Johannes Reuchlin | Ratschlag ob man den Juden alle ire buecher nemmen / abthun unnd verbrennen soll

[...] Uff dise frag zu anntwurten ist not zu bedencken was zizania und unkraut und was triticum oder waissen [Weizen] sei / damit ains nit mit dem andern ußgeraufft werd / wie das hailig evangelium spricht Matthei xiij [Mattäus 13, 29]. Nun find ich unnder den judenbuechern das sie seien mannicherlai gestalt. Zum erstenn die hailig schrifft haissen sie Essrim varba das ist xxiiij. dann so vil haben sy buecher inn ir bibel. Zum andern den Thalmud das ist ain versamelte leer und auslegung aller gebott und verbott / so in der thora das ist in den fuenff buechern Moysi inen gegeben / der so sechshundert und xiij. inn der zal / durch vil irer hochgelerten vor langen zytten beschriben sind. Zum dritten find ich die hohe haimlichhait [die erhabenen Geheimnisse] der reden und woerter gottes / die sie haissent Cabala. Zum vierden find ich scribenten und doctores die do glos und comment schreiben ueber yeglichs buch der bibel innsunderhait. Solliche comment oder commentarien haissen sie perusch. Zum funfften find ich sermones [Reden, Predigten]. [...]

Disem allem nach uff die fuergehalten [vorgelegte] frag sag ich das der Thalmud nit zu verbrennen ist noch abzethon / uß ursachen hie oben erzelet / und die hernach volgent / Zum ersten / dan kund und wissend ist das menschlich vernunfft nit mag darvor sein / es muessen aberglauben und irrtumb sein / als das schreibt der hailig Paulus in der ersten epistel zu den Corinthiern am xi. capitel [1. Korinther 11, 19 ff.] / und geschicht durch gottes verhengknus / darumb das die rechtglaubigen und probierten [Erprobten, Erfahrenen] moegen herfuerkomen / wie der genant apostel an dem yetzt gemeltten Ort clerlich darvon redt / und werden sollich menschen gehaissen aberglaubig / die do die hailig schrifft unrecht ußlegen / und daruff muttwilliglich beharren / anders dan der syne des hailigen gaistes daz erhaist / xxiilj. q. iij. c. inter heresim et. c. heresis. Und wiewol recht zu reden die juden nit seien heretici [Häretiker, die von der rechtgläuben Lehre der Kirche abweichen] 5 / dan sy sind nit ab dem cristenglauben gefallen / die nie darinn gewesen synd. Darumb sie auch nit moegen noch sollen ketzer noch ir hendel ketzerei genent werden / cle. j. de usur. et in glo. in ver. hereticum. Yedoch so werden sy alhie in denen worten des apostels eingeschlossen / dann er redt von denen die unains im glauben sind / als auch wir und die juden unains im glauben sind / Darumb ist es uns nuetz und gut das der Thalmud sei und beleib / und ye ungeschickter der Thalmud ist / ye mer er unns cristen geschickt macht wider in ze reden und ze schreibenn. [...]

Zum andern. So gruend ich meinen rat uff das hailig evangelium das der Thalmud nit sol verbrent werden. Dan unser herr Jesus cristus hat zu den juden gesagt Johan. v. Erfragent suchent oder erforschent die schrifften sovil jr wenen in denselben das ewig leben zu haben / und dieselbigen synd von mir zeugknus gebende. Diewyl ich aber mein grundtfeste diß ratschlags uff dise red will setzen / so gebuert mir die aigenschafft [eigentliche Bedeutung] der woerter vorhin an tag zu legen / vil ynrede der widersecher [Widersprecher] ob die ufferston wurden zu vermeiden. Der herr spricht erstlich / erforschent / das wirt in griechescher sprach darinn das hailig evangelium am allerersten geschriben ist / also gelesen ερευνατε / und dasselbig wort kumbt von zwaien ursprungenn wie die wolgelerten griecheschen schulmaister darvon schreiben / das ain ερω pro έρωτω haiίt fragen oder suchen. Das ander ευνη haiίt ain kammer oder sal darinn man ruwt als were es ain schul nam schola dicitur vacatio [Schule, die muße genannt wird] / Und so die zwai inn ain ainig wort zusamengesetzt werden ερευνω / so bedeut es zu fragen / zu forschen und zu suchen in der schul mit ruw unnd mit spehung des gemuets. Als woelte unßer herr Jesus sprechen / Ir sollent disputiern in der schul uß den schrifften darin ir wenen [wähnt], das ewig leben zu haben / dieselben geben mir auch gezeugknus. [...]

