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Reinhard Döhl | Vom Mythos zur Science Fiction

Das Werk Atilas ist vielschichtig in mehrfacher Hinsicht Seine Wurzeln reichen zurück in die 50er Jahre, wo sich erste Spuren in einem durch die Namen Baumeister; Bense, Debus gebildeten Dreieck und in der Lithografie-Werkstatt der Stuttgarter Gruppe 11 ausmachen lassen, in der Atila Farben auf Lithosteinen verrieb und ersatzweise mit einer Farbigkeit zu spielen begann, die seine Arbeiten bis heute charakterisiert. Daß und warum ihn dann seine Entwicklung die Ende der 50er; Anfang der 60er Jahre durch eine schwere Krise unterbrochen wurde, von einer scheinbar konstruktiven zu einer vitalen, von einer spekulativen zu einer intuitiven Malweise führte, wird abschließend zu beantworten sein.

Das Werk Atilas ist zweitens vielschichitg, weil es neben Zeichnungen, Aquarellen und Olbildem durchaus gieichgewichtg lntegrationsversuche von Kunst und Architektur umfaßt die sich in Form von Mosaiken, Wandmalereien, Beton-Environments, Keramiken und Platten mit Emailmalerei realisieren. Hier ist Atila einer der wenigen Maler, für die Kunst-am-Bau nicht ein zusätzliches aber lukratives Geschäft darstellt, bei dem Bild- und Atelierprobleme mehr oder meist weniger glücklich für ein anders geartetes Medium adaptiert werden. Bei Atila ergänzen sich vielmehr architektonisches Wissen und künstlerische Intention des Malers auf fruchtbare Weise, erweist sich, daß Kunst auch Architektur sein kann, daß Architektur nicht ohne Kunst sein sollte. Erfolgreiche lntegrationsversuche Atilas resultieren dabei nicht nur aus dem Wie, sondern auch aus dem Was, aus der inhaltlichen Vielschichtgkeit und Spannung der Atilaschen Kunst.

Welcher Art diese Vielschichtigkeit drittens ist, läßt eine Radierung von 1975 in einer ersten Annäherung ablesen. Dem Betrachter erkennbar sind - von unten nach oben - ein tierähnliches Wesen mit menschlichen Extremitäten, das in auffälliger Weise auf dem Boden sitzt. Auf ihm hockend ein menschliches Wesen, auf dessen Kopf sich ein hutähnliches Gebilde befindet, das zugleich als Propeller angesehen werden muß, Das tierähnliche Wesen hat eine Schlange im Maul, die - wenn auch nicht mehr eindeutig als Schlange erkennbar - auf der linken Seite der Zeichnung zweimal repetiert ist, wobei einmal eine Verbindung von dem menschen- zum tierähnlichen Wesen hergestellt wird, undzwar zwischen dem (verdeckten) Mund des menschen- zur nach oben aufgehaltenen Hand des tierähnlichen Wesens. Im dritten Fall schlängelt die Schlange aus der nach oben aufgehaltenen Hand nach unten. Tier- und menschenähnliches Wesen wenden dem Betrachter den Rücken Die Köpfe sind jeweils Im Seitenprofil gegeben.

Bereits dies würde vordergrünndig Sinn ergeben. Die Schlange als ein Tier; das kriechend der Erde verhaftet ist; das tierähnliche Wesen, das sich dank seiner Extremitäten von der Erde erheben kann; das menschenähnliche Wesen, das - ebenfalls der Erde verhaftet - sich das tierähnliche Wesen untertan gemacht hat und sich, dank seiner technischen Intelligenz, den uralten Traum vom Fliegen erfül!en, also zeitweilig von der Erde abheben kann: der Mensch zwischen Tier und Technik, zwischen Himmel und Erde. Nur - das hätte man auch ganz anders darstellen können Und - Atilas Radierung will das auch gar nicht zeigen.

