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Reinhard Döhl | Von der schönsten Nebensache der Welt

Es gab einmal einen deutschen Dichter, der so leidenschaftlich gern Schlittschuh lief, daß er darüber gleich mehrere Oden verfaßte. Besonders drei dieser Oden wurden von der Literaturgeschichte als "makellose Begleitbilder des zugehörigen gymnastischen Vorgangs", als "Tänze und Läufe des Geistes" bewertet, "die den Bewegungen des Leibes aufs Akkurateste folgen Und da sich der Dichter "auch um die künstlerische Vollendung des Eislaufsports unermüdlich" bemüht habe, könne man von ihm "mit Fug behaupten, er habe auf diesem Gebiete musischer Betätigung wirklich der antiken Orchestik Ähnliches angestrebt: ein Gesamtkunstwerk aus Tanz, Dichterwort, Mimik und Musik" (1).

Der Eisläufer, von dem hier die Rede ist, hieß Friedrich Gottlieb Klopstock, und seinem Beispiel folgten alsbald die Autoren aus der Generation des jungen Goethe, indem sie den Eislauf zur modischen Lieblingsbeschäftigung der Winterzeit machten. Aber das ist lange her.

Es gab einmal ein Land, in dem obsaß ein Minister der Kultur. Und wenn er nicht der Kultur obsaß, dann oblag er dem Sport. Diese friedliche Ab- und Nachfolge von Haupt- und herrlichster Nebensache der Welt ist ebenso märchenhaft, wie jene Gentilphase der griechischen Gesellschaft Vergangenheit ist, in der die Sportstätten direkt an Kultstätten angeschlossen waren (2). Pindars berühmte Olympische Oden oder der nicht weniger berühmte Diskuswerfer von Myron sind heute allenfalls noch Gegenstand altphilologischer oder kunsthistorischer Seminare, die Entfernung von der Kult- zur Sportstätte unüberbrückbar.

Umgekehrt gab es in jüngerer Vergangenheit immer wieder bildende Künstler und Schriftsteller, die den Sport als Gegenstand entdeckten und sich ihm, je nach ihrer Neigung zustimmend oder kritisch, erneut zuwandten. "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" zum Beispiel wurde durch Peter Handke sprichwörtlich, die Frankfurter Eintracht durch Ror Wolf, Fortuna Düsseldorf durch Ferdinand Kriwet, der 1. FC Saarbrücken durch Ludwig Hang literaturfähig gemacht, der zusammen mit Dieter Kühn auch den größten Sportmuffeln unter den Lesern klar machte, daß "Netzer [...] aus der Tiefe des Raumes" kam. In der bildenden Kunst war es vor allem Fritz Genkinger, der den Fußball schon Mitte der 6Qer Jahre auch auf die Leinwand bannte: Dorfkicker zunächst, deren Profikarriere er zunehmend einem Prozeß der Verfremdung und ironischen Brechung unterwarf.

Günther Wirth hat in seiner Bestandsaufnahme der "Kunst im deutschen Südwesten" auch Genkingers Entwicklung als Sportmaler skizziert, und ich darf ihm ein paar Sätze weit folgen. "Zunächst erscheinen", schreibt Wirth, die Fußballer "als naive Formulierungen, als Dorfkicker. Doch dann" lade Genkinger sie "mit einer neuen Formidee auf, die sich mit dem Begriff 'zentrierte Kraft' umschreiben" lasse. Diese versammle er "nicht nur in einem einzigen Spieler, der fast das ganze Spielfeld" ausfülle, "sondern bis hin zu einem Spielerrücken mit überbetonter Plastizität, Jahre darauf in einer Rückennummer. Beim Spieler als Ganzfigur" werde "die 'zentrierte Kraft' simultan in Bewegung gesetzt. Aus den Dorfkickern" seien "Ende der sechziger Jahre längst Profis geworden, ablesbar zum Beispiel am 'Bomber mit dem großen Schuh'". Doch obwohl sich "um 1970 [...] zu den Fußballern" mit den "Stabhochspringern, Turnern und Athleten" auch Vertreter "anderer Sportarten" gesellten, bleibe "das Thema Sport", so populär es in seiner Wirkung sei, "im Grunde nur Vorwand für Malerei, die in ihren Verfremdungen ironische Aspekte" aufweise. "Ein Kopf" werde "zum Ball, ein Ball zum Gestirn, der ins Weltall" fliege, "ein Spielerrücken zum Feld. Elementare Farbspannungen interessieren den Maler, der sich im Formalen ein Vokabular gegensätzlicher Elemente erarbeitet, wie von Ruhe und Bewegung, Fläche und Raum, Szene und Isolation, Positiv- und Negativform, Nah- und Fernsicht, Ausschnitt-Anschnitt, Volumen und Schicht [...], Organischem und Konstruktivem". Schließlich - so Günther Wirth - verändere ein Parisaufenthalt 1973 Genkingers Kunst, ende die Phase der Sportbilder (3).

