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Reinhard Döhl | Ulrich Zeh im Hornmoldhaus

Ulrich Zehs Ausstellung im Hornmoldhaus umfaßt Ölbilder, Zeichnungen, Drucke und drei Wasserfarbenbilder [Aquarelle], die von ihrer Machart her bereits auf eine spätere Realisation als Ölbild verweisen. Die Ausstellung im Hornmoldhaus versammelt, nachdem Zeh 15 Jahre lang in zahlreichen Einzelausstellungen des In- und Auslandes jeweils neueste Arbeiten zur Diskussion stellte, zum ersten Mal Arbeiten aus allen Schaffensperioden.

Sie ist also retrospektiv, insofern sie im ersten Stockwerk vor allem exemplarische Beispiele von den ersten "Entwürfen" über die "Isolationen" bis zu den "Gestörten Idyllen" der späten 70er/der frühen 80er Jahre zeigt. Sie ist aktuell in der Präsentation der "Weißen Bilder", der "Wasserzeichen" und der "Sportbilder", die hier zum ersten Mal ausgestellt werden.

Sie ist prospektiv durch die schon genannten Wasserfarbenbilder [Aquarelle], die vor erst drei Wochen auf der "schwarzen" kanarischen Insel Lanzarote entstanden sind. Sie wird schließlich ergänzt durch einen anläßlich dieser Ausstellung erarbeiteten, mit Unterstützung der Stadt Bietigheim-Bissingen herausgegebenen Katalog, der sich - je nach Temperament des Käufers - als Bilderbuch, aber auch als Nachschlagewerk benutzen läßt.

Was der Katalog dokumentiert, die Ausstellung in Auswahl als Überblick zeigt, ist eine Werkentwicklung, die erstens in ihrer Entscheidung für die Gegenständlichkeit unbeirrbar geblieben ist, die sich zweitens durch eine zunehmende technische Breite und Beherrschung auszeichnet, und die dabei drittens eine eigene Intensität der Aussage erreicht hat. In dieser Werkentwicklung ohne Sprünge schließen die "Sportbilder" seit 1984 nur scheinbar den Kreis zu den "Sportzeichnungen" und -radierungen der Jahre 1970/1972, führen die Wasserfarbenbilder von Lanzarote komplementär fort, was die "Weißen Bilder" ästhetisch bereits diskutierten.

Daß auch der scheinbare Rückschritt auf die frühen "Sportzeichnungen" in einem wörtlichen Sinne ästhetischer "Fortschritt" ist, wäre zugleich das eine, was - diese Ausstellung einleitend - zu klären ist. Das zweite wäre der etwas ausführlichere Hinweis auf eine den Arbeiten Ulrich Zehs von Anfang an eigentümliche Dialektik von abgebildeter Wirklichkeit und ästhetischer Realität, ihr werkgeschichtlich sich veränderndes Wechselspiel. Wobei für den Interpreten nicht unerheblich ist, daß Ulrich Zehs Arbeiten nie unmittelbar abbilden, vielmehr das Foto, die Illustrierte als Vorlage nehmen. Was besagen soll, daß nicht die Wirklichkeit sondern bereits ein Bild, das man von der Wirklichkeit gemacht hat, Vorlage der Zeh'schen Bilder ist, vor allem zu Anfang oft in der Kombination mehrerer Vor-Bilder.

Um das Folgende überschaubar zu halten, werde ich mich auf wenige Arbeiten dieser Ausstellung beschränken und dabei jeweils die Ausstellungsnummer nennen beziehungsweise für diejenigen, die im Katalog nachschlagen wollen, jeweils die Seitenzahl angeben. Und ich möchte von den drei hier erstmalig gezeigten "Sportbildern" ausgehen, deren Vorlagen Sie im Katalog auf den Seiten 29 und 31, in der Ausstellung unter den Nummern 65, 60 und 67 finden.