Bereits die auffällige Dreigliederung - 3 Schlangen / 3blättriger Propeller / Tier Mensch Flugzeug / kriechen sitzen fliegen - deutet auf Hintergründiges. Und die auffällige Sitz- bzw. Hockweise des tier- bzw menschenähnlichen Wesens weist die Richtung. Das links angezogene Bein bei beiden, beim tierähnlichen Wesen das rechts abgewinkelte Bein, wobei der Unterschenkel weit zurückgebogen ist, der Fuß das Gesäß berührt, das nach oben ausgestreckte rechte Bein des menschenähnlichen Wesens, die Handhaltung des tierähnlichen Wesens - all dies deutet auf Indien, wobei man beim menschenähnlichen Wesen an erotische Zeichnungen und Miniaturen, beim tierähnlichen Wesen nicht nur an mythologische lkonographie denken mag.
Damit stößt der Betrachter beinahe schon an die Grenze des mit dem Auge Wahrnehmbaren, wird aber ohne der Spekulation zu verfallen - noch nach der Spezies des tierähnlichen Wesens fragen dürfen, dessen Kopfform auf Rind oder Stier verweist (besonders, wenn man sich die Schlange aus dem Maul fort auf den Schädel verpflanzt vorstellt). Die menschlichen Extremitäten ordnen dieses rind- oder stierähnliche Wesen dem Bereich der Mythologie zu. Und ein abendländischer Betrachter ird vieleicht als erstes an den Minotaurus denken. Doch ist der Minotaurus so abendländisch garnicht und hat im Nandi, dem Reittier des Gottes Shiva, einen indischen Verwandten. Dieser titanische Stier gilt als Sinnbild der männlichen Zeugungskraft, durch die das Dasein der Erde (indisch Go Kuh genannt!) immer wieder neu erschaffen werde Derselbe Nandi wird gelegentlich auch als stämmiger Mann mit einem Stierkopf dargestellt. (1)

Einmal auf diesem Wege, sind ergänzende und weiterführende Anmerkungen möglich. So ist mir ein Relief bekannt, auf dem Shivas Gattin Kali auf einem Stier stehend dargestellt ist, auch wird Shiva gelegentlich, von wilden Gestalten umgeben, unter seiner Gattin Kali liegend abgebildet. Zu den Shiva umgebenden, mit ihm in Beziehung stehenden Tieren zählt neben dem Stier; neben Löwe und Tiger auch die Schlange. Noch einen Schritt weiter kommt man, denkt man noch einmal an Kreta zurück. Minotaurus, der Verwandte Nandis, lebte in einem Labyrinth (2), das der sagenhafte Techniker und Architekt Daidalos gebaut hatte. Daidalos war aber nicht nur der Erbauer des Labyrinths, er konstruierte für Pasiphae, die Gattin des Minos, auch jene künstliche Kuh, in der sie sich vom Stier begatten ließ und den Minotaurus empfing. Daidalos fertigte ferner für sich und seinen Sohn Ikaros die Flügel, mit deren Hilfe sie ihre tragische Flucht nach Sizilien wagten, und gilt seither als Erfinder des menschlichen Fluges, den Atila mehrfach, unter anderem in einer in diesem Zusammenhang interessanten Radierung gestaltet hat. Derselbe Daidalos war es schließlich, der den Faden spann, den Ariadne Theseus schenkte, ihm damit die Rückkehr aus dem Labydrith ermöglichend. Dieser Faden, erklärt die Symbolforschung, verbinde esoterische Technik mit kosmischer Liebeskraft, die besonders im indischen Tantnsmus von zentraler Bedeutung sei. Möglicherweise sei sogar - die Verbindung mit den kretischen Mysterien weise darauf hin - mit dem Ariadnefaden die Kundalini, die aufsteigende Schlange der Lust und der Erkenntnis gemeint.

Uber diesen Umweg ließe sich auch zu der Schlange, den Schlangen auf Atilas Radierung noch etwas anmerken. Die Kundalini gilt der indischen Mythologie als Zeichen der in den unteren Regionen des Körpers gespeicherten Energie, auf der [...] die psychologische Struktur des Menschen beruhe. Sie werde durch vorbestimmte Rituale geweckt und durchlaufe die im menschlicher Körper angelegten psychischen Zentren, um bis zur höchsten spirituellen Ebene der vollkommenen Entfaltung aufzusteigen, Das eröffne dem Menschen die Möglichkeit, seine Vorstellungen bewußt zu realisieren. Ziel der vollkommenen Entfaltung sei das Wachrütteln der schlafenden Zonen des menschlichen Gehirns, das Öffnen des nur gering genutzten Speichers von Gedanken und Bildern. Der Prozeß des Aufstiegs vollziehe sich durch asana, die Vereinigung von Mann und Frau. Ihre sexuelle Kraft werde in einen Strom umgewandelt, der kosmisches Bewußtsein entstehen lasse; das Dritte Auge werde geöffnet. Symbolisch werde die Kundalini als Feuerschlange dargestellt, welche im Normalfall unaufgerojlt in den unteren Regionen des Körpers verharre. Einen Vergleich mit dem Phallus oder Lingam (3) herzustellen sei nicht schwer.

