Wilhelm Waiblinger | Seinem Gnauth *)

Freund, du hast eine schwere Kunst erkoren,
nicht jedem gab die schaffende Natur
die hohe Gabe, die dir angeboren,
nicht jeder folgt der Seele tiefer Spur,
bis sie in grauem Abgrund sich verloren,
wo die Gewißheit flieht und schwankend nur,
in Nebeldünsten, ohne Ziel und Schranken,
sich pfadlos irrend treiben die Gedanken.

In solche Tiefen mutvoll einzudringen,
scheust du dich nicht mit vielgeübtem Tritt,
durch nächtlich trübe Klüfte dich zu ringen,
und ohne, daß dein Fuß im Dunkel glitt,
die Seele siegend aus der Nacht zu bringen,
und, ausgestiegen mit gewalt'gem Schritt,
Ihr Weben uns vors Auge hinzustellen,
und jene Nebelschatten aufzuhellen.

Schwer ist's, den Willen der Natur zu biegen,
in sich zu bleiben, liebet jede Brust:
der eignen Keime nur, die in ihr liegen,
und reifend schwellen, ist sie sich bewußt.
Sie will erscheinen, wie sie ist, nicht trügen;
doch anders will es deine Kunst. Du muß
dein eigenes Selbst verändern und verleugnen,
und Zwang wird's da, dir Fremdes anzueignen.

Und sieh, in ewig wechselnden Gestalten
erscheinst du aus der Bühne weitem Raum,
kein Arm vermag dich irgend festzuhalten,
du bist und schwindest wieder, wie ein Traum.
Stets neue Formen willst du nur entfalten;
dich faßt das Wort in einem Namen kaum;
du änderst Sprache, Sinn, Gestalt und Hülle,
und alles bist du in der reichsten Fülle.

Bald führest du die tiefverschlossenen Tücken
des Bösewichts aus ihrem Grab empor,
den Höllengeister fürchterlich umstricken;
du lichtest von der schwarzen Brust den Flor,
wenn des Gewissens Schauer sie berücken,
und zauberst furchtbar ihren Kampf hervor;
du öffnest uns den Blick ins Wirbelwogen
der kranken Seele, die sich selbst betrogen.

Bald zeigest du die kläglichen Gebrechen
des Armen, der am Sinnenkitzel klebt;
die Mängel, die sich lustig wieder rächen
am Haupt, in dem ihr dünn Gespinste webt,
die Torheit, unerlaubte Frucht zu brechen,
die Narrheit, die sich selber überhebt,
du machst das Herz von Schauder überwallen,
das Haus von wirbelndem Gelächter schallen.

Bald sieht man funkelnd deinem Aug' entsprühen
des Grimmes Flammen und der Bosheit Wut,
und bald des Kleinmuts matte Feuer glühen,
des Blödsinns und der Schwachheit dumpfe Glut.
Jeßt sieht man dich, wie Todesschatten, ziehen
durch Nacht und Graus mit höllisch wildem Mut;
und jetzt in dithyrambisch kühnen Schwüngen
schaut man dich jauchzend auf den Brettern springen.

Doch eilst du aus dem dumpfen Hause wieder,
da legst du sorgsam ab den Maskenrang,
die Grazien schweben huldvoll auf dich nieder
und läutern deiner Worte Zauberklang.
Dem Freunde bist du redlichtreu und bieder,
und liebest ihn mit lebensregem Drang.
So bist und bleibst du, lieber Freund, uns allen
als Künstler und als Mensch ein Wohlgefallen.


*) Waiblinger ließ sich in seiner damaligen Theaterbessenheit u.a. von Gnauth in die Rolle des Franz Moor einstudieren. Die Herausgeber



Stuttgarter Poetscorner'le