Diese drei Vorlagen aus dem Zyklus der Sportzeichnungen und -radierungen zeigen, wie der ganze Zyklus, meist auf den Torso reduzierte Leistungssportler, eingesperrt in den Käfig ihrer Disziplin: die Hürde, die Latte der Hochsprunganlage, Balken und Sprunggrube, Aschen- beziehungsweise Tartanbahn. Das Eingesperrtsein des Menschen in, seine Ausweglosigkeit aus den Zwängen einer Leistungsgesellschaft war damals das Thema, das Ulrich Zeh in immer neuen Ansätzen beschäftigte. Es stand im Vordergrund der Zeichnung, des Siebdrucks, der Radierung dergestalt, daß erst auf den zweiten Blick die kompositorische Lösung, der ästhetische Reiz der verkrampften Muskulatur, des meist mit Grün und Blau korrespondierenden unnatürlichen Fleischrots, kurz: die Schönheit des Häßlichen erkannt wurde.

Ulrich Zeh hat damals in einigen wenigen Zeichnungen, besonders auffällig in den zwei Farbstiftzeichnungen 60 und 61 dieser Ausstellung (Katalog S. 29), den Käfig der Disziplin versuchsweise ausgespart, dann aber diese Versuche nicht weiter verfolgt. Offensichtlich stieß er damals an eine Grenze, die zu überschreiten ihm noch nicht möglich war. Es war dies - auf die Formel gebracht - die Grenze zwischen der thematischen (um nicht zu sagen: reproduktiven) und der ästhetischen (um nicht zu sagen: produktiven) Realität der Zeichnung. Erst auf dem Umweg - und richtig gesehen ist dies natürlich kein Um- sondern ein Erfahrensweg - erst auf dem Erfahrensweg der gezeichneten Idyllen, der gemalten "Weißen Bilder" gelang es, diese Grenze zu überschreiten. Erst 1984 vermag Zeh in den "Sportbildern" ästhetische Realität vordergründig zu machen, ohne sein Thema auszusperren. Zwar ist auf den "Sportbildern" dieser Ausstellung der Käfig der Disziplin auf den ersten Blick nicht mehr vorhanden, doch bleibt er, wenn auch unsichtbar, kompositorisch bestimmend.

1971/1972 fraglos gelungene Versuche innerhalb eines Zyklus, dessen Grenzen sie mit auszureizen halfen - 1984 sind Ulrich Zehs "Sportzeichnungen" und -radierungen nurmehr Skizze, Entwurf für einen neuen Zyklus von Olbildern. Daß sie bei einem frühen Thema wieder anknüpfen, ist also kein Zirkelschluß, sondern entwicklungsgeschichtlich erklärbarer Gewinn einer neuen Aussagequalität in einer seit den "Weißen Bildern" erfolgreich eingesetzten neuen Technik. Dem Zeichner der 70er folgt in den 80er Jahren der Maler.

Mein zweiter einleitender Hinweis sollte der Ulrich Zehs Arbeiten von Anfang an eigentümlichen Dialektik gelten. Auch bei ihm möchte ich von einem konkreten Beispiel ausgehen. Unter der Nummer 90 ausgestellt, im Katalog auf Seite 55 abgebildet ist eine Kreide/Farbstiftzeichnung mit dem Titel "Kriegerdenkmal". Sie gehört zum Zyklus der "Denkmäler" und damit zu einem Zyklus des Zeh'schen Werkes, dessen Protest die Grenze zum Plakativen wiederholt überschritt. Wie sehr es sich auch bei dieser Zeichnung um eine, wie Zeh heute kritisch einschränkt, "Gedankenillustration" handelte, verrät der ursprüngliche Titel von 1973: "Das Denkmal oder Der Sieg des Krieges über die Göttin der Liebe". Das im Hintergrund eines zubetonierten Aufmarschplatzes aufragende Denkmal einer pseudoklassischen Victoria in Siegespose ist überall vorstellbar. Das wird neben fehlenden Hinweisen für eine Lokalisierung durch den von rechts unten ins Bild hineinragenden Halbakt zusätzlich deutlich. Denn ihn hat Ulrich Zeh als Bildelement auch in ganz anders gearteten Zeichnungen verwandt, z. B. in einer "Herbst" betitelten Bleistiftzeichnung aus dem Jahr 1972. Erst im Kontext treten das eindeutig verständliche Denkmal, ein vor ihm zusammengebrochener Mann, der ins Bild hineinragende Halbakt, gebündelt durch den ursprünglichen Titel, zu plakativem Protest zusammen.

Dagegen war mit kompositorischen und zeichnerischen Mitteln allein nicht anzukommen. Auch deshalb hat Zeh, wie auf anderen Zeichnungen der damaligen Jahre, ein Bildelement eingeschmuggelt, das ein flüchtiger Betrachter leicht übersieht: eine noch ungeöffnete Löwenzahnblüte, die mit zwei Blattspitzen aus einer Spalte im Beton herausragt.

