unsere einzige Abwesenheit". Er sagt: "Das Spiel der Sprache ist ein Spiel
gegen mich selbst" und "Das Haus der Sprache ist eine Metapher die klappert." Döhl nimmt Volkslied, Sprichwort und Märchen
auseinander. Er spielt - zuweilen tonmalend - Variationen ihrer auswechselbaren Glieder durch und erreicht eine Groteskwirkung,
auf die schon nach 1918 die Dadabewegung hinzielte, (soweit sie über ein bewußt sinnloses Lallen hinausging.) Wenn Döhl
eulenspiegelnd Wortbilder in das graphische Bild umsetzt, wenn er das Wort "Maus" absurd durchdekliniert oder eine Rose grau
werden und den Vögeln "Grauen" einflößen läßt, so folgt er Morgensterns Spuren. Gewiß, wenig ist an der Methode neu, manches
ist schon recht alt, aber das ist kein Einwand gegen Döhl, der Phantasie hat und sprachbegabt ist. Wenn das zur Formel erstarrte
Wort entlarvt wird, erhält auch die zerrissenste, paradoxeste Textfolge noch einen heimlichen Sinn; sie kann auf die
Beziehungslosigkeit unter jungen Liebesleuten, unter Geschäftspartnern, unter Menschen überhaupt hindeuten oder die Kälte der
privaten oder amtlichen Kommunikationsmittel parodierend fühlbar machen. In mindestens zehn Texten ist Döhl allerdings unter
Niveau. Er mixt Wortfolgen und Wortfetzen schülerhaft unverbindlich und macht es sich zu leicht: z.B. so: - "ist ist wo wenn schon
so wird wenn es hoch weil ich komme kommt wird wenn es weil wo wenn ist so ist wo weil wird wenn ist ist ist wenn so wird
wird weil ich wenn es hochkommt so ist es weil wenn schon so ist es ich komme" - Solch ein Gestammel ist weder originell noch
schockierend, höchstens langweilig und auf keinen Fall druckreif.

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Werner Rhode | Beispiele deutscher Gegenwartslyrik, kritische betrachtet.

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1. Sprecher
Dieses grundsätzliche Verstehen schließt natürlich nicht aus, daß man kritisch bleibt, auch dann, wenn Autoren das Wort "Lyrik"
gar nicht für sich in Anspruch nehmen, sondern etwa einen Band "Fingerübungen" vorlegen, wie es der junge, 1934 geborene
Reinhard Döhl tut. "Das Haus der Sprache ist eine Metapher die klappert", schreibt er und versucht, diesen Schaden experimentell
zu beheben. Dabei geht er längst nicht so radikal vor wie etwa die Laboranten der "movens"-Gruppe mit ihren
Schreibmaschinengrafiken. Döhl operiert - in der obligaten Kleinschreibung - mit Wortreihungen, Wiederholungen, Umkehrungen,
Spiegelungen, mit Zahlen, Klammern und Versalien. Das wirkt nicht sonderlich originell und und schon gar nicht aufregend, hat
aber einige interessante Aspekte. Manchmal steht da ein Text, der einfach und scheinbar unerheblich ist, es bei näherem Hinsehen
aber doch "in sich hat".

2. Sprecher
er hatte keinen beruf
er arbeitete manchmal
er wurde dafür bezahlt als man ihn fand
rein zufällig hielt er die hand auf
die leer war und die augen geschlossen
aus unerfindlichen gründen man
erfand einen selbstmord
mit dem man sich nicht länger aufhielt
um das leben nicht aufzuhalten gab man zu
daß er tot war und es zu protokoll.

1. Sprecher:
Hier wird deutlich, daß Döhl nicht nur mit der Sprache umgeht, sondern daß er auch in ihr umgeht, wie er selbst an anderer Stelle
sagt. Seine ganz persönliche Anteilnahme am Schicksal des fremden Toten ist - wiewohl geschickt verfremdet - unüberhörbar.

