Tennis ist ein Bewegungssport, aber auch
ein Kampfsport. Daß diese Eigenschaft zu einer Bluttat führen
würde, konnte keiner ahnen und keiner verstehen, bevor es geschehen
war. Ein leibhaftiger Mord auf unserer kleinen, sauberen, von harmlosen
bürgerlichen Zeitgenossen frequentierten Platzanlage auf der halben
Höhe der süddeutschen Stadt S.! Undenkbar noch vor wenigen Wochen,
aber heute schon Realität.
Ein Mord zeichnet sich gegenüber
dem gemeinen Totschlag als ein durch beispielsweise die Begehungsart besonders
qualifiziertes Verbrechen aus. In unserem Fall handelte die Täterin
heimtückisch, deshalb steht sie nun als Mörderin vor Gericht.
Man stelle sich vor: unsere allgemein beliebte Clubkameradin C. eine Mörderin,
und zwar eine Tennismörderin, denn die Motivation zur Straftat hatte
ihren Ursprung in unserem Sport selbst. Sie
Tötete nicht zur Befriedigung des
Geschlechtstriebes (die Tätern ist 71), nicht zur Verdeckung einer
Straftat oder aus sonstigen niedrigen Beweggründen, nein, nur weil
ihre langjährige Partnerin, die Clubkameradin V., zum wiederholtenmal
einen Ball im Aus gesehen hatte, der eindeutig und für jeden außer
der Clubkameradin V. erkennbar innerhalb des Feldes, noch vor dem weißen
Band aufgeschlagen war, einen zierlichen Wirbel roten Sandes verursacht
hatte und daraufhin an den Maschendrahtzaun gehüpft war, weil die
Clubkameradin V. gerade mit langen Schritten und der vollen Energie ihres
gerade erst 73jährigen
Körpers in die andere Ecke des Platzes
eilte, den Schläger weit ausgeholt, schlagbereit. "Aus", rief sie
in diesem Augenblick, und das rote Wölkchen wurde von dem Wind mitgenommen,
der oft so angenehm über unsere kleine Platzanlage weht.
Wir sind ein nobler Club. Alle Mitglieder
sind ehrbare oder zumindest die meisten sind ehrbare Menschen. Im gesellschaftlichen
Leben unseres Clubs wird niemals betrogen, im privaten Leben betrügt
die Mehrzahl unserer Mitglieder auch niemals, da bin ich ganz sicher. Nur
auf unseren fünf roten Plätzen wird oft
geschummelt wenn es darum geht, die Aufschlagmarkierung
des kleinen Filzballes zu bestimmen. So gesehen, hätten zahlreiche
Mitglieder unseres kleinen Clubs ihr Leben viel eher riskiert, denken wir
zum Beispiel an den Anwalt, der einem ins Exil gegangenen polnischen Grafen
gerne ähnlich sähe und diese weichen Returns spielt, oder den
Geschäftsführer eines Verbandes, hängelippig mit einem Bäuchlein,
den Baron mit der dunklen Brille, den anderen Anwalt mit dem Schandmaul
(wir haben, wie jeder Tennisclub, ohnehin fast zu viele Anwälte aufgenommen),
denken wir an die zahlreichen Porschefahrer, einer wie der andere
ein unzuverlässiger Linienrichter,
der Backgammonspieler mit der vom Alkohol durchsichtigen Haut und genauso
unser "schwarzer Turm", der früher bedeutende Vereinsämter innehatte,
Versicherungsvertreter, Ärzte, Galeristen, Steuerberater, Handwerker,
jeder hätte zu Tode kommen können.
Doch statt jenen, spaltete die Clubkameradin
C. der Gegnerin V. den Kopf mit ihrem hölzernen Racket exakt auf der
Linie des Scheitels, als die v. nach kurzer Diskussion am Netz mit dem
Bemerken "keine zwei neuen Bälle, sondern aus, Spiel, Satz und Sieg»
ihrer Partnerin den Rücken kehrte und davonschlurfen wollte. Das Forderungsspiel
in der Damen-Senioren-Rangliste schien entschieden, da, wie berichtet,
holte die Clubkameradin C. aus, schlug mit der Unbeherrschtheit eines Teenagers
zu, traf den Kopf der Clubkameradin V., deren Schädel mit dem Knacken
einer Eischale auseinandersprang; sie stürzte blutüberströmt
zu Boden, war sofort tot und hat nicht leiden müssen. Das ist unser
einziger Trost.
Heute, da der Prozeß ansteht, hält
der Club wieder zusammen. Unser Vereinsleben ist von der Solidarität
zur Angeklagten geprägt. Haben doch unsere Anwälte, gemeinsam
am gleichen Strang ziehend, eine Haftverschonung für die schon etwas
gebrechliche Clubkameradin erzielt! Zur
Festigung ihrer Gesundheit und zur Vorbereitung auf den Prozeß spielt
sie jeden Morgen Tennis auf der Platzanlage, und alle spielen mit ihr,
was vor der Tat beileibe nicht der Fall war. Aber mit der einzigen Prominenten
im Club spielt man gern. Nur Ängstliche bestehen auf einem Schiedsrichter
und Linienrichtern für das Match, die meisten halten dies für
entbehrlich, weil nach ihrer psychologischen Einschätzung Frau C.
nicht zur Wiederholung ihrer Tat neigt. Nur vorsichtshalber werden in ihrem
Fall alle Bälle gut gegeben, egal, wo sie auftreffen. Das ist nobel.
Nicht nur darin
zeigt sich die idealistische Verfassung
unseres Clubs. Wir sammeln Geld für sie, bemühen uns in jeder
Hinsicht um ihr Wohl. Der psychiatrische Gutachter, den das Gericht zu
ihrer Untersuchung bestimmt hat, wurde sofort aufgenommen, wozu auch
einen solchen qualifizierten Mann auf
einer Warteliste schmoren lassen?
Die Anwälte lesen ihre Akten und
schärfen ihre Argumente. Wir spielen jeden Abend im Clubhaus den Prozeß
durch. Unsere Strafrichter, die wir unter den Mitgliedern haben, erdulden
bei diesen Rollenspielen mit bewundernswerter Geduld die trainingshalber
eingereichten Befangenheitsgesuche und Beweisanträge. Es gibt kein
böses Wort. Der Galerist schmückt den Raum mit Grafik aus dem
Justizmilieu, die Ärzte messen den Puls, die Versicherungsleute versichern
alles zu Vorzugskonditionen, die Gastronomen bewirten, die Reisebürounternehmer
organisieren den Fahrdienst.
Wir ziehen alle an einem Strang. Das ist
fabelhaft. Es entspricht auf das natürlichste dem Geist unseres Sports:
Bescheißen muß bestraft werden!
[Aus: Schlemihl und die Narren. Erzählungen
von Verbrechen]