Für den Betrachter der Atilaschen Radierung ist es jetzt möglich, ausgehend von diesem Vorwissen, eine Verbindung zu den Schlangen, dem phallusähnlichen Gebilde am Gesäß des tierähnlichen Wesens, zur Empfängnishaltung der frauenähnlichen Gestalt herzustellen. Um nicht mißverstanden zu werden: ich will mit dem zu dieser Radierung Gesagten nicht behaupten, sie oder andere Arbeiten Atilas ließen sich so ohne weiteres in mythologischer Allegorese Strich um Strich, Figur um Figur auslegen. Hier müßte manches unerklärt bleiben, so bereits, daß Atilas Schlangen nicht aufsteigen, sondern sich diagonal nach unten bewegen Dennoch ist in seine Radierung (vor allem durch das untere tierähniche Wesen) soviel mythologische Anspielung eingelegt, daß sich folgern läßt: die künstlerische Produktion Atilas bezieht wesentliche Energien aus der mytholgischen Anspielung, die zugleich eine wesentliche Bildschicht ist.

Die mythologischen Anspielungen Atilas erfolgen dabei keineswegs immer so eindeutig wie in der diskutierten Radierung. Vielmehr lassen sie sich oft nur indirekt oder auf Umwegen erschließen. Das gilt vor allem für die mythologischen Anspielungen, die auf dem Wege vom Vorbild zur Bildlösung bis ins kaum noch Erkennbare zurücktreten. Hier wäre als Exkurs einzuschalten, daß die Arbeiten Atilas keine (wie auch immer gearteten) Abbildungen von Wirklichkeit, keine - wie Atila formulieren würde - Imitation der Natur sind, daß ihre Vorbilder vielmehr oft in Museen hängen. Atila ist der besessenste Museenbesucher, den ich kenne. Zahlreiche gefüllte Skizzenbücher belegen diese Besessenheit. Und jede gewissenhafte Auseinandersetzung mit seinem künstlerischen Werk müßte diese Skizzenbücher einbeziehen. Denn nur mit ihrer Hilfe läßt sich zuverlässig ermitteln, was Atila beim jeweiligen Vorbild besonders ins Auge fiel. Nur mit ihrer Hilfe läßt sich im Enzelfall die für Atilas künstlerische Arbeit bezeichnende Bildgenese von der Skizze über das Aquarell, die Zeichnung zum endgültigen Ölbild (Emailbild oder Mosaik) studieren, ließe sich auch im Einzelfall ermitteln, welche mythologischen Anspielungen sich auf den Bildern zum Teil noch verbergen. Das gilt vor allem für diejenigen Arbeiten, deren Vorbilder im zeitlichen Umfeld der Renaissance aufzusuchen wären, einer Zeit, die die Mythen der Antike neu entdeckte und den traditionellen christlichen Bildinhalten oppositionell und austauschbar (Venus versus Madonna) an die Seite stellte. Aber auch Atilas zerstörte Madonnen- und Christusbilder wären in diesem Zusammenhang zu diskutieren.

Ein zentrales, fast allen Arbeiten Atilas gemeinsames Zitat ist der Regenbogen, den er allerdings nicht figürlich zitiert, wie dies zahlreiche Künstler von der Renaissance bis zur Gegenwart mit den unterschiedlichsten Intentionen (4) taten. Atila setzt ihn vielmehr zerbrochen in einer Doppelfunktion ein, als Farbprogression (Atila), also konstitutive Farbstruktur des Bildes, und zusleich mythologische Anspielung. Dabei bleibt unerheblich, daß dem Regenbogen in den unterschiedlichsten Kulturkreisen unterschiedliche Qualitäten zugewiesen waren, die vom Versöhnenden zum Bedrohlichen fächerten, denn spätestens seit der Renaissance gewinnt der Regenbogen eine übertragene Qualität, wird er Sinnbild der Kunst als Brücke zwischen Himmlischem und lrdischem und zugleich Symbol für die Grenzen der Naturerkenntnis, aber auch der unstillbaren Sehnsucht
des Menschen. Wenn Atila den Regenbogen als Figur zerbricht oder auflöst, ihn scheinbar nur noch farbmaterial einsetzt, nimmt er ihm entsprechend jeden eindeutigen mythologischen Bezug.

