Reinhard Döhl | Prosa

Dämmerung

Der Mond war untergegangen, wo, wie er jeden Morgen untergeht: mit einem gelben Schimmer über den nachtkalten Bergen. Nur die Sterne frösteln noch am Himmel. Aber die sind weit.

Und auf der Erde ist es dunkel. Grau und frierend hängen Häuser und Bäume vor dem Oktoberhimmel. Aber er sieht es nicht, er, der Unbekannte. Vielleicht denkt er, so, wie er manchmal denkt: an das Geld, an den Hunger, an Gott. Der gehört nur noch in die geheizte Kirche. Das ist es warm. Da kann man zuhören. - Aber draußen ist es kalt, und der Mensch friert.

Er hatte ja gar nicht leben wollen. Aber daran war er nicht schuld. Vielleicht seine Eltern, die hatten ihn doch hierhingestellt. Aber die kann er nicht fragen, die sind tot. Einfach fort aus dem Leben. Und er war da, und es war kalt.

Er geht weiter, etwas langsam weiter. Seine Augen sind groß: voll Schmerz, voll Klage, so, wie viele Augen voll sind. Aber die Menschen sehen es nicht, und der Mond war untergegangen.

Vielleicht, denkt er, und er lächelt verzerrt, vielleicht sollte ich beten, Worte sagen, vielleicht?! - Aber dann geht er weiter. Und er betet nicht.

Es ist kalt. Und er ist draußen. Viele sind draußen. Aber er ist allein draußen: und das ist kalt, so, wie jetzt. Und die Zähne schlagen aufeinander.

Langsam dämmert es schon. Manchmal brennen die Menschen schon Lichter. Irgendwo riecht es nach Kaffee. Und es riecht warm und nicht allein. Er sieht in das Fenster. Mühsam hängt er auf einer Mauer. Die Finger sind kalt. Aber sie halten fest: vielleicht aus Hoffnung.

Und dann geht er weiter. Er hat ein Kind lachen gehört. Und das war warm.

Und dann geht er weiter: Unerkannt.

Vielleicht friert er sogar nicht mehr. -

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Vor der Stadt trifft er den anderen, und der hat eine Brille. Sonst sieht er genauso aus wie er, der Unbekannte. Und der mit der Brille umarmt ihn und sagt: Bruder. Vielleicht friert er auch, denkt der Unbekannte. Aber er freut sich. Und sie gehen weiter. Und sie haben keinen Hunger.

Weißt du, sagt der mit der Brille, (und er ist einmal Lehrer gewesen), weißt du, sagt er, ich glaube, ich bin glücklich.

Was ist das, fragt der Unbekannte, glücklich? Ist das so, als ob man satt ist, oder, wenn man nicht friert?

Nein, sagt der mit der Brille und geht weiter. Und der Unbekannte geht mit. Vielleicht möchte er gerne wissen, was glücklich ist. Vielleicht möchte er auch gerne bei dem sein, der Bruder gesagt hat. Aber so genau weiß er das nicht.

Es ist immer noch grau auf der Erde, sagt er endlich. Und dann geht er still weiter, vielleicht weil er überlegt, was er gesagt hat, vielleicht, weil er nichts mehr sagen will. Immer noch frieren die Sterne am Himmel. Und auf der Erde ist es kalt.

Was ist glücklich, fragt der Unbekannte, und er hat Angst.

Wissen, sagt der mit der Brille, wissen, daß wir alle suchen: den Sonnenaufgang: das neue Licht.

Und auf der Erde ist es grau, denkt der Unbekannt. Und darum habe ich Angst... Daß wir alle suchen, sagt er, - du vielleicht. Aber die Anderen? Nein! Die sind satt. Die haben es warm. Die sind zufrieden.

Nein! sagt der mit der Brille. Und er denkt an das Paradies: aber da wohnt keiner mehr. Und das ist leer und öde. Vielleicht müssen die Menschen kommen und dort wohnen. Aber die finden es nicht, weil sie nicht richtig suchen. Das sagt er jedenfalls dem Unbekannten.

Und der deutet mit der Hand rückwärts.

Und da ist es grau.

Und dann sagt der mit der Brille, daß das Paradies vor ihnen läge. Aber der Unbekannte sieht es nicht.

Vielleicht muß erst die Sonne aufgehen, denkt er, aber so genau weiß er das nicht.

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Und dann geht die Sonne auf: ganz klar

Und über einen taufrischen Acker gehen zwei Spuren...

Und die Sonne war aufgegangen wie immer.

[1952]

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