2. Sprecher
Ähnliche Versuche wie Döhl liefert Claus Henneberg in seinem Buch "Texte und Notizen". Er betreibt - nach seinen eigenen
Worten - die Aufzucht der reinen sprachlichen Mittel. Er montiert, kombiniert, assoziiert und variiert spielerisch-ernsthaft und
gelegentlich nicht ohne tiefere Bedeutung. Man muß abwarten, wohin solche Sprachmanöver führen. Vorerst hat es den
Anschein, als gefalle sich Henneberg in der "an Stelle eines Mottos" beschriebenen Rolle des syrischen Goldhamsters, der in
seinem Glaskäfig hartnäckig Befreiungsversuche unternimmt.

Zwei weitere Laboranten sind Max Hölzer und Ernst Meister. [...]

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Lesung Wiesbaden. Amt für Kulturpflege: Verleger und Autoren. Der Limes-Verlag stellt vier Autoren vor. Max
Niedermayer spricht über den Verlag. Hans Peter Keller, Grete Weil, R.D., Ludwig Harig lesen aus ihren Werken.
Städtisches Museum Wiesbaden: Großer Ausstellungssaal, 22.3.1963

[...] Nach dem subjektiven Eindruck von diesem Abend hielten wir Reinhard Döhl für die stärkste Begabung, Er las zunächst aus
seinem aphoristischen Buch "Fingerübungen", sodann die Kurzerzählung "Sie, dritte Person Plural". Die Geschichte eines
Abschieds ist hier zuweilen in paradoxe Wortspiele gekleidet. Döhl entwickelt eine Art von "negativer Poesie", die unserer kühlen
Zeit sehr gemäß ist, indem sie ironisch überwindet. [...]

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Limes-verlag stellt fünf Autoren vor.
Experimente mit der Form

[...] Reinhard Döhl, der durch einen Gottewslästerungsprozeß 1960 frühzeitige Publicity erhalten hatte, las Teile aus seinen
"Fingerübungen". Hier, wie in der abtrakten Kurzgeschichte "Die dritte Person Plural oder die einfachste Liebesgeschichte der
Welt", zeigte sich sein Bemühen, auf eigenwillige Weise in die Zwischenbereiche der Sprache vorzudringen, die Empfindungswelt
mit Worten zu realisieren. Ein Wortspiel mit der Schwermut, besonders zu erkennen in "Morgens sind dem Trompeter die Töne
entfallen". [...]

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Dietrich Segebrecht | Döhl, Reinhard: fingerübungen. 50 Texte. Mit 3 Grafiken v. G. K. Pfahler

Reinhard Döhl (geb. 1934) wurde bekannt, als er um seines Montage-Gedichtes "missa profana" willen wegen Gotteslästerung
angeklagt, verurteilt und erst in letzter Instanz freigesprochen wurde. Wie wenig Grund zu geistlicher Besorgnis eigentlich gegeben
war, zeigt jetzt die erste größere Veröffentlichung des jungen Autors. Sie enthält 50 Arbeiten, die streng nach den Vorschriften
der Benseschen Texttheorie hergestellt sind: Sätze und Verse, in denen Slang, Zitat, Märchenmotive und Lexikon-Auszüge
aneinandergefügt werden und in denen überraschende Schönheit ein Produkt des Zufalls ist. Die mitunter recht interessanten Ein-
und eben Fingerübungen werden Großstadtbüchereien empfohlen.

Dietrich Segebrecht | Kunststücke und Fingerübungen.