Daneben ist zu berücksichtigen, daß der Regenbogen außer seiner antik-heidnischen und christlichen seit der Renaissance noch eine zusätzliche Qualität gewonnen hat: als Wasserzeichen des melancholischen Künstlers. Das läßt sich mit Dürers "Melencolia 1" und zahlreichen, in der Nachfolge dieses Stichs entstandenen Arbeiten ebenso leicht belegen wie mit den Goethe-Versen

Zart Gedicht wie Regenbogen
Wird nur auf dunklen Grund gezogen;
Darum behagt dem Dichtergenie
Das Element der Melancholie -
eine Einsicht die Goethe so wichtig war, daß er sie gleich zweimal formulierte. prosaisch an zentraler Stelle in "Wilhelm Meisters Lehrjahren" (VII, 1) und in Gedichtform in der Sammlung "Sprichwörtlich", aus der ich zitierte. (5)

Eine zweite zentrale Bildschicht Atilas war in der Radierung, von der ich ausging, als Propeller vorgegeben, in der Anspielung technischer Zivilisation. Auch sie begegnet nicht nur in der planen Abbildung ihrer Erscheinungsweisen, sondern in Abbreviatur und merkwürdiger Künstlichkeit in der Figur zum Beispiel eines
Traktormenschen ("l'homme-bulldozer", 1975) oder als mechanischer Spaziergang ("promenade méchanique", 1978). Zunehmend gewinnt dabei die Welt des Fliegens, der Raumfahrt an Bedeutung, etwa im Mosaik einer Weltraumstation ("station spatiale", 1977) oder - und da ist es bereits science fiction - in der Darstellung zweier galaktischer Wächter ("gardiens galactiques", 1980). Wie ernst Atila diesen futurologischen Aspekt seiner Kunst meint, könnte ein großes Bild belegen, für das Atila sicher nicht zufällig den Titel "Vom Grund der Zukunft" ("du fond de l'avenir", 1982) gewählt hat. (6)

Als Kurzschluß läge die Vermutung nahe, Atla versuche mit seinen beiden zentralen Bildschichten zwei Urfragen zu bündeln a) in den mythologischen Anspielungen die Frage nach der Herkunft des Menschen und den Mustern, die sein Fühlen und Denken, sein Verhalten im Grunde bestimmen; b) in den Anspielungen technischer Zivilisation und der science fiction die Frage: wo gehen wir, wo führt das hin? Aber läßt sich das so einfach schließen? Ich meine nein. Und gerade das "Vom Grund der Zukunft" überschriebene Bild scheint mir geeignet, dies zu illustrieren, indem es die menschliche Figur einkapselt und vor diese Kapsel ein zusätzliches Gitter spannt. Wie auf diesem haben auch auf anderen Bildern Atilas technische Zivilisation und science fiction in ihrer deformierten Anspielung und Erscheinungsweise, in ihrer Unwirklichkeit etwas Unheimliches und Bedrohendes. Der Mensch kann heute zum Mond fliegen, der im alten Rom noch die Qualität einer Göttin hatte. Was ist damit gewonnen? Ikaros kam bei seiner und seines Vaters Flucht von Kreta nach Sizilien der Sonne zu nahe und stürzte ab. Daß Atila diesen Absturz 1976 in einem Mosaik dargestellt hat ("icare"), sollte man nicht übersehen. (7)

Mythologische Anspielung und die Anspielung der technischen Zivilisation sind in der künstlerischen Produktion Atilas kontrapunktierend einander zugeordnet. Wenn die alten Babylonier, Ägypter, Griechen, Römer zum Sternenhimmel aufschauten, sahen sie in den Tierkreiszeichen göttliches Wirken symbolhaft ausgedrückt. Aus ihrem bewundernden und auch erschreckenden Anschauen heraus entstanden die Sagen und Mythen. Dem Menschen der technischen Zivilisation, der sich seinen alten Wunschtraum vom Fliegen längst erfüllt hat, sind die Sterne greifbar nahe gerückt. Der Kriegsgott Mars, der seine Kinder verschlingende Saturn, der auf der Flucht vor Zeus in Latium das goldene Zeitalter begründete, Venus, die lateinische Göttin der Liebe, sind ihm als Gestirn kaum mehr ein Rätsel. Aber das in den Sagen um sie, das in den Mythen eingeschlossene Wissen, die Weltordnung der Mythen hat er verloren. Und die Zukunft ist ungewiß.