Dieser Löwenzahn ist nicht das als lästig empfundene Acker- und Gartenunkraut, gegen das Stadtgärtner und Häuslebesitzer mit Ausstecher und Gift zu Felde ziehen. Zehs Löwenzahn ist vielmehr in seiner eigentlichen Funktion gemeint: als eine Pionierpflanze, die das Land dort erobert, wo für zarteres Leben die Bedingungen noch zu hart sind, indem er mit seinen tiefreichenden Wurzeln
das verhärtete Erdreich auflockert und aus tieferen Schichten Nährstoffe heraufholt. In Zehs zubetonierten Trabantenstädten, in einer Ritze des Aufmarschplatzes vor dem Kriegerdenkmal signalisiert der Löwenzahn auf unverdächtige Weise Hoffnung.

Auf diese eher vordergründige Dialektik der Bildelemente konnte Zeh Mitte der 50er Jahre verzichten, als er - im Dialog mit Caspar David Friedrich - gegen die zitierte Realität das ästhetische Zitat ausspielte, als er der zitierten Naturmalerei die architektonisch zerstörte Natur kontrastierte. Ich habe darüber im Katalog etwas ausführlicher gehandelt und will im heutigen Zusammenhang nur wiederholen, daß Ulrich Zeh damals die romantische Landschaft Caspar David Friedrichs nicht als Kontrastfolie brauchte, sondern, um in ihrem Wechselspiel mit der realen Industrie- und Stadtlandschaft ein Defizit sehbar zu machen, um abgebildete Realität ästhetisch in Frage zu stellen.

Die hinter Zehs Dialog mit Caspar David Friedrich sich verbergende Frage nach dem Verhältnis von Realität und Kunst hat sich in der Entwicklung der folgenden Jahre praktisch umgekehrt in die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Realität. Und dies zum ersten Mal deutlich faßbar in den "Weißen Bildern". Allerdings verlangen diese dazu ein einlässigeres Hinsehen, als sich zum Beispiel die Kritikerin der Stuttgarter Zeitung gestattete, die in ihrer Flüchtigkeit nur das "Naturereignis Schneeschmelze" zu erkennen vermochte, was durch die rhetorische Wiederholung "es taut und taut" nicht richtiger wird. Denn wenn etwas bei Zehs "Weißen Bildern" gleichgültig ist, dann ist es die Frage, ob es auf ihnen taut oder nicht.

Was sie wirklich interessant macht, ist die Grenzverwischung zwischen zitierter Realität (das Härtsfeld) und Abstraktion (Weiße Bilder). Mit Recht hat Max Bense diese Grenzverwischung auf die Formel "Schneelandschaft mit Farbfleck" gebracht, von den "ästhetischen Zuständen" dieser Bilder, ihren "Schönheiten" gesprochen. Und er hat damit Kriterien für Malerei, nicht für ihre Inhalte verwandt. Mit gleichem Recht hat auf der anderen Seite Karl Diemer in den Stuttgarter Nachrichten vom "Wirbel im Malstrom" gesprochen, die Realität und den Weitblick des Härtsfeldes assoziativ "mit dem Himmel verschwimmen" lassen, "und" - ich zitiere jetzt wörtlich - "das Land rollt an wie Meer, wie Ebbe und Flut; die Brandung kann heftig werden, strudeln, wie ein Malstrom wirbeln, oder die Wellen kommen träge plätschernd daher, ausgeruht, Horizontale hinter Horizontale."

Beides ist richtig und wird dennoch den "Weißen Bildern" Ulrich Zehs ganz gerecht erst in der Verbindung des einen mit dem anderen. Ich muß, um dies zu erläutern, ein wenig ausholen. Dabei beziehe ich die Formeln Benses und Diemers auf jene, den meisten "Weißen Bildern" charakteristische freigewirbelte Stellen. Der zur Ausstellung erschienene Siebdruck zeigt zentral zum Beispiel eine solche. Die Bildvorlage der Einladungskarte enthält in diagonaler Anordnung gleich fünf davon.

