An Hölderlin

Komm herauf,
Jammerheiliger!
Blick auf
Mit Deinem irren Auge,
Deiner Jugendschöne,
Deines Kinderherzens
Offnem Nebelgrab.
Komm herauf,
Schwanke hinan den Fusspfad,
Über Herbstgesträuch-Abhang;
Mein Gartenhäuschen,
Jammerheiliger,
Komm, es wartet Dein!

Kennst mich? Blickst auf,
Lächelst einmal wieder
Und neigest Deine Stirne,
Die schöne, wahnsinnschwere,
Blickst Lieb und Freude,
Wie wir's fühlen können!

Steige hinan die Treppe,
Öffn' es wieder,
Das windgebrochene Fenster!
Deine Stadt liegt unten,
Und die treuen Weiden
Sind noch grün im Herbst,
Und der Himmel ist noch blau,
Und die lieben Wellen,
Wie einst,
Als Du noch heiter warest.

Du deutest, Stummer?
Freut Dich der Vogel,
Der vom Laub sich schwingt,
Freut Dich der Wind,
Der Lebensmutige,
Kennst Du sie noch,
Deine Natur,
Die immergleiche,
Im freudelosen Lebenswahn?

O, sie ereilt uns
All' uns,
Die starke Notwendigkeit,
Kinder, die am Grasufer
Mit Kieselchen spielen,
Lallend,
Dem Wandeln nachblickend
Des allbeweglichen Stromes,
Kinder ereilt sie,
Die starke Notwendigkeit.

Drückst das Fenster zu,
Blickst in's Buch hinein
Dieser verlornen Jugend,
Gedankenlos,
Hast's in der Hand noch,
Was Deine Wiege war,
Was Dein Grab.

O, Gotteswonn' ist's,
So heiss und allumarmend,
So kindischfordernd;
Zu hangen an ihr,
Der Unerschöpflichen
Zu lieben, zu lieben,
Und zu vergehn in Liebe,
In dieser Schöne
Seeligen Vorgefühls
Zu versinken all!

Stammelst, wirfst's weg
Das Buch,
Es hat Dich verdorben!
Ob der Gewissheit schaudr' ich
Deines heissen
Weissagenden Grams,
Im Sonnenbrand
Ist der zarte Lebenshalm
Vergangen,
O, so musst' es werden!
Wärst sonst der schöne Liebling
Der ihr klar in's Auge sah,
Wärst er nicht gewesen.

[1824]



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