Aus dieser Erfahrung des Mythenverlusts, aus der beängstigenden Ungewißheit der Zukunft bezieht Atilas künstlerische Produktion ihre Spannung Und sie versucht das Unmögliche, wenn sie versucht, beides im zerbrochenen Regenbogen noch einmal zu verbinden. Daß Atila mit Hilfe dieses zerbrochenen Regenbogens auch versucht, seine Hoffnung auf die Zukunft, eine neue Mythologie zu formulieren, ist die provozierende Absurdität seiner Kunst: ein moderner Mythos vom Sisyphos. (8)

Ich komme zum Schluß. Ich sprach eingangs von der gravierenden Krise, durch die Atilas künstlerische Entwicklung zunächst unterbrochen wurde, mit der sie erst eigentlich begann. Was Atila aus dieser Krise herausbrachte, war die Entscheidung für Farbe (was seinem persönlichen Temperament auch mehr entsprach als seine frühen Versuche konstnuktiven Malens), war seine Entdeckung des Mythos. Was Atila in einem Brief einmal den Schritt vom Concreten zum Mythos genannt hat, bezeichnet genau dies. Für ihn als Künstler war es der Gewinn einer Grundhaltung, der weder das Konkrete noch die damit verbundene Reduktion, der weder das Kalkül noch die Spekulation entsprachen.

In einer grundsätzlichen Unterscheidung hat Friedrich Schiller für den Dichter, was aber übertragbar ist, zwischen dem Typ des naiven und dem des sentimentalischen Künstlers getrennt, zwlschern dem - wie er es ursprünglich und für heutige Ohren geeigneter nannte - intuitiven und spekulativen Künstler. Der spekulative Künstler suche aus der Distanz nach der - durch Kultur und Zivilisation verlorenen - Einheit mit der Natur; sehe in ihr ein erstrebenswertes Ideal, daß er - als Idealist - in der Darstellung der Idee verkörpere. Man könnte, würde man statt Natur Mythos setzen, Günther C. Kirchberger, einen anderen Maler der Gruppe 11, einen derart spekulativen Künstler nennen. Intuitive Kunst sei dagegen - jetzt wieder in Schillers Worten - durch die Nachahmung des Wirklichen der sie umgebenden Natur bestimmt, einer Natur, die schon längst auf dem Wege sei, aus dem menschlichen Leben als Ertahrung [...] zu verschwinden. Der nach Erfüllung im Irdischen strebende intuitive Künster sei noch, genialisch, im Einklang mit der ursprüngIichen Schöpfung. Auch hier möchte ich statt ursprünglicher Schöpfung, statt Natur wieder Mythos sagen und festhalten, daß Atila in diesem Sinne ein intuitiver Künstler ist, der den (dem menschlichen Bewußtsein weitgehend entzogenen) Bereich des Mythischen durch seine künstlerische Produktion noch einmal in Einklang zu bringen versucht mit einer immer schneller fortschreitenden Wirklichkeit in der er lebt.

[Kulturamt der Stadt Sindelfingen, 20.1.1983]


