Fred Beinersdorfer
Erzählungen von Verbrechen...

"Mein Gott, Erzählungen von Verbrechen", sagt Frau Professor R. und lächelt fein, eine Enddreißigerin, modern, allem aufgeschlossen, spricht vorurteilsfrei über alles, Religion, Sexualität, Humor und Literatur; elegante Erscheinung; sie hebt ein wenig abwehrend die linke Hand und läßt sie wieder auf ihr Knie fallen. Sie schlürft am Sektglas. dann fährt sie fort. "Erzählungen von Verbrechen, Gottchen, nein, das sind doch Krimis, diese Paperbacks. Hat doch nichts mit Literatur zu tun. Bei uns, unsere Studenten auf der Fachhochschule. lesen das auch, okay, sogar an der Uni, zu meiner Zeit, hat man so was gelesen aber klar, zur Unterhaltung. Ich les sowas auch, zur Entspannung, im Urlaub oder so. Wer will denn schon am Strand bei dreißig Grad im Schatten die 'Rättin' vom Grass oder was vom Thomas Mann lesen? Nein, nein, ich sage das nur, damit nicht der Eindruck von kleinbürgerlicher Kulturdünkelei aufkommt. Ich stell dem auch wohlwollend gegenüber, müssen Sie wissen. Alles zu seiner Zeit Den Mann? Na, den hat man doch schon in der Schule gelesen. Und den Grass? Die 'Rättin' steht bei uns im Regal, 'Butt' auch. Gelesen? So richtig noch nicht, mein Gott, wer kommt denn heute noch dazu, bei dem ausgefüllten Tag, den man als Hochschullehrer und Mutter hat, sich mit der echten Kultur zu befassen? Es gibt doch ein literarisches Spektrum heutzutage. Gottchen, was bräuchte man Zeit, das alles richtig zu erarbeiten, Eco, Süskind, Ende, ja. die 'Momo' hab ich meinen Kleinen vorgelesen, aber den richtigen literarischen Rang, das, was man hohe Literatur nennt, das ist trotzdem selten geworden heute. Wenn ich da an unsere Studienzeit denke, Walser, und die, wie heißt sie? Man hat jetzt einen Literaturpreis irgendwo, ich glaube in Kärnten, irgendwo halt in den Alpen, nach ihr benannt, na, wie heißt sie, ist auch egal... hat Hörspiele geschrieben, egal, also der Walser und die vielen anderen, das war noch eine Literatur, politisch engagiert, bissig aktuell, braucht sich doch keiner mehr wundern, wenn man heute diese
neue Innerlichkeit im Regal stehen läßt. Oder? Und Kriminalgeschichten? Selbst wenn ich mehr Zeit hätte, offen gestanden, ich wüßte nicht... Was gibt's denn Aktuelles am Verbrechen? Ist immer dagewesen, wird immer existieren. Man schreibt doch auch keine Erzählungen über den Niagarafall. Der Gärtner war immer der Mörder. Ist doch immer dasselbe, wenn man nach vertrackter Spurenverfolgung auf den Täter stößt. Gottchen, nein, auch wenn der Brecht das gemocht hat und vom 'intellektuellen Spiel' geschwärmt hat, muß doch heute nicht jeder Intellektuelle dabei mitspielen. Mir ist sowieso unklar, warum das Publikum sich immer so auf das Thema Verbrechen stürzt. Die Zeitungen sind voll davon, jedes kleine Mordchen wird heute journalistisch ausgeschlachtet. Auch da verschwimmen die Maßstäbe. Als ich an der Uni war, hat man nur über Verbrechen berichtet, die Format gehabt haben. Haß, Eifersucht, Habgier. Heimtücke und nicht bloß die alltäglichen motivlosen Totschlagsachen. Nun kommen die Damen und Herren Kriminalliteraten und wollen einen glauben machen, daß die Erzählungen über das ganz normale, alltägliche Verbrechen auch noch literarisch, sozusagen, dazugehören sollen, wenn ich das richtig verstehe, was hier gesagt wird. Die Leute sind doch in ihrer Phantasie ganz frei, können doch den Massenmord mit