Wenn Diemer angesichts solch freigewirbelter Stellen den "Wirbel im Malstrom" assoziiert, hat er - bewußt oder unbewußt - an Edgar Allan Poes diesbezügliche Erzählung gedacht, deren Kenntnis in der Tat für die heutige ästhetische Position Ulrich Zehs hilfreich ist. Dem Einwurf, hier werde der Exegese ein wenig zuviel getrieben, sei vorab entgegnet, daß Zehs Bibliothek natürlich eine Werkausgabe Poes enthält, daß Zeh 1975 Poes Erzählung "Die Tatsachen im Falle Waldemar" illustrierte - Indizien, die sich vermehren lassen.

Poes zur Diskussion stehende Erzählung wird den "Tales of Terror" zugerechnet, denen es nicht um "Wahrheit in Gestalt von logischen Schlüssen und logischer Analyse" gehe, in denen vielmehr alles berechnet sei auf die Erzeugung eines einzigen Gesamteffekts' der, schwer zu umschreiben, mit dem Wort "Grauen" nur unzulänglich getroffen werde, eines Effekts, der im Schrecklichen plötzlich Schönheit erkennen lasse. Ein Zitat macht dies deutlicher als jede Erklärung. Das Boot der Lofotenfischer ist im Malstrom gekentert. Der Erzähler kreist im alles verschlingenden Wirbel.

Das Boot schien wie durch ein Wunder an der inneren Oberfläche des Trichters zu hängen, der von weitem Umfang und unerkennbarer Tiefe war, und dessen glatte Flächen man für Ebenholz gehalten hätte ohne die erschreckende Schnelligkeit ihres Herumwirbelns und den grausigen Schimmer, der von ihnen ausging in den Strahlen des Vollmonds, der aus der kreisrunden Wolkenöffnung, die ich schon beschrieben habe, eine Flut goldenen Scheines auf die schwarzen Wände und weit hinunter in die innersten Winkel des Abgrundes ergoß. Zuerst war ich zu verwirrt, um irgend etwas genau beobachten zu können. Die plötzliche Erscheinung schrecklicher Größe war alles, was ich begriff. Als ich wieder zu mir kam, wandte sich mein Blick unwillkürlich nach unten. [...] Die Mondstrahlen schienen den untersten Grund des tiefen Schlundes zu durchsuchen. Aber noch immer konnte ich nichts genau sehen, durch den dicken Nebel, der alles einhüllte und über dem ein herrlicher Regenbogen hing wie die schmale, schwankende Brücke, die nach dem Glauben der Mohammedaner den einzigen Pfad zwischen Zeit und Ewigkeit bildet. Das mag ausreichen, zu belegen, wie bei Poe mitten in der Katastrophe Angst in Staunen, Staunen in Neugier und Neugier in Reflexion umschlagen kann. Natürlich ist das so auf Zehs neuere Arbeiten nicht anwendbar, allerdings in seiner Umkehrung.

Habe ich recht in der Annahme, daß sich hinter Zehs Arbeiten der letzten Jahre die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Realität verbirgt, muß Poes Gleichung 'Grauen und Schönheit', die sich bedingt auf Zehs Anfänge anwenden ließe, lediglich umgekehrt werden zur Gleichung 'Schönheit und Grauen'. Anders und angewandt gesagt: der nicht mehr sichtbare aber kompositorisch präsente Käfig der Disziplin in den "Sportbildern", die Wirbel in den "Weißen Bildern" schließen den Schrecken, die Angst auch in die jetzige Produktion Zehs noch ein. Daß dies für die "Wasserzeichen" ebenfalls gilt, sei mit Hinweis auf die Ambivalenz von "Untiefe" wenigstens angedeutet. Eine mögliche Verlagerung der Gewichte könnten die Wasserfarbenbilder [Aquarelle] von Lanzarote bringen. Zwar wage ich nicht, sie vorzeitig als "Schwarze Bilder' zu prognostizieren. Aber der auf dem ersten von ihnen auszumachende Wirbel hat seine reale Entsprechung in den aus verwittertem Lavagestein ausgehobenen Trichtern, in denen in Lanzarote Weinstöcke angebaut werden, deren Bewässerung durch Tau erfolgt, der sich nachts auf dem abkühlenden Gestein niederschlägt. Eine zu dieser Jahreszeit vielleicht nicht so ohne weiteres nachvollziehbare Realität.

[Hornmoldhaus Bietigheim-Bissigen, 20.1.1985]