[...] "das haus der sprache ist eine metapher die klappert", meint Reinhard Döhl in seinen "fingerübungen". Sprache - das bedeutet
ihm lediglich Material, mit dem man basteln und experimentieren kann. Döhl schreibt also nicht Gedichte, sondern "Texte". "ich
mache etwas mit der sprache", heißt es bei ihm. Und so reiht er mit Hilfe von Zitaten, Slangausdrücken, Märchenmotiven und
Lexikon-Auszügen seine kühlen Sätze auf. Die Absicht dieser Texte ist es offenbar, zu zeigen, welche kuriosen Möglichkeiten es
gibt, ein Wort neben das andere zu setzen. Daß sich bei solchen Prinzipien dennoch mitunter überraschend schöne Fügungen
ergeben, ist eher Sache des Zufalls. Döhl macht allerdings kein Hehl daraus: "schönheit ist ein satz der
wahrscheinlichkeitsrechnung", bekennt er. - Vielmehr als Vor- und eben Fingerübungen (und natürlich das Eingeschworensein auf
Max Benses "Theorie der Texte") ist in diesen Arbeiten insgesamt nicht zu erkennen. Sie zeigen vorerst lediglich, daß der junge
Autor die Sprache beim Wort nimmt. Das aber ist nicht mehr als die Vorausetzung einer jeden sinnvollen Poesie. Und eines Tages
wird vielleicht auch Döhl uns eine solche Dichtung vorlegen.

Die Bücher von Rühmkorf und Meckel sind schon in mittelgroßen Büchereien ausgezeichnet zu gebrauchen. Größere
Stadtbüchereien sollten auch die Bände von Törne und Krolow bereithalten. Als ein letztlich doch recht interessanter Versuch
wird Döhls Lyrikheftchen den Großstadtbüchereien empfohlen. Pionteks neue Gedichte sind wohl nur zur Vervollständigung
seines bisherigen Werks geeignet.

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Curt Hohoff | Gedichte in dieser Zeit

[...] Reinhard Döhl macht "Fingerübungen" Dabei gelingen ihm verblüffende Einsichten: "schönheit ist ein satz der
wahrscheinlichkeitsrechnung". Döhl beruft sich dichtend auf den Philosophen Wittgenstein, und Max Bense reiht ihn unter die
experimentierenden Autoren. Gertrude Stein hat solche Experimente bereits vor 45 Jahren gemacht. Bei Döhl lesen sie sich so:
"gottogott gittegitt kattegat mama / die muselmanen sind muselmanen / wat hattu denn?" Wahrhaftig, so möchte man gern fragen.

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[NN] | reinhard döhl: fingerübungen. 50 texte. 3 grafiken v. georg karl pfahler

Wie für Gomringer gilt auch für Döhl "poesie ist für ihn in starkem maße ein gedanklicher und urteilender vorgang" (Max Bense).
Der Autor bedient sich jedoch nur in wenigen seiner Texte der puren Konstellation ("das häßliche"). Meist bleibt sehr viel
Intentionales erhalten, etwa in der vorzüglichen Reihe der acht "Märchen", deren Titel schon ein bestimmtes Programm
(Umwertung traditioneller literarischer Formen und Inhalte) abgibt. Die Umwertung ist zweifellos eine Aufwertung der Sprache,
indem sich die Worte auf eine neue geistige Dimension besinnen: Als elementares Material gehandhabt, erhalten sie neue
Darstellungsfunktionen, gereinigt vom Ballast der Alltagsbedeutungen und voller Bemühung um unerwartete "Botschaften" ("ein
geschäft erledigen", "apfelsinenkisten"). Erwähnenswert die zeitweise angewandte Methode der Ironie, die sich im Rahmen der
verschiedenen Fingerübungsverfahren ergibt ("er hatte keinen beruf") und die als willkommenes "Abfallsprodukt"
logisch-montierenden Vorgehens begrüßt wird.

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[NN] | Döhl dans Fingerübungen ...

Ludwig Harig, Claus Henneberg et Reinhard Döhl font eux aussi partie du Groupe de Stuttgart. Döhl dans Fingerübungen nous
présente une poésie qui, comme le titre l'indique, est tactile, fondé en général sur quelques mots jouant, travaillant les uns sur les
autres, tenus en forme par on ne sait quelle mystérieuse main - l'air, l'espace, la langue elle-même? Cette poésie syncopée,
rythmée presque toujours simplement comme le c�ur, s'inscrit et continue étrangement de battre dans la mémoire comme
s'il s'agissait d'un organe.

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Vgl. auch Jürgen P. Wallmann u.a. | Schmarotzen als Stilprinzip