Anmerkungen
1) Dies und die folgenden Zitate sind entnommen dem von W. Bauer; I. Dümotz u.a. herausgegeben "Lexikon der Symbole". Wiesbaden 1980.
2) Es ist hier nicht nur am Rande interessant, daß das Labyrinth, der lrrgarten, in dem die Stiermenschen, der Minotaurus auf die Helden lauern, um sie zu vernichten, in allen vergleichbaren antiken Mythen verstanden werden darf als Bild der venwirrenden Erscheinungen der Welt. - Zum expIosionsartigen Wiederauftauchen dieses Motivs in der Renaissance vgl. G. R. Hocke, "Die Welt als Labyrinth". Hamburg 1957.
3) Das Linga (auch Lingam/Lingham), Symbol Shivas, wird als Säulenstumpf oder naturalistisch dargestellt.
4) Vgl. Ausstellung und Katalog "Regenbögen für eine bessere Welt", Stuttgart 1977. - Leider und unverständlicher Weise zählten Atilas, Kirchbergers und gewichtige Arbeiten anderer Künstler der Vergangenheit und Gegenwart zu den Desiderata dieser Ausstellung.
5) Der Regenbogen begegnet überhaupt mit einer auffälligen Häufigkeit im Goetheschen Werk: "Schäfers Klagelied", "Regenbogen (über den Hügeln einer anmutigen Landschaft)", "Äolsharfen"; amüsant ist die Palinodie "Regen und Regenbogen"; politisch erscheint er im VII. der "Karlsbader Gedichte"; in "L' amour véritable« kommt er als Iris en lair einher; zu nennen wären auch die Gedichte "Phänomen" und "Liebliches" aus dem "Buch des Sängers" im "Westöstlichen Divan". Ähnlich zahlreich sind die Belege außerhalb des Gedichtwerks, wichtig die in den naturwissenschaftlichen Schriften - ein Befund, der so ziemlich alles abdeckt, was dem Regenbogen bis dahin qualitativ zugewiesen wurde.
6) Als Weltraum-Malerei hat im Dezember 1980 Pierre Garnier, der 1963 bereits einen "Plan pilote fondant le Spatialisme" publiziert hatte, die Malerei Atlas charakterisiert und in einem längeren Katalogbeitrag formuliert:
La peinture d'Atila c'est d'abord l'art de la lumière dans l'espace, l'art ec l'espace dans la tumière. L'homme ici participe au souffle lumineux.
Atila parle longtemps d'un art supranational; iI pourrait dire spatial; on ne comprend vraiment cet art que si on quitte la terre, que si on s'élève. Dans Ia lumière.
Le visage prend alors es cernes de la clarté dans la lumière, de la lumière dans la clarté.
7) Vgl. die Darstellung Herwarth Röttgens, "Daedalus und Ikarus. Zwischen Kunst und Technik, Mythos und Seele". In,' Kritische Berichte, Jg. 12,1984, H. 2 und 3, mit zahlreichen Bildnachweisen auch der Gegenwart. Auffallend ist die Häufigkeit, mit der das lkaros-Thema in den 70er und frühen 80er Jahren auch im deutschen Südwesten begegnet z.B. 1980/81 in den Ikarus-Zeichnungen Fritz Ruoffs, 1974 in zwei Kreidezeichnungen Uwe Ernsts ("Ikarus 1,2") oder 1971 als Kaltnadelradierung Ulrich Zehs ("Ikarus").
8) Vgl. in Albert Camus' grundlegendem "Le Mythe de Sisyphe" (1943, deutsch: Der Mythos von Sisyphos, 1950) speziell Teil III: "Das absurde Kunstwerk". - Wenn auch Camus sich in diesem Kapitel ausschließlich auf Philosophie und Literatur bezieht, so sind seine Überlegungen indirekt auch auf die bildende Kunst übertragbar, insbesondere seine Gedanken zu einer Schöpfung ohne ein Morgen, die unter anderem die Überzeugung formulieren, daß der Kunst [...] nie so gut gedient werden könne, wie mit einem negativen Gedanken. Ihre dunklen und demütigen Schritte seien für den Geist eines großen Kunstwerks ebenso notwendig wie dasSchwarze für das Weiße. "Für nichts" arbeiten und schaffen, in Ton meißeln, wissen daß sein Werk keine Zukunft hat, sein Werk in einem Tage zerstört sehen und wissen, daß das im Grunde genommen nicht wichtiger ist, als für Jahrhunderte zu bauen - das ist die schwierige Weisheit, zu der das absurde Denken bevollmächtigt. Diese beiden Aufgaben gleichzeitig nebeneinander durchführen, einerseits leugnen andererseits erhöhen - das ist der Weg, der sich dem absurden Künstler öffnet. Er muß dem Leeren seine Farben geben. (S. 94). Deshalb fordert Camus vom absurden Kunstwerk, was er vom unzufriedenen Denken verlangt: Auflehnung, Freiheit und Mannigfaltigkeit (S. 96). Denn das Los dieses unzufriedenen Denkens bestünde nicht mehr darin, sich selbst zu verleugnen, sondern in Bildern aufzugehen. Es wird spielerisch - in Mythen sicherlich, aber in Mythen, die keine andere Tiefe haben als die des menschlichen Schmerzes und wie diese unerschöpflich sind. Nicht in der göttlichen Fabel, die unterhält und bIind machte, sondern in Gesicht, Tat und Drama dieser Erde vereinigen sich eine wunderliche Weisheit und eine Leidenschaft ohne ein Morgen. (S. 97)