Zum dritten so gruend ich meinen rath uff den baum der kunst des gutten und des boesen / denselbenn baum hat gott selbs in das paradeis gesetzt und gepflanzt. Gene. ij. ca.[1. Mose 2,9] darumb er von kainem menschen ist ußzerauffen / dan es ist von got verbotten Deutero. xx.17 [5. Mose 20, 19] da geschriben stat. Du solt nit ußhawen die baum darvon man essen mag. Und wiewoll Adam und Eva den tod darvon geessen haben / noch dan hat got den baum nit ußgehauen noch verbrent / sunder er hat in lassen ston bis uff disen heutigen tag / des wir teglich empfinden. Wiewol nun ettlich der unsern sagen das vil boees im Thalmud stand geschriben / noch dan ist es nit boeß das wir dasselbig boeß lesen und lernen / nit daz wir dem boeßen woellen nachfolgen / sunder daz wir dest leichtlicher moegen erkennen was gut ist und demselben anhangen xxxvij. distin. qui de mensa. Und Aristoteles in dem buch elenchorum ["Sophistische Widerlegungen"] spricht / daz die kunst [das Kennen] boeser ding sy nit boeß sunder gutt und erlich. Was hat Moises kuenden oder moegen von den Egyptiern guts lernen / die alle abgoeterei angenommen / und katzen hund / schlangen und natern fuer ire goett gehalten habenn / wie der hailig Athenagoras schreibt zu Marco Aurelio Antonino und Lucio Aurelio Commodo baiden roemschen kaißern als er zu inen von den cristen in ainer legacion und botschafft geschickt ward / [...].

Ich zel aber der Thalmud were ursach das sie nit cristen wuerden / darumb soll ich niemant das sein nemmen und verbrennen / dan mir stat das nit zu ze urtailnn. Der jud ist unsers herrgots alls wol als ich / stat er / so stat er seinem herrn / fallt er / so falltt er seinem herrn / am yegklicher wuerd fuer sich selbs muessen rechnung geben. Was woelen wir aines andern seelen urtailn. / got ist wol so mechtig das er in mag uffrichten / Das alles schreibt clarlich der hailig apostel Paulus ad Romanos decimo quarto [Römer 14,4]. So wissen wir auch aus dem evangelio / das unßer herr seine junger Jacobum und Johannem gar hart straffte da sie begerten das ain stat der unglaubigenn die Cristum und seine junger nit woltten ynnemen solt verbrent werden / Luce nono capitulo [Luk. 9, 53 ff.] Daraus will ich die oberkait entschuldigt haben / dann sie verwilligt nit inn das uebel / aber sie laßt es geschehen / dicit. c. consuluit de judeis / et Augustinus de Ancona in libro de ecclesiastica potestate. q. xxiiij. §. ad secundum / und kan es nit wenden sie thu dann den leütten unrecht das doch nit sein soll.

Zu beschlusß dis hanndels / so kan ich fuerwar nit gedencken daz daraus ettwas unßerm cristenlichen glauben möcht zu guttem kommen / oder der gotsdienst gemeeret werdenn. Ich kan aber wol ermessen das vil args moecht daraus entston / so wir inen die buecher verbrentten. [...]

Als aber unser allergnedigster herr der roemisch kaißer uewern fuerstlichen gnaden auch bevolhen hat daruff rat zehaben / welchermaßen und uff was grund und weg die sach anzefahen und zethun sei / wie mir das auch von denselben uewern fuerstlichen gnaden zu bewegen und zu raten uffgelegt ist / kan ich fuerwar bessers nit raten nach meiner klainen verstentnus / dan das die K. M. umb gottes und unsers cristenliches glaubes willen by den hohen schulen in teutschen landen verfuege / das ain yegkliche universitet mueß x. jar zwen maister [Dozenten] haltsen die do kuenden [können] und sollen die studenten und schuler inn hebraischer sprach leren und underweißen / wie die Clementin anzaigt und ußweißt / sub titulo de magistris prima [Über die Lehrer, 1. Teil / 3. Hauptteil des offiziellen Kirchenrechts]. Darzu sollen uns die juden so in unsern landen sitzen und wonen mit leihung der buecher gutwilligklich und nachbeürlich beholffen sein / uff zimlich caucion und on iren schaden / so lang bis wir durch den truck oder handtgeschrifft aige buecher ueberkommen moechten. So hab ich kainen zwyfel in kurtzen jarn werden unßere studenten inn sollicher hebraischer sprach so gelert / daz sie mit vernuenfftigen und mfreuntlichen worten die juden kuenden und moegen senfftmuetigklich zu uns bringen / nach inhaltung des gaistlichen [des kanonischen] rechtes. c. qui sincera et. c. de jude. xlv. dis. darin mit ußgetrueckten worten also stat. Welche die syent die uß luterer mainung des cristenlichen glaubes frembde außluet [Außenstehende] begerennt zu rechtem glaubenn zu bringen / die sollent das mit senfften wortten und nit mit rawher mainung unnderston / uff das nit der widerwil diejhene vertrybe / dero gemuett wol moecht ain gutte vernunfft von der irrung abwenden. Und welche anders thund / und sie under verborgener gestaltt von gewonlichen sitten woellent abwenden / die mag man erkennen das sie nit gottes handel / sunder ire aigene henndel treiben / et infra [anderes mehr]. Darumb sol man in also thun / das sie mer durch vernuenfftig ursach und senfftmuetigkait beweget / vil lieber uns woelen nachvolgen dan fliehen / damit wir sie aus iren aigen buechern augenschynlich zu unser muter der cristelichen kirchen mit der gotshilff moegen bekern. Das sind ongeverlich die wort der angezogen cristenlichen satzung [des Kirchenrechts] dicit. ca. qui sincera / wie wir es inn disen stuck mit den juden haltten sollen [...].

Datum zu Stuttgarten an dem sechsten tag octobris. Anno 1510.

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