Format erfinden, das bedeutet doch nur ein Fingerschnippen für einen begabten Geist. Die Autoren haben überwiegend Abitur und studiert, sogar ein Kollege von einer Berliner Fachhochschule ist darunter. Wer von uns hat denn nicht schon einmal davon geträumt, daß er jemanden tötet... naja, Gottchen noch mal, davon hat doch jeder schon einmal geträumt, wenn er ehrlich ist, gibt er's zu. Also für mich geht allenfalls deshalb ein Reiz von den Kriminalstories aus, weil man so manches nachvollziehen kann, sich in der Drecksau von Töter, sozusagen völlig unbewußt, wiederfindet und dann befriedigt ist, wenn der Kommissar einen fängt und die Welt wieder paletti ist. Aber der Intellektuelle, der Mensch von Geist, findet sich doch nur in dem Verbrechen von Format wieder. Die Zuwendung zum alltäglichen Verbrechen ist doch schon deswegen eine Unverschämtheit, meine ich. Und dann der ganze soziologische Kram und das psychologische Unkraut um den Fall. Das verunsichert. Wir sind doch nicht im Gerichtssaal, wo man mit einer sehr feinen Elle messen muß. Kommt, Kinder, seid so gut und gebt's zu, daß es
uns allen bei den Geschichten, die sich um Verbrechen drehen, nur um die Bestätigung archaischer und brachialer Vorurteile geht: gut ist so und bös ist anders. Und ich laß mir mein Feierabendvorurteil nicht auseinanderdividieren. Höchstens von einem Walser oder einem Grass, das sind Autoritäten. Für so was
ist die richtige Literatur gut. Und apropos Autoritäten! Da muß ich ihnen entschieden widersprechen, wenn man den guten raunzigen alten Kommissar abschaffen will, ja, man muß das "abschaffen' nennen: denn der Hauptkommissar ist eine Institution. Auch das Fernsehen pflegt diese Figur. Und warum? Weil, das ist doch eine Seele von einem Mann, so ein Polizeibeamter. Er hat seine Bediensteten um sich, doch keinen geregelten Tag, immer Streit mit dem Alten, das hätten wir doch auch so gerne, insbesondere, wenn der Alte am Schluß unrecht hat, die Verbrecher können ihm nie was existentiell anhaben. Ich stell mir solche Kommissare immer als Männer mit einer grauschwarz behaarten Brust vor, breite, grauschwarz behaarte Brust. Und ich liebe diese Männer, möchte mein müdes Urlaubshaupt an eine solche Brust sinken lassen. Dafür muß man auch Verständnis haben. Ich habe die Vorstellung. daß solche Kommissare eine sehr
starke Sexualität besitzen und sie in der Aggression gegen das Verbrechen ausleben. Dabei ist man mit von der Partie. Was bleibt einem, wenn der Kommissar fehlt?" Frau Professor R. macht ein besorgtes Gesicht und hält ihr Glas etwas nach vorne, damit der Gastgeber besser nachschenken kann. "Bussi, Bussi", sagt sie zum Gastgeber als charmantes Dankeschön für den perlenden Sekt. Auch dem Autor gegenüber schenkt sie eines von Ihren schönen Lächeln. durchgestylt in der Eröffnung, beispiellos im Strahlen und mit einem hinreißenden Finish, wenn sie die Lippen wieder geradezieht und in Ruhestellung bringt. Der Autor schiebt ein schmales Bändchen über den Tisch, sie dreht es herum, damit sie den Titel lesen kann: "Schlemihl und die Narren", sagt sie, und das Lächeln kehrt wieder. "Interessant, darf ich's behalten? Bussi, Bussi, ach, es wär wahnsinnig nett, wenn Sie mir was reinschreiben könnten, was Persönliches. Und ich les das Buch auch, großes Pfadfinderehrenwort, von der ersten bis zur letzten Zeile, und dann kommt es ins Regal gleich zwischen den Walser und den Mann, den Tommy Mann mein ich, nicht die anderen, großes Pfadfinderehrenwort." Und da war es wieder, das wahnsinnige Finish in ihrem Lächeln.

[Aus: Schlemihl und die Narren. Erzählungen von Verbrechen]
 
 





Stuttgarter Poetscorner'le