Ich habe mich bei diesen Sportbildern Fritz Genkingers, ihrer Bestandsaufnahme durch Günther Wirth so lange aufgehalten, weil sie auf mehrfache Weise zu den Sportzeichnungen und -bildern Ulrich Zehs überleiten.

- Zunächst zeitlich, denn ebenfalls um 1973 endet auch für Ulrich Zeh zunächst eine etwa dreijährige Phase heute gesuchter Sportzeichnungen und -radierungen (4).

- Ferner gewinnen sowohl Genkinger wie Ulrich Zeh ihre unverwechselbare Handschrift jeweils in einer intensiven Auseinandersetzung mit der Kunst des damals recht einflußreichen englischen Malers Francis Bacon.

- Dabei kommt im Falle Ulrich Zehs die ebenso entschiedene Auseinandersetzung mit den Sportbildern Genkingers hinzu, denen er genau das vorwirft, was Wirth an ihnen schätzt: daß ihr Thema "Sport" zwar populär in seiner Wirkung, "im Grunde" aber "nur Vorwand für Malerei" sei.

- Dennoch finden Ulrich Zehs Sportzeichnungen und -radierungen, obwohl sich Anfang der 70er Jahre so unterschiedliche Temperamente wie Max Bense in seiner Studiengalerie, Hans Blickensdörfer und ich in Mappenvorworten für sie engagierten, in Wirths zitierter Bestandsaufnahme keine Erwähnung. Grund genug, diese Lücke zu schließen.

- Schließlich fallen Ulrich Zehs Sportzeichnungen und -radierungen ebenso wie Genkingers Sportbilder in etwa die gleiche Zeit, in der auch Netzer aus der Tiefe des Raumes kam, der Fußball mannschaftsweise in die Literatur einlief, Alfred Andersch Boxen und Tennis, Peter Leonhard Braun das Catchen entdeckten. So daß man auch für die Arbeiten Ulrich Zehs diesen größeren Zusammenhang einer Wiedervereinigung von Sport und Kunst sehen muß, ein bisher kaum beachtetes und keinesfalls erklärtes Phänomen.

Anders als Genkinger, dessen Sportbilder eine abgeschlossene Werkphase bilden, bleibt dabei Ulrich Zeh aus Gründen, die ich noch nennen werde, seinem Thema, auch wenn es zeitweise nicht so aussieht, treu, entsteht seit 1984 eine Anzahl großformatiger Ölbilder. Auf vier Aspekte möchte ich, zu ihnen überleitend, etwas genauer eingehen.

1. auf die Tatsache, daß das Thema dieser Bilder auch ein sehr privates Thema Ulrich Zehs ist. Denn wer in ihm nur den Künstler und Augenmenschen sieht, wer bei der Beurteilung seines Werkes, in dem Sport ein gewichtiges Thema neben anderen ist, nur die Ausbildungszeit auf der Akademie, die Entwicklung vom Zeichner und Radierer Anfang der 70er zum Maler Anfang der 80er Jahre in Anschlag bringt, der übersieht ein entscheidendes Stück Biographie. Die Jahre nämlich bis 1968, in denen Ulrich Zeh, zunächst im Turnverein, dann bei Salamander Kornwestheim Leistungssport trieb - Jahre, in denen er sich immerhin in der 4x100 Meter-Staffel die Württembergische Jugendmeisterschaft, im Fünf- und Zehnkampf die Württembergische Juniorenmeisterschaft in der Mannschaft erkämpfte. Zeh wußte also was er kritisierte, als er sich 1970 auf eine Auseinandersetzung mit den Sportbildern Genkingers einließ. Wobei seine bis heute bevorzugten Sujets aus Sprint und Hürdenlauf, aus Weit-, Hoch- und Stabhochsprung erstens aus der eigenen Erfahrung resultieren, aus der heraus er sie zweitens von Anfang an auf die Anatomie des sportlichen Bewegungsablaufs, den Torso reduzieren konnte, den er zunächst und drittens einsperrte in den Käfig der jeweiligen Disziplin: die Hürde, die Latte der Hochsprunganlage, Balken und Sprunggrube, Aschen- bzw. Tartanbahn. Das Eingesperrtsein des Menschen in seine Ausweglosigkeit aus den Zwängen einer Leistungsgesellschaft war damals das Thema, das Ulrich Zeh in immer neuen Ansätzen beschäftigte. Es stand im Vordergrund der Zeichnung, der Radierung, des Siebdrucks dergestalt, daß oft erst auf den zweiten Blick die kompositorische Lösung, der ästhetische Reiz der verkrampften Muskulatur, des meist mit Grün und Blau korrespondierenden unnatürlichen Fleischrots, kurz: die Schönheit des Häßlichen sichtbar wurde.

2. Ulrich Zeh hatte damals in einigen wenigen Zeichnungen den Käfig der Disziplin ausgespart, dann aber diese Versuche nicht weiter verfolgt. Offensichtlich stieß er mit ihnen an eine Grenze, die zu überschreiten ihm damals noch nicht möglich war. Auf die Formel gebracht: die Grenze zwischen der thematischen und der ästhetischen Realität der Zeichnung. Erst auf dem Umweg über die Ölmalerei, nach dem Durchbruch der "Weißen Bilder" Anfang der 80er Jahre gelingt es Zeh 1984 auch in seinen Sportbildern, ästhetische Realität vordergründig zu machen, äußerlich ablesbar schon daran, daß er jetzt weitgehend auf den Käfig der Disziplin verzichten kann. Ulrich Zehs Sportbilder von 1984/1985 greifen also nicht einfach ein altes Thema wieder auf, sondern sie setzen es mit anderen Mitteln unter malerisch veränderten Voraussetzungen erweiternd und vertiefend fort. (Vgl. z.B. die beiden Farbstiftzeichnungen "Weitspringer Nr.36", "Über die Hürde", die Radierung "Sprinter", mit den entsprechenden Ölbildern).

3. Dabei ist auch jetzt für Ulrich Zeh Sport schon deshalb nicht Vorwand für Malerei, weil sich in seinem Fall zwischen Sport und Malerei in entscheidenden Punkten Korrespondenzen auftun. Die großen Formate der Sportbilder seit 1984 ermöglichen Ulrich Zeh Malbewegungen aus dem Körper heraus, eine kreisende Gestik, deren Radius der Malarm ist. Das erinnert durchaus an Action-painting und erzeugt zufällige Malspuren, die fast kalligraphisch anmuten. Und das scheint mit dem Thema Sport zunächst wenig zu tun zu haben, entführt es doch den Bildgegenstand in eine eher ästhetische Dimension. Aber indem die Malbewegungen, die Gesten gleichsam spurenhaft stehen bleiben, korrespondieren sie mit den Bewegungsabläufen der Springer und Sprinter, die das Bild abbildet, entsteht zwischen abgebildeter Bewegung und der Bewegung des Malers ein wechselseitiges Spannungsverhältnis, erfährt die Anspannung des Sportlertorsos ihre Entsprechung in der ästhetischen Spannung des Bildes, zu der die sichtbaren Reste der grauen Grundierung das ihrige hinzutun.

4. Daß Ulrich Zehs Sportbilder nicht ausschließlich Leichtathletik thematisieren, signalisieren ein Fußball-, das Bild eines Tennisspielers. Daß dieser Tennisspieler nicht Boris Becker heißt, daß es Ulrich Zeh nicht um die Abbildung von Sportlern, sondern um die Darstellung von Sport geht, wird schnell ersichtlich, wenn man die Zeichnungen, Radierungen und Ölbilder mit ihren jeweiligen fotografischen oder illustrierten Vorlagen vergleicht. Denn nicht der wegen falschen Dopings gestorbene Radrennfahrer Simpson steht bei der Radierung "Die Angst vor dem Versagen" zur Darstellung, sondern, wie der Titel sagt, der Ausdruck der Angst vor dem Versagen. Nicht um Martin Lauer geht es bei den zahlreichen Hürdenläufern, nicht um Ulrich Zeh selbst bei den Stabhochspringern, vielmehr um das zeichnerische, radiertechnische, malerische Erfassen einer spezifischen Haltung, eines bestimmten Bewegungsmoments höchster Anspannung. Daß und wieweit Ulrich Zeh dabei seine Sportzeichnungen, -radierungen und -bilder durchaus in einer größeren Tradition verstanden wissen will, hat er, ein wenig versteckt, bereits 1971 durch die Kaltnadelradierung "Der gestürzte Ikarus" (5) angedeutet und 1972/1973 durch das zweifache Zitat des Diskuswerfers von Myron (6) als Serigraphie und als Kreide/Farbstiftzeichnung konkretisiert. Ikarus-Anspielung, das Zitat des Diskuswerfers von Myron führen mich abschließend noch einmal zu den Ausgangsüberlegungen zurück: einer ursprünglichen Verbindung von Kultus und Sport. Sie ist nicht wiederherstellbar, schon gar nicht durch die gewaltsame Etikeffierung fachübergreifender Ministerien. Sie ist vielleicht zurückzugewinnen im Medium und für den Augenblick der Kunst. In seinen Sportbildern scheint dies Ulrich Zeh gelungen zu sein. (7)

[22.9.85 Ulrich Zeh. Sportbilder 1970/71 - 1984/85. Theaterhaus Wangen. Druck in: Ulrich Zeh. Sport Bilder. Hrsg. von R.D. Waldshut: Galerie am Wall 1986; ferner in: Kunst Handwerk Kunst. Hrsg. von R.D. Kornwestheim: Edition Geiger 1986]

Anmerkungen:
1) Karl Kindt: Klopstock. Berlin-Spandau: Wichern-Verlag 1948, S. 220.
2) Franz-Joachim Verspohl: Stadionbauten von der Antike bis zur Gegenwart. Regie und Selbsterfahrung der Massen. Gießen: Anabas-Verlag 1976, S. 61 ff.
3) Günther Wirth: Kunst im deutschen Südwesten von 1945 bis zur Gegenwart. Stuttgart: Hatje 1982, S. 88.
4) Vgl. Reinhard Döhl (Hrsg.): Ulrich Zeh. Stadt & Landschaft weiß. Leutenbach: HSW-Verlag 1985, S. 24ff.
5) U.d.T. "Ikarus" abgebildet in: Stadt & Landschaft weiß, S. 31. - Auffallend ist die Häufigkeit, mit der das Ikarus-Thema in den 70er und frühen 80er Jahren in der bildenden Kunst begegnet, im deutschen Südwesten z.B. als Zyklus "Ikarus-Vogelmensch" bei Marlis Weber-Raudenbusch, in den Ikarus-Zeichnungen Fritz Ruoffs (1980/81), in zwei Kreidezeichnungen Uwe Ernsts ("Ikarus 1, 2", 1974); als Mosaik bei Atila ("Icare", 1976). Weitere zahlreiche Bildnachweise auch der Gegenwart bietet Herwath Röttgens Untersuchung "Daedalus und Ikarus. Zwischen Kunst und Technik Mythos und Seele" (Kritische Berichte, Jg. 12,1984, H.2 und 3).
6) Die Kreidezeichnung ist farbig abgebildet in: Stadt & Landschaft weiß, S. 57. - Myrons Skulptur galt lange Zeit als "der Wirklichkeit auf den Leib gerückt", als "unmißverständlich" fixierter "Augenblick". Dagegen ist man heute überzeugt, daß sich Myrons Diskobol zwar in dem Augenblick darstelle, "wo der Diskus abwärts geführt" werde, "bevor sich der Körper wieder" aufrichte, daß es sich aber primär um "eine willkürliche Komposition auf der Grundlage eines geometrischen Schemas aus vier übereinandergestellten Dreiecken" handle, "die eine Abfolge verschiedener Positionen des Rumpfes und der Glieder ergeben" (Die griechische Kunst, Bd. 3, Jean Charbonneaux u.a.: Das klassische Griechenland. München: Beck 1977, S.138). - Ulrich Zehs Zitat vernachlässigt durch Anschneiden der kopflos erhaltenen Skulptur das Kompositionsschema und legt durch Repetition der Figur in wieder aufgerichtetem Zustand im Hintergrund der Zeichnung das Gewicht auf den fixierten Augenblick eines sportlichen Bewegungsablaufs.
(7) Der letzte Abschnitt lautete beim Vortrag im Theaterhaus Wangen: "Ikarus-Anspielung und das mehrfache Zitat des Diskuswerfers fuhren abschließend noch einmal zum Ausgangegedanken zurück: der ursprünglichen Verbindung von Kultus und Sport. Ulrich Zeh ist sie vielleicht noch einmal gelungen: auf der Ebene des Bildes. Mehr als fraglich ist sie mir als Bezeichnung eines Ministeriums, dessen Vorsitzender - ohne nur den geringsten Widerspruch zu erfahren - durch eine Stuttgarter Tageszeitung verlautbaren kann: 'Als Minister bin ich immerhin für etwa 100 000 Lehrer verantwortlich. Dennoch bin ich in der Lage, die Bürotür zu schließen und nach Feierabend abzuschalten. Wenn ich schlaflose Nächte habe, dann immer nur wegen irgendwelcher Dinge beim VfB. Das ist wirklich verrückt.' Ende des Zitats. Und da dies in den Dimensionen wirklich ver-rückt ist, kann mir gerne der Sport nahe dem Cannstatter Wasen, nicht dagegen können mir die Sportbilder Ulrich Zehs im Theaterhaus Wangen gestohlen bleiben. Für sie würde ich sogar schlaflose Nächte in